»Dieses entbehrlich gewordene Spiegelbild werden Sie jetzt auslöschen, lieber Freund, mehr ist nicht vonnöten. Es genügt, daß Sie, wenn Ihre Laune es zuläßt, dieses Bild mit einem aufrichtigen Lachen betrachten. Sie sind hier in einer Schule des Humors, Sie sollen lachen lernen. Nun, aller höhere Humor fängt damit an, daß man die eigne Person nicht mehr ernst nimmt.«
Fest blickte ich in das Spiegelein, Spiegelein in der Hand, in dem der Harrywolf seine Zuckungen vollführte. Einen Augenblick zuckte es in mir, tief innen, leise, aber schmerzlich, wie Erinnerung, wie Heimweh, wie Reue. Dann wich die leichte Beklemmung einem neuen Gefühl, jenem ähnlich, das man empfindet, wenn aus dem mit Kokain betäubten Kiefer ein kranker Zahn gezogen worden ist, ein Gefühl von Erleichterung und tiefem Aufatmen und zugleich von Verwunderung, daß es so gar nicht weh getan hat. Und zu diesem Gefühl gesellte sich eine frische Aufgeräumtheit und Lachlust, der ich nicht widerstehen konnte, so daß ich in ein erlösendes Gelächter ausbrach. Das trübe Spiegelbildchen zuckte auf und erlosch, die kleine runde Spiegelfläche war plötzlich wie verbrannt, war grau und rauh und undurchsichtig geworden. Lachend warf Pablo die Scherbe weg, rollend verlor sie sich am Boden des unendlichen Korridors.
»Gut gelacht, Harry«, rief Pablo, »du wirst noch lachen lernen wie die Unsterblichen. Nun hast du endlich den Steppenwolf umgebracht. Mit Rasiermessern geht das nicht. Paß auf, daß er tot bleibt! Gleich wirst du die dumme Wirklichkeit verlassen können. Wir werden beim nächsten Anlaß Brüderschaft trinken, Lieber, nie hast du mir so gut gefallen wie heut. Und wenn du dann noch Wert darauf legst, dann können wir auch miteinander philosophieren und disputieren und über Musik und über Mozart und Gluck und Plato und Goethe sprechen, soviel zu willst. Du wirst jetzt begreifen, warum es früher nicht ging. – Hoffentlich glückt es dir, und du wirst den Steppenwolf für heute los. Denn natürlich ist dein Selbstmord kein endgültiger; wir sind hier in einem magischen Theater, es gibt hier nur Bilder, keine Wirklichkeit. Suche dir schöne und heitere Bilder aus und zeige, daß du wirklich nicht mehr in deine fragwürdige Persönlichkeit verliebt bist! Solltest du sie aber dennoch zurückbegehren, so brauchst du nur wieder in den Spiegel zu schauen, den ich dir jetzt zeigen werde. Du kennst ja aber das alte weise Wort: Ein Spiegelein in der Hand ist besser als zwei an der Wand. Haha!« (Wieder lachte er so schön und schrecklich.) – »So, und jetzt ist bloß noch eine ganz kleine, lustige Zeremonie zu vollziehen. Du hast jetzt deine Persönlichkeitsbrille weggeworfen, nun komm einmal und schaue in einen richtigen Spiegel! Es wird dir Spaß machen.«
Unter Lachen und kleinen drolligen Liebkosungen drehte er mich um, daß ich dem riesengroßen Wandspiegel gegenüberstand. In dem sah ich mich.
Ich sah, einen winzigen Moment lang, den mir bekannten Harry, nur mit einem ungewöhnlich gutgelaunten, hellen, lachenden Gesicht. Aber kaum, daß ich ihn erkannt hatte, fiel er auseinander, löste sich eine zweite Figur von ihm ab, eine dritte, eine zehnte, eine zwanzigste, und der ganze Riesenspiegel war voll von lauter Harrys oder Harry-Stücken, zahllosen Harrys, deren jeden ich nur einen blitzhaften Moment erblickte und erkannte. Einige von diesen vielen Harrys waren so alt wie ich, einige älter, einige uralt, andere ganz jung, Jünglinge, Knaben, Schulknaben, Lausbuben, Kinder. Fünfzigjährige und zwanzigjährige Harrys liefen und sprangen durcheinander, dreißigjährige und fünfjährige, ernste und lustige, würdige und komische, gutgekleidete und zerlumpte und auch ganz nackte, haarlose und langlockige, und alle waren ich, und jeder wurde blitzschnell von mir gesehen und erkannt und war verschwunden, nach allen Seiten liefen sie auseinander, nach links, nach rechts, in die Spiegeltiefe hinein, aus dem Spiegel heraus. Einer, ein junger eleganter Kerl, sprang dem Pablo lachend an die Brust, umarmte ihn und lief mit ihm davon. Und einer, der mir ganz besonders gefiel, ein hübscher, reizender Junge von sechzehn oder siebzehn Jahren, lief wie der Blitz in den Korridor hinein, las gierig die Inschriften an all den Türen, ich lief hinterher, vor einer Türe blieb er stehen, ich las an ihr die Aufschrift:
Alle Mädchen sind dein!
Einwurf eine Mark
Der liebe Junge schnellte sich mit einem Sprung empor, Kopf voran, stürzte sich selbst in den Einwurf und war hinter der Tür verschwunden.
Auch Pablo war verschwunden, auch der Spiegel schien verschwunden und mit ihm alle die zahllosen Harryfiguren. Ich spürte, daß ich jetzt mir selber und dem Theater überlassen sei und trat neugierig von Tür zu Tür, an jeder las ich eine Inschrift, eine Lockung, ein Versprechen.
Die Inschrift:
Auf zum fröhlichen Jagen!
Hochjagd auf Automobile
lockte mich an, ich öffnete die schmale Türe und trat ein. Da riß es mich in eine laute und aufgeregte Welt. Auf den Straßen jagten Automobile, zum Teil gepanzerte, und machten Jagd auf die Fußgänger, überfuhren sie zu Brei, drückten sie an den Mauern der Häuser zuschanden. Ich begriff sofort: es war der Kampf zwischen Menschen und Maschinen, lang vorbereitet, lang erwartet, lang gefürchtet, nun endlich zum Ausbruch gekommen. Überall lagen Tote und Zerfetzte herum, überall auch zerschmissene, verbogene, halbverbrannte Automobile, über dem wüsten Durcheinander kreisten Flugzeuge, und auch auf sie wurden von vielen Dächern und Fenstern aus mit Büchsen und mit Maschinengewehren geschossen. Wilde, prachtvoll aufreizende Plakate an allen Wänden forderten in Riesenbuchstaben, die wie Fackeln brannten, die Nation auf, endlich sich einzusetzen für die Menschen gegen die Maschinen, endlich die fetten, schöngekleideten, duftenden Reichen, die mit Hilfe der Maschinen das Fett aus den andern preßten, samt ihren großen, hustenden, böse knurrenden, teuflisch schnurrenden Automobilen totzuschlagen, endlich die Fabriken anzuzünden und die geschändete Erde ein wenig auszuräumen und zu entvölkern, damit wieder Gras wachsen, wieder aus der verstaubten Zementwelt etwas wie Wald, Wiese, Heide, Bach und Moor werden könne. Andre Plakate hingegen, wunderbar gemalt, prachtvoll stilisiert, in zarteren, weniger kindlichen Farben, außerordentlich klug und geistvoll abgefaßt, warnten im Gegenteil alle Besitzenden und alle Besonnenen beweglich vor dem drohenden Chaos der Anarchie, schilderten wahrhaft ergreifend den Segen der Ordnung, der Arbeit, des Besitzes, der Kultur, des Rechtes und priesen die Maschinen als höchste und letzte Erfindung der Menschen, mit deren Hilfe sie zu Göttern werden würden. Nachdenklich und bewundernd las ich die Plakate, die roten und die grünen, fabelhaft wirkte auf mich ihre flammende Beredsamkeit, ihre zwingende Logik, recht hatten sie, und tief überzeugt stand ich bald vor dem einen, bald vor dem andern, immerhin merklich gestört durch die ziemlich saftige Schießerei ringsum. Nun, die Hauptsache war klar: es war Krieg, ein heftiger, rassiger und höchst sympathischer Krieg, worin es sich nicht um Kaiser, Republik, Landesgrenzen, um Fahnen und Farben und dergleichen mehr dekorative und theatralische Sachen handelte, um Lumpereien im Grunde, sondern wo ein jeder, dem die Luft zu eng wurde und dem das Leben nicht recht mehr mundete, seinem Verdruß schlagenden Ausdruck verlieh und die allgemeine Zerstörung der blecher-nen zivilisierten Welt anzubahnen strebte. Ich sah, wie allen die Zerstörungs- und Mordlust so hell und aufrichtig aus den Augen lachte, und in mir selbst blühten diese roten wilden Blumen hoch und feist und lachten nicht minder. Freudig schloß ich mich dem Kampfe an.
Das Schönste von allem aber war, daß neben mir plötzlich mein Schulkamerad Gustav auftauchte, der seit Jahrzehnten mir Verschollene, einst der wildeste, kräftigste und lebensdurstigste von den Freunden meiner frühen Kindheit. Mir lachte das Herz, als ich seine hellblauen Augen mir wieder zuzwinkern sah. Er winkte mir, und ich folgte ihm sofort mit Freuden.
»Herrgott, Gustav«, rief ich glücklich, »daß man dich einmal wiedersieht! Was ist denn aus dir geworden?«
Ärgerlich lachte er auf, ganz wie in der Knabenzeit.
»Rindvieh, muß denn gleich wieder gefragt und geschwatzt werden? Professor der Theologie bin ich geworden, so, nun weißt du es, aber jetzt findet zum Glück keine Theologie mehr statt, Junge, sondern Krieg. Na komm!«
Von einem kleinen Kraftwagen, der uns eben schnaubend entgegenkam, schoß er den Führer herunter, sprang flink wie ein Affe auf den Wagen, brachte ihn zum Stehen und ließ mich aufsteigen, dann fuhren wir schnell wie der Teufel zwischen Flintenkugeln und gestürzten Wagen hindurch, davon, zur Stadt und Vorstadt hinaus.
»Stehst du auf seiten der Fabrikanten?« fragte ich meinen Freund.
»Ach was, das ist Geschmacksache, wir werden uns das dann draußen überlegen. Aber nein, warte mal, ich bin mehr dafür, daß wir die andere Partei wählen, wenn es auch im Grunde natürlich ganz egal ist. In bin Theolog, und mein Vorfahr Luther hat seinerzeit den Fürsten und Reichen gegen die Bauern geholfen, das wollen wir jetzt ein bißchen korrigieren. Schlechter Wagen, hoffentlich hält er's noch ein paar Kilometer aus!«
Schnell wie der Wind, das himmlische Kind, knatterten wir davon, in eine grüne ruhige Landschaft hinein, viele Meilen weit, durch eine große Ebene und dann langsam steigend in ein gewaltiges Gebirg hinein. Hier machten wir halt auf einer glatten, gleißenden Straße, die führte zwischen steiler Felswand und niedriger Schutzmauer in kühnen Kurven hoch, hoch über einem blauen leuchtenden See dahin.
»Schöne Gegend«, sagte ich.
»Sehr hübsch. Wir können sie Achsenstraße heißen, es sollen hier diverse Achsen zum Krachen kommen, Harrychen, paß mal auf!«
Eine große Pinie stand am Weg, und oben in der Pinie sahen wir aus Brettern etwas wie eine Hütte gebaut, einen Auslug und Hochstand. Hell lachte Gustav mich an, aus den blauen Augen listig zwinkernd, und eilig stiegen wir beide aus unsrem Wagen und kletterten am Stamm empor, verbargen uns tief atmend im Auslug, der uns sehr gefiel. Wir fanden dort Flinten, Pistolen, Kisten mit Patronen. Und kaum hatten wir uns ein wenig gekühlt und im Jagdstand eingerichtet, da klang schon von der nächsten Kurve her heiser und herrschgierig die Hupe eines großen Luxuswagens, der fuhr schnurrend mit hoher Geschwindigkeit auf der blanken Bergstraße daher. Wir hatten schon die Flinten in der Hand. Es war wunderbar spannend.
»Auf den Chauffeur zielen!« befahl Gustav schnell, eben rannte der schwere Wagen unter uns vorbei. Und schon zielte ich und drückte los, dem Lenker in die blaue Mütze. Der Mahn sank zusammen, der Wagen sauste weiter, stieß gegen die Wand, prallte zurück, stieß schwer und wütend wie eine große dicke Hummel gegen die niedere Mauer, überschlug sich und krachte mit einem kurzen leisen Knall über die Mauer in die Tiefe hinunter.