»Zu spät, Kleiner! Wenn wir uns einmal wiedersehen, kannst du wieder fragen. Heut sag ich's nicht mehr. So, und jetzt will ich tanzen.«
Da sie Miene machte, aufzustehen, sank plötzlich meine Stimmung tief, ich bekam Angst, sie würde gehen und mich allein lassen, und dann würde alles wieder, wie es vorher gewesen war. Wie ein vorübergehend verschwundener Zahnschmerz plötzlich wieder da ist und wie Feuer brennt, so war in einem Augenblick die Angst und das Grauen wieder da. O Gott, hatte ich denn vergessen können, was auf mich wartete? War denn etwas anders geworden?
»Halt«, rief ich flehend, »gehen Sie – geh nicht fort! Natürlich kannst du tanzen, soviel zu willst, aber bleib nicht lange fort, komm wieder, komm wieder!«
Lachend stand sie auf. Ich hatte sie mir stehend größer gedacht, sie war schlank, aber nicht groß. Wieder erinnerte sie mich an jemand – an wen? Es war nicht zu finden.
»Du kommst wieder?«
»Ich komme wieder, aber es kann eine Weile dauern, eine halbe Stunde oder auch eine ganze. Ich will dir was sagen: mach die Augen zu und schlaf ein wenig; das ist, was du nötig hast.«
Ich machte ihr Platz, und sie ging; ihr Röckchen streifte meine Knie, im Gehen blickte sie in einen runden, winzig kleinen Taschenspiegel, zog die Augenbrauen hoch, wischte mit einem winzigen Puderquästchen über ihr Kinn und verschwand im Tanzsaal. Ich blickte um mich: fremde Gesichter, rauchende Männer, verschüttetes Bier auf dem Marmortisch, Geschrei und Gekreische überall, nebenan die Tanzmusik. Ich solle schlafen, hatte sie gesagt. Ach, gutes Kind, du hast eine Ahnung von meinem Schlaf, der scheuer ist als ein Wiesel! In diesem Jahrmarkt schlafen, am Tisch sitzend, zwischen den klappernden Bierkrügen! Ich nippte am Wein, zog eine Zigarre aus der Tasche, sah mich nach Streichhölzern um, aber eigentlich war mir nichts am Rauchen gelegen, ich legte die Zigarre vor mir auf den Tisch. »Mach die Augen zu«, hatte sie zu mir gesagt. Weiß Gott, woher das Mädchen diese Stimme hatte, diese etwas tiefe, gute Stimme, eine mütterliche Stimme. Es war gut, dieser Stimme zu gehorchen, ich hatte es erfahren. Gehorsam machte ich die Augen zu, lehnte den Kopf an die Wand, hörte hundert heftige Geräusche mich umtosen, lächelte über die Idee, an diesem Ort zu schlafen, beschloß, an die Saaltür zu gehen und einen Blick in den Tanzsaal zu erhäschen – ich mußte doch mein schönes Mädchen tanzen sehen –, bewegte unterm Stuhl die Füße, fühlte erst jetzt, wie unendlich müde ich vom stundenlangen Umherirren war, und blieb sitzen. Und da schlief ich schon, dem mütterlichen Befehl getreu, schlief gierig und dankbar und träumte, träumte klarer und hübscher, als ich seit langem geträumt hatte. Mir träumte:
Ich saß und wartete in einem altmodischen Vorzimmer. Zuerst wußte ich nur, daß ich bei einer Exzellenz angemeldet sei, dann fiel mir ein, daß es ja Herr von Goethe sei, von dem ich empfangen werden sollte. Leider war ich nicht ganz als Privatmann hier, sondern als Korrespondent einer Zeitschrift, das störte mich sehr, und ich konnte nicht begreifen, welcher Teufel mich in diese Situation hineingeritten habe. Außerdem beunruhigte mich ein Skorpion, der soeben noch sichtbar gewesen war und an meinem Bein hochzuklettern versucht hatte. Ich hatte mich zwar gegen das kleine schwarze Kriechtier gewehrt und geschüttelt, wußte aber nicht, wo es jetzt stecke, und wagte nirgends hinzugreifen.
Auch war ich nicht ganz sicher, ob man mich nicht aus Versehen, statt bei Goethe, bei Matthisson angemeldet habe, den ich aber im Traum mit Bürger verwechselte, denn ich schrieb ihm die Gedichte an Molly zu. Übrigens wäre mir ein Zusammentreffen mit Molly höchst erwünscht gewesen, ich dachte sie mir wundervoll, weich, musikalisch, abendlich. Wäre ich nur nicht im Auftrag jener verwünschten Redaktion dagesessen! Mein Unmut hierüber stieg mehr und mehr und übertrug sich allmählich auch auf Goethe, gegen den ich nun mit einemmal alle möglichen Bedenken und Vorwürfe hatte. Das konnte eine schöne Audienz geben! Der Skorpion aber, wenn auch gefährlich und vielleicht in meiner nächsten Nähe versteckt, war doch vielleicht nicht so schlimm; er konnte, so schien mir, vielleicht auch Freundliches bedeuten, es schien mir sehr möglich, daß er irgend etwas mit Molly zu tun habe, eine Art Bote von ihr sei oder ihr Wappentier, ein schönes, gefährliches Wappentier der Weiblichkeit und der Sünde. Konnte das Tier nicht vielleicht Vulpius heißen? Aber da riß ein Diener die Tür auf, ich erhob mich und ging hinein.
Da stand der alte Goethe, klein und sehr steif, und richtig hatte er einen dicken Ordensstern auf seiner Klassikerbrust. Immer noch schien er zu regieren, immer noch Audienzen zu empfangen, immer noch die Welt von seinem Weimarer Museum aus zu kontrollieren. Denn kaum hatte er mich erblickt, so nickte er ruckend mit dem Kopf wie ein alter Rabe und sprach feierlich: »Nun, ihr jungen Leute, ihr seid ja wohl mit uns und unseren Bemühungen recht wenig einverstanden?«
»Ganz richtig«, sagte ich, von seinem Ministerblick durchkältet. »Wir jungen Leute sind in der Tat nicht mit Ihnen einverstanden, alter Herr. Sie sind uns zu feierlich, Exzellenz, und zu eitel und wichtigtuerisch und zu wenig aufrichtig. Dies dürfte das Wesentliche sein: zu wenig aufrichtig.«
Der kleine alte Mann bewegte den strengen Kopf etwas nach vorn, und indem sein harter, amtlich gefalteter Mund sich in einem kleinen Lächeln entspannte und entzückend lebendig wurde, schlug mir plötzlich das Herz, denn es fiel mir auf einmal das Gedicht ein »Dämmrung senkte sich von oben« und daß dieser Mann und dieser Mund es sei, aus dem die Worte jenes Gedichtes gekommen waren. Eigentlich war ich in diesem Augenblick schon vollkommen entwaffnet und übermannt und wäre am liebsten vor ihn hingekniet. Aber ich hielt mich stramm und hörte aus seinem lächelnden Munde die Worte: »Ei, also der Unaufrichtigkeit zeihen Sie mich? Was das für Worte sind! Wollen Sie sich nicht näher erklären?« Gerne wollte ich das, sehr gerne.
»Sie haben, Herr von Goethe, gleich allen großen Geistern die Fragwürdigkeit, die Hoffnungslosigkeit des Menschenlebens deutlich erkannt und gefühlt: die Herrlichkeit des Augenblicks und sein elendes Verwelken, die Unmöglichkeit, eine schöne Höhe des Gefühls anders zu bezahlen als durch die Kerkerhaft des Alltags, die mit der ebenso brennenden und ebenso heiligen Liebe zur verlorenen Unschuld der Natur in ewigem tödlichen Kampfe liegt, dies ganze furchtbare Schweben im Leeren und Ungewissen, dies Verurteiltsein zum Vergänglichen, niemals Vollgültigen, ewig Versuchhaften und Dilettantischen – kurz, die ganze Aussichtslosigkeit, Verstiegenheit und brennende Verzweiflung des Menschseins. Dies alles haben Sie gekannt, sich je und je auch dazu bekannt, und dennoch haben Sie mit Ihrem ganzen Leben das Gegenteil gepredigt, haben Glauben und Optimismus geäußert, haben sich und andern eine Dauer und einen Sinn unsrer geistigen Anstrengungen vorgespiegelt. Sie haben die Bekenner der Tiefe, die Stimmen der verzweifelten Wahrheit abgelehnt und unterdrückt, in sich selbst ebenso wie in Kleist und Beethoven. Sie haben jahrzehntelang so getan, als sei das Anhäufen von Wissen, von Sammlungen, das Schreiben und Sammeln von Briefen, als sei Ihre ganze Weimarer Altersexistenz in der Tat ein Weg, um den Augenblick zu verewigen, den Sie doch nur mumifizieren konnten, um die Natur zu vergeistigen, die Sie doch nur zur Maske stilisieren konnten. Das ist die Unaufrichtigkeit, die wir Ihnen vorwerfen.«
Nachdenklich blickte der alte Geheimrat mir in die Augen, sein Mund lächelte noch immer.
Dann fragte er zu meiner Verwunderung: »Die Zauberflöte von Mozart muß Ihnen dann wohl recht sehr zuwider sein?«
Und noch ehe ich protestieren konnte, fuhr er fort: »Die Zauberflöte stellt das Leben als einen köstlichen Gesang dar, sie preist unsere Gefühle, die doch vergänglich sind, wie etwas Ewiges und Göttliches, sie stimmt weder dem Herrn von Kleist noch dem Herrn Beethoven zu, sondern predigt Optimismus und Glauben.«
»Ich weiß, ich weiß!« rief ich wütend. »Weiß Gott, wie Sie gerade auf die Zauberflöte verfallen sind, die mir das Liebste auf der Welt ist! Aber Mozart ist nicht zweiundachtzig Jahre alt geworden und hat nicht in seinem persönlichen Leben diese Ansprüche an Dauer, an Ordnung, an steife Würde gestellt wie Sie! Er hat sich nicht so wichtig gemacht! Er hat seine göttlichen Melodien gesungen und ist arm gewesen und ist früh gestorben, arm, verkannt –«
Der Atem ging mir aus. Tausend Dinge hätten jetzt in zehn Worten gesagt werden müssen, ich begann an der Stirn zu schwitzen.
Goethe aber fragte sehr freundlich: »Daß ich zweiundachtzig Jahre alt geworden bin, mag immerhin unverzeihlich sein. Mein Vergnügen daran war indessen geringer, als Sie denken mögen. Sie haben recht: ein großes Verlangen nach Dauer hat mich stets erfüllt, ich habe stets den Tod gefürchtet und bekämpft. Ich glaube, der Kampf gegen den Tod, das unbedingte und eigensinnige Lebenwollen ist der Antrieb, aus welchem alle hervorragenden Menschen gehandelt und gelebt haben. Daß man am Ende dennoch sterben muß, dies hingegen, mein junger Freund, habe ich mit zweiundachtzig Jahren ebenso bündig bewiesen, wie wenn ich als Schulknabe gestorben wäre. Wenn es zu meiner Rechtfertigung dienen kann, möchte ich dies noch sagen: in meiner Natur ist viel Kindliches gewesen, viel Neugierde und Spieltrieb, viel Lust zum Zeitvergeuden. Nun, und da habe ich eben etwas lange gebraucht, bis ich einsah, es müsse des Spielens einmal genug sein.«
Während er dies sagte, lächelte er ganz durchtrieben, geradezu schlingelhaft. Seine Gestalt war größer geworden, die steife Haltung und die krampfhafte Würde im Gesicht waren verschwunden. Und die Luft um uns her war jetzt voll von lauter Melodien, lauter Goetheliedern, ich hörte Mozarts »Veilchen« und Schuberts »Füllest wieder Busch und Tal« deutlich heraus. Und Goethes Gesicht war jetzt rosig und jung und lachte und glich bald dem Mozart, bald dem Schubert wie ein Bruder, und der Stern auf seiner Brust bestand aus lauter Wiesenblumen, eine gelbe Primel blühte froh und feist aus seiner Mitte hervor.
Es paßte mir nicht ganz, daß der alte Mann sich meinen Fragen und Anklagen auf eine so scherzhafte Art entziehen wollte, und ich blickte ihn vorwurfsvoll an. Da neigte er sich vor und brachte seinen Mund, den schon ganz kindlich gewordenen Mund, dicht an mein Ohr und flüsterte leise in mein Ohr hinein: »Mein Junge, du nimmst den alten Goethe viel zu ernst. Alte Leute, die schon gestorben sind, muß man nicht ernst nehmen, man tut ihnen sonst unrecht. Wir Unsterblichen lieben das Ernstnehmen nicht, wir lieben den Spaß. Der Ernst, mein Junge, ist eine Angelegenheit der Zeit; er entsteht, soviel will ich dir verraten, aus einer Überschätzung der Zeit. Auch ich habe den Wert der Zeit einst überschätzt, darum wollte ich hundert Jahre alt werden. In der Ewigkeit aber, siehst du, gibt es keine Zeit; die Ewigkeit ist ein Augenblick, gerade lang genug für einen Spaß.«