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Eines solchen Ausspruches, welcher aber nicht einmal ein Ausspruch war, sondern lediglich in einem Blick bestand, erinnere ich mich aus der letzten Zeit seines Hierseins. Da hatte ein berühmter Geschichtsphilosoph und Kulturkritiker, ein Mann von europäischem Namen, einen Vortrag in der Aula angekündigt, und es war mir gelungen, den Steppenwolf, der erst gar keine Lust dazu hatte, zum Besuch des Vortrags zu überreden. Wir gingen zusammen hin und saßen im Hörsaal nebeneinander. Als der Redner seine Kanzel bestieg und seine Ansprache begann, enttäuschte er manche Zuhörer, welche eine Art von Propheten in ihm vermutet hatten, durch die etwas geschniegelte und eitle Art seines Auftretens. Als er nun zu reden begann und zum Beginn den Zuhörern einige Schmeicheleien sagte und für ihr zahlreiches Erscheinen dankte, da warf mir der Steppenwolf einen ganz kurzen Blick zu, einen Blick der Kritik über diese Worte und über die ganze Person des Redners, oh, einen unvergeßlichen und furchtbaren Blick, über dessen Bedeutung man ein ganzes Buch schreiben könnte! Der Blick kritisierte nicht bloß jenen Redner und machte den berühmten Mann durch seine zwingende, obwohl sanfte Ironie zunichte, das war das wenigste daran. Der Blick war viel eher traurig als ironisch, er war sogar abgründig und hoffnungslos traurig; eine stille, gewissermaßen schon Gewohnheit und Form gewordene Verzweiflung war der Inhalt dieses Blickes. Er durchleuchtete mit seiner verzweifelten Helligkeit nicht bloß die Person des eitlen Redners, ironisierte und erledigte die Situation des Augenblicks, die Erwartung und Stimmung des Publikums, den etwas anmaßenden Titel der angekündigten Ansprache – nein, der Blick des Steppenwolfes durchdrang unsre ganze Zeit, das ganze betriebsame Getue, die ganze Streberei, die ganze Eitelkeit, das ganze oberflächliche Spiel einer eingebildeten, seichten Geistigkeit – ach, und leider ging der Blick noch tiefer, ging noch viel weiter, als bloß auf Mängel und Hoffnungslosigkeiten unserer Zeit, unsrer Geistigkeit, unsrer Kultur. Er ging bis ins Herz alles Menschentums, er sprach beredt in einer einzigen Sekunde den ganzen Zweifel eines Denkers, eines vielleicht Wissenden aus an der Würde, am Sinn des Menschenlebens überhaupt. Dieser Blick sagte: »Schau, solche Affen sind wir! Schau, so ist der Mensch!«, und alle Berühmtheit, alle Gescheitheit, alle Errungenschaften des Geistes, alle Anläufe zur Erhabenheit, Größe und Dauer im Menschlichen fielen zusammen und waren ein Affenspiel!

Ich habe damit weit vorgegriffen und, eigentlich gegen meinen Plan und Willen, im Grunde schon das Wesentliche über Haller gesagt, während es ursprünglich meine Absicht war, sein Bild nur allmählich, im Erzählen meines stufenweisen Bekanntwerdens mit ihm zu enthüllen.

Nachdem ich nun denn so vorgegriffen habe, erübrigt es sich, noch weiter über die rätselhafte »Fremdheit« Hallers zu sprechen und im einzelnen zu berichten, wie ich allmählich die Gründe und Bedeutungen dieser Fremdheit, dieser außerordentlichen und furchtbaren Vereinsamung ahnte und erkannte. Es ist besser so, denn ich möchte meine eigene Person möglichst im Hintergrunde lassen. Ich will nicht meine Bekenntnisse vortragen oder Novellen erzählen oder Psychologie treiben, sondern lediglich als Augenzeuge etwas zum Bild des eigentümlichen Mannes beitragen, der diese Steppenwolfmanuskripte hinterlassen hat.

Schon beim allerersten Anblick, als er durch die Glastür der Tante hereintrat, den Kopf so vogelartig reckte und den guten Geruch des Hauses rühmte, war mir irgendwie das Besondere an diesem Manne aufgefallen, und meine erste naive Reaktion darauf war Widerwille gewesen. Ich spürte (und meine Tante, die im Gegensatz zu mir ganz und gar kein intellektueller Mensch ist, spürte ziemlich genau dasselbe) – ich spürte, daß der Mann krank sei, auf irgendeine Art geistes- oder gemüts- oder charakterkrank, und wehrte mich dagegen mit dem Instinkt des Gesunden. Diese Abwehr wurde im Lauf der Zeit abgelöst durch Sympathie, beruhend auf einem großen Mitleid mit diesem tief und dauernd Leidenden, dessen Vereinsamung und inneres Sterben ich mit ansah. In dieser Periode kam mir mehr und mehr zum Bewußtsein, daß die Krankheit dieses Leidenden nicht auf irgendwelchen Mängeln seiner Natur beruhe, sondern im Gegenteil nur auf dem nicht zur Harmonie gelangten großen Reichtum seiner Gaben und Kräfte. Ich erkannte, daß Haller ein Genie des Leidens sei, daß er, im Sinne mancher Aussprüche Nietzsches, in sich eine geniale, eine unbegrenzte, furchtbare Leidensfähigkeit herangebildet habe. Zugleich erkannte ich, daß nicht Weltverachtung, sondern Selbstverachtung die Basis seines Pessimismus sei, denn so schonungslos und vernichtend er von Institutionen oder Personen reden konnte, nie schloß er sich aus, immer war er selbst der erste, gegen den er seine Pfeile richtete, war er selbst der erste, den er haßte und verneinte …

Hier muß ich eine psychologische Anmerkung einfügen. Obgleich ich über das Leben des Steppenwolfes sehr wenig weiß, habe ich doch allen Grund, zu vermuten, daß er von liebevollen, aber strengen und sehr frommen Eltern und Lehrern in jenem Sinne erzogen wurde, der das »Brechen des Willens« zur Grundlage der Erziehung macht. Dieses Vernichten der Persönlichkeit und Brechen des Willens nun war bei diesem Schüler nicht gelungen, dazu war er viel zu stark und hart, viel zu stolz und geistig. Statt seine Persönlichkeit zu vernichten, war es nur gelungen, ihn sich selbst hassen zu lehren. Gegen sich selber, gegen dies unschuldige und edle Objekt richtete er nun zeitlebens die ganze Genialität seiner Phantasie, die ganze Stärke seines Denkvermögens. Denn darin war er, trotz allem, durch und durch Christ und durch und durch Märtyrer, daß er jede Schärfe, jede Kritik, jede Bosheit, jeden Haß, dessen er fähig war, vor allem und zuerst auf sich selbst losließ. Was die anderen, was die Umwelt betraf, so machte er beständig die heldenhaftesten und ernstesten Versuche, sie zu lieben, ihnen gerecht zu werden, ihnen nicht weh zu tun, denn das »Liebe deinen Nächsten« war ihm ebenso tief eingebleut wie das Hassen seiner selbst, und so war sein ganzes Leben ein Beispiel dafür, daß ohne Liebe zu sich selbst auch die Nächstenliebe unmöglich ist, daß der Selbsthaß genau dasselbe ist und am Ende genau dieselbe grausige Isoliertheit und Verzweiflung erzeugt wie der grelle Egoismus.

Aber es wird nun Zeit, daß ich meine Gedanken hintanstelle und von Wirklichkeiten spreche. Das erste also, was ich über Herrn Haller in Erfahrung brachte, teils durch meine Spionage, teils durch Bemerkungen meiner Tante, bezog sich auf die Art seiner Lebensführung. Daß er ein Gedanken- und Büchermensch war und keinen praktischen Beruf ausübte, war bald zu sehen. Er lag immer sehr lange im Bett, oft stand er erst kurz vor Mittag auf und ging im Schlafrock die paar Schritte von der Schlafkammer zu seinem Wohnzimmer hinüber. Dies Wohnzimmer, eine große und freundliche Mansarde mit zwei Fenstern, sah schon nach wenigen Tagen anders aus als zur Zeit, da es von andern Mietern bewohnt gewesen war. Es füllte sich, und mit der Zeit wurde es immer voller. An den Wänden wurden Bilder aufgehängt, Zeichnungen angeheftet, zuweilen aus Zeitschriften ausgeschnittene Bilder, die häufig wechselten. Eine südliche Landschaft, Photographien aus einem deutschen Landstädtchen, offenbar die Heimat Hallers, hingen da, farbige, leuchtende Aquarelle dazwischen, von denen wir erst spät erfuhren, daß er selbst sie gemalt hatte. Dann die Photographie einer hübschen jungen Frau oder eines jungen Mädchens. Eine Zeitlang hing ein siamesischer Buddha an der Wand, er wurde abgelöst durch eine Reproduktion der »Nacht« von Michelangelo, dann von einem Bildnis des Mahatma Gandhi. Bücher füllten nicht nur den großen Bücherschrank, sondern lagen auch überall auf den Tischen, auf dem hübschen alten Sekretär, auf dem Diwan, auf den Stühlen, auf dem Boden herum, Bücher mit eingelegten Papierzeichen, die beständig wechselten. Die Bücher nahmen beständig zu, denn er brachte nicht nur ganze Packen von den Bibliotheken mit, sondern bekam auch sehr häufig Pakete mit der Post. Der Mann, der diese Stube bewohnte, konnte ein Gelehrter sein. Dazu paßte auch der Zigarrenrauch, der alles einhüllte, und die überall herumliegenden Zigarrenreste und Aschenschalen. Ein großer Teil der Bücher jedoch war nicht gelehrten Inhalts, die große Mehrzahl waren Werke der Dichter aus allen Zeiten und Völkern. Eine Zeitlang lagen auf dem Diwan, wo er oft ganze Tage liegend zubrachte, alle sechs dicken Bände eines Werkes herum mit dem Titel »Sophiens Reise von Memel nach Sachsen«, vom Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Eine Gesamtausgabe von Goethe und eine von Jean Paul schien viel benützt zu werden, ebenso Novalis, aber auch Lessing, Jacobi und Lichtenberg. Einige Dostojewskibände staken voll von beschriebenen Zetteln. Auf dem großen Tisch zwischen den vielen Büchern und Schriften stand häufig ein Blumenstrauß, dort trieb sich auch ein Aquarellierkasten herum, der aber stets voller Staub war, daneben die Aschenschalen und, um auch dies nicht zu verschweigen, allerlei Flaschen mit Getränken. Eine strohumflochtene Flasche war meist mit italienischem Rotwein gefüllt, den er in der Nähe in einem kleinen Laden holte, manchmal war auch eine Flasche Burgunder zu sehen sowie Malaga, und eine dicke Flasche mit Kirschgeist sah ich innerhalb recht kurzer Zeit nahezu leer werden, dann aber in eine Stubenecke verschwinden, und, ohne daß der Rest sich weiter verminderte, verstauben. Ich will mich über die von mir getriebene Spionage nicht rechtfertigen und gestehe auch offen, daß in der ersten Zeit alle diese Anzeichen eines zwar von geistigen Interessen erfüllten, aber doch recht verbummelten und zuchtlosen Lebens bei mir Abscheu und Mißtrauen hervorriefen. Ich bin nicht nur ein bürgerlicher, regelmäßig lebender Mensch, an Arbeit und genaue Zeiteinteilung gewohnt, ich bin auch Abstinent und Nichtraucher, und jene Flaschen in Hallers Zimmer gefielen mir noch weniger als die übrige malerische Unordnung.

Wie mit Schlaf und Arbeit, so lebte der Fremde auch in bezug auf Essen und Trinken sehr ungleichmäßig und launisch. An manchen Tagen ging er überhaupt nicht aus und nahm außer dem Morgenkaffee gar nichts zu sich, zuweilen fand die Tante als einzigen Rest seiner Mahlzeit eine Bananenschale liegen, aber an andern Tagen speiste er in Restaurants, bald in guten und eleganten, bald in kleinen Vorstadtkneipen. Seine Gesundheit schien nicht gut zu sein; außer der Hemmung in den Beinen, mit denen er oft recht mühsam seine Treppen stieg, schien er auch von andren Störungen geplagt zu sein, und einmal sagte er nebenbei, er habe seit Jahren nicht mehr richtig verdaut noch richtig geschlafen. Ich schrieb es vor allem seinem Trinken zu. Später, als ich ihn zuweilen in eines seiner Wirtshäuser begleitete, war ich manchmal Zeuge, wie er rasch und launisch die Weine hinuntergoß, richtig betrunken aber habe weder ich noch sonst jemand ihn gesehen.

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