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Doch in dem Augenblick, als sie aufgeben wollte, erfüllte sie ein merkwürdiges Gefühl: Sie war an ihre Grenzen gelangt, und dahinter lag ein leerer Raum, in dem sie über sich zu schweben schien und nichts mehr spürte. War dies das Gefühl, das die Büßer empfanden? Am anderen Ende des Schmerzes entdeckte sie eine Tür zu einer neuen Bewußtseinsebene, in der es nur noch unerbittlich waltende Natur gab – und sie selbst, die unbesiegbar voranschritt. Alles um sie herum verschwamm zu einem Traum: der schlechtbeleuchtete Park, der dunkle See, der schweigende Mann, das eine oder andere Pärchen, das achtlos an ihnen vorbeiging und nicht merkte, daß Maria auf bloßen Füßen mühsam dahinhumpelte. War es die Kälte oder der Schmerz? Plötzlich spürte sie ihren Körper nicht mehr, gelangte in einen Zustand, in dem es weder Wünsche noch Angst gab, nur einen – wie sollte sie es nennen? – geheimnisvollen ›Frieden‹. Die Schmerz-Grenze war nicht ihre Grenze; sie konnte sie überschreiten.

Sie dachte an alle Menschen, die unfreiwillig litten, und da war sie, die sich willentlich Schmerz zufügte – aber das war ihr nicht mehr wichtig, sie hatte die Barriere des Körpers durchbrochen, und jetzt blieb ihr nur noch die Seele, das ›Licht‹, eine Art Leere – die jemand einst das Paradies genannt hatte. Es gibt gewisse Arten von Schmerz, die man nur vergessen kann, wenn man über sich schwebt.

Als nächstes konnte sie sich nur daran erinnern, daß Ralf sie in den Arm nahm, sein Jackett auszog und es ihr über die Schultern legte. Sie mußte in Ohnmacht gefallen sein; doch das spielte jetzt keine Rolle mehr. Sie war zufrieden, hatte keine Angst mehr – hatte gesiegt. Sie hatte sich vor diesem Mann nicht erniedrigt.

Die Minuten wurden zu Stunden, sie mußte in seinen Armen eingeschlafen sein, denn als sie erwachte, war es noch dunkel, und sie befand sich in einem Zimmer mit einem Fernsehapparat in einer Ecke und sonst gar nichts. Weiß, leer.

Ralf kam mit einer heißen Schokolade.

»Alles in Ordnung«, sagte er. »Du bist da angekommen, wo du hinkommen wolltest.«

»Ich möchte keine Schokolade, ich möchte Wein. Und ich möchte zu unserem Platz vor dem Kamin, zu den überall verstreuten Büchern.«

Unwillkürlich hatte sie ›unser Platz‹ gesagt. Sie sah auf ihre Füße: Außer einer kleinen Schramme hatte sie nur rote Druckstellen, die in wenigen Stunden nicht mehr zu sehen wären. Mühsam stieg sie die Treppe hinunter; sie ging in ihre Ecke, zum Teppich vor dem Kamin – und stellte fest, wie wohl sie sich dort fühlte, als wäre es ihr angestammter Platz hier im Haus.

»Dieser Holzfäller hat mir gesagt, daß, wenn man seinem Körper das Äußerste abverlangt, der Geist dann eine merkwürdige spirituelle Kraft entwickelt, die mit dem ›Licht‹ zu tun hat, das ich in dir gesehen habe. Was hast du gefühlt?«

»Daß der Schmerz der Freund der Frauen ist.«

»Darin liegt die Gefahr.«

»Daß der Schmerz eine Grenze hat.«

»Darin liegt die Rettung. Vergiß das nicht.«

Maria war verwirrt; sie hatte jenen ›Frieden‹ erlebt, als sie über ihre Grenzen hinausgegangen war. Er hatte ihr eine andere Art Schmerz gezeigt, der ihr eine eigenartige Lust bereitet hatte.

Ralf holte eine große Mappe hervor und öffnete sie. Sie enthielt Zeichnungen.

»Die Geschichte der Prostitution. Du hast mich darum gebeten, als wir uns zum ersten Mal begegnet sind.«

Ja, sie hatte ihn darum gebeten, aber nur so, um sich interessant zu machen. Jetzt war das vollkommen unwichtig.

»Die Beschäftigung mit diesem Thema war wie eine Reise über unbekannte Meere. Daß es das älteste Gewerbe der Welt ist, wie man so sagt, wußte ich. Aber über seine Geschichte wußte ich so gut wie nichts. Beziehungsweise über seine doppelte Geschichte.«

»Und diese Zeichnungen?«

Ralf Hart wirkte enttäuscht, weil sie ihn nicht verstand. Er beherrschte sich aber und fuhr fort: »Das sind Skizzen, die ich gemacht habe, während ich las, forschte und lernte.«

»Laß uns ein andermal darüber reden; heute möchte ich bei dem einen Thema bleiben. Ich muß den Schmerz begreifen.«

»Du hast ihn gestern gespürt und herausgefunden, daß er zur Lust führt. Du hast ihn heute gespürt und den Frieden gefunden. Ich will dir nur sagen: Gewöhne dich nicht daran, denn er ist eine starke Droge. Er findet sich in unserem Alltag, im verborgenen Leiden, im Verzicht, den wir leisten. Und wir geben dann der Liebe Schuld am Scheitern unserer Träume. Der Schmerz erschreckt, wenn er sein wahres Gesicht zeigt, aber er ist verführerisch, wenn er als Opfer, als Verzicht erscheint. Oder als Feigheit. Sosehr der Mensch den Schmerz auch ablehnt, so sehr liebt er ihn auch, macht er ihn zu einem Teil seines Lebens.«

»Das glaube ich nicht. Niemand leidet gern.«

»Wenn du begreifst, daß du, ohne zu leiden, leben kannst, dann ist damit ein großer Schritt getan – aber glaube ja nicht, daß jemand anders dich verstehen wird. Nein, niemand leidet gern, und dennoch suchen alle den Schmerz, das Opfer, und fühlen sich dadurch gerechtfertigt, fühlen sich rein, glauben, sich damit die Anerkennung ihrer Kinder, Ehemänner und Ehefrauen, Nachbarn und auch von Gott zu verdienen. Wir wollen jetzt nicht weiter darüber nachdenken, du mußt nur wissen, daß das, was die Welt bewegt, nicht die Suche nach der Lust ist, sondern der Verzicht auf alles, was wichtig ist.

Zieht der Soldat in den Krieg, um den Feind zu töten? Nein: Er wird für sein Land sterben. Zeigt die Frau ihrem Mann gern, daß sie zufrieden ist? Nein: Sie möchte, daß er sieht, wie sie sich für ihn abplagt, um ihn glücklich zu machen. Geht der Mann zur Arbeit, weil er glaubt, sich darin selbst zu verwirklichen? Nein: Er rackert sich ab für seine Familie. Und so weiter: Kinder, die auf ihre Träume verzichten, um den Eltern eine Freude zu machen, Eltern, die auf ihr Leben verzichten, um den Kindern eine Freude zu machen – Schmerz und Leid werden so zu Beweisen für etwas, was allein Freude bringen sollte: Liebe.«

»Hör auf!«

Ralf schwieg. Der Augenblick war gekommen, das Thema zu wechseln, und er holte die Zeichnungen eine nach der anderen hervor. Anfangs wirkte alles verwirrend auf sie, es gab Umrisse von Menschen – aber auch Kritzeleien, Farben, nervöse oder geometrische Linien. Allmählich begann sie jedoch zu verstehen, was er meinte, weil er jedes seiner Worte mit einer Handbewegung unterstrich und mit jedem Satz tiefer in eine Welt führte, zu der zu gehören sie sich bisher strikt geweige rt hatte – indem sie sich einredete, daß alles nur eine vorübergehende Phase ihres Lebens sei, ein Weg, Geld zu verdienen, und weiter nichts.

»Nun, ich habe herausgefunden, daß es nicht nur eine, sondern zwei Geschichten der Prostitution gibt. Eine kennst du selbst sehr gut, weil es auch deine ist: Ein hübsches Mädchen macht die Erfahrung, daß sie davon leben kann, wenn sie ihren Körper verkauft. Einige von ihnen beherrschen am Ende ganze Nationen, wie Messalina Rom; andere werden zur Legende, wie Madame du Barry, für andere endet das Abenteuer tragisch, wie bei der Spionin Mata Hari. Doch die meisten riskieren nichts, sind deshalb auch nicht erfolgreich, sondern nichts weiter als junge Mädchen aus der Provinz, die ausgezogen sind, Ruhm, einen Ehemann und Abenteuer zu suchen, und am Ende eine andere Wirklichkeit kennenlernen, eine Zeitlang darin eintauchen, sich daran gewöhnen. Sie glauben, immer alles im Griff zu haben, aber letztlich gibt's für sie kein Zurück mehr. Seit mehr als dreitausend Jahren schaffen Künstler ihre Skulpturen, ihre Bilder, schreiben sie ihre Bücher. Und auch die Huren üben ihr Gewerbe seit Menschengedenken aus. Es scheint sich nicht viel verändert zu haben. Möchtest du Genaueres erfahren?«

Maria nickte. Sie mußte Zeit gewinnen, den Schmerz begreifen. Sie ahnte, daß etwas sehr Schlimmes ihren Körper verlassen hatte, als sie durch den Park gegangen war.

»Huren kommen schon in den Texten des klassischen Altertums vor, die alten Ägypter schrieben von ihnen in Hieroglyphen, und auch in sumerischen Schriftstücken und im Alten und Neuen Testament wird von ihnen berichtet. Aber als Gewerbe institutionalisiert und legalisiert wird die Prostitution erst im sechsten Jahrhundert vor Christus, als der Gesetzgeber Solon in Griechenland staatlich kontrollierte Bordelle einrichtet und eine Steuer auf ›den Handel mit Fleisch‹ erhebt. Sehr zur Freude der Athener Geschäftsleute. Die Huren wurden ihrerseits anhand der Steuern klassifiziert, die sie zahlten.

Die billigste – eine Sklavin, die den Bordellbesitzern gehörte ­wurde pornai genannt. Die nächsthöhere Stufe war die peripatetica, die ihre Kunden auf der Straße suchte. Auf dem höchsten Preis- und Qualitätsniveau befand sich die hetaera, die ›weibliche Begleitung‹, die über eigenes Geld verfügte, Geschäftsleute auf deren Reisen begleitete, Ratschläge erteilte, ins politische Leben der Stadt eingriff. Im Mittelalter wurde wegen der ansteckenden Geschlechtskrankheiten…«

Stille, Angst vor Grippe und dazu die Hitze, die der Kamin abstrahlte und die sie jetzt brauchte, um Körper und Seele aufzuwärmen. Maria wollte diese Geschichte nicht weiterhören ­sie vermittelte ihr das Gefühl, daß die Welt stehengeblieben war, daß alles sich wiederholte, daß der Mensch niemals in der Lage sein würde, dem Sex den verdienten Respekt entgegenzubringen.

Aus Marias Tagebuch in der Nacht, in der sie barfuß durch den Jardin Anglais in Genf gegangen war:

Mich interessiert nicht, ob das, was ich tue, einmal heilig war oder nicht. ICH HASSE,WAS ICH TUE. Es zerstört meine Seele, läßt mich den Kontakt zu mir selbst verlieren, zeigt mir, daß Schmerz eine Entschädigung ist, Geld alles kauft, alles rechtfertigt.

Niemand, den ich kenne, ist glücklich; die Freier wissen, daß sie für das, was sie eigentlich gratis bekommen sollten, bezahlen müssen, und das ist deprimierend. Die Prostituierten wissen, daß sie das verkaufen müssen, was sie lieber nur aus Lust und Zärtlichkeit geben möchten, und das ist zerstörerisch. Ich habe schwer mit mir gekämpft, bevor ich niedergeschrieben und akzeptiert habe, daß ich unglücklich bin, unzufrieden – ich muß noch ein paar Wochen durchhalten.

Dennoch kann ich nicht einfach schweigen und so tun, als wäre alles normal, nur eine vorübergehende Phase in meinem Leben. Ich möchte sie vergessen, ich muß lieben nur das, ich muß lieben.

Das Leben ist zu kurz – oder zu lang, als daß ich mir erlauben könnte, es so zu vertun.

Das ist nicht sein Haus. Es ist auch nicht ihr Haus. Es ist weder Brasilien noch die Schweiz, sondern ein Hotel – das irgendwo auf der Welt sein könnte und dessen pseudofamiliäres Ambiente doppelt kühl wirkt.

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