Sie kam nicht dahinter; Masturbieren war viel weniger anstrengend, und sie hatte mehr davon – auch wenn das Fernsehen, die Illustrierten, Ratgeber und Freundinnen im Chor verkündeten, daß ein Mann wichtig sei. Maria begann zu glauben, daß sie ein sexuelles Problem hätte, das sie mit niemandem besprechen konnte. Daher stürzte sie sich aufs Lernen und vergaß lange Zeit diese wunderbare, mörderische Sache, die Liebe hieß.
Aus dem Tagebuch der inzwischen siebzehnjährigen Maria:
Ich möchte herausfinden, was das ist: die Liebe. Ich weiß, daß ich lebendig gewesen bin, als ich geliebt habe, und ich weiß auch, daß nichts an meinem heutigen Leben, so interessant es auf den ersten Blick aussehen mag, mich wirklich begeistert.
Aber die Liebe ist etwas Schreckliches: Ich sehe meine Freundinnen leiden, und das soll mir nicht auch passieren. Dieselben, die mich früher wegen meiner Naivität ausgelacht haben, fragen mich jetzt, wie ich es fertigbringe, die Männer im Griff zu haben. Ich lächle und schweige, weil ich weiß, daß die Arznei schlimmer ist als der Schmerz: Ich verliebe mich einfach nicht. Mit jedem Tag, der vergeht, sehe ich deutlicher, wie schwach, wankelmütig, unsicher die Männer sind und für einige Überraschungen gut… Einige der Väter meiner Freundinnen haben mir schon Angebote gemacht, ich habe abgelehnt. Früher war ich schockiert, jetzt glaube ich, daß die Männer eben so sind.
Ich will begreifen, was Liebe ist, aber bislang leide ich nur. Diejenigen, die meine Seele berühren, können meinen Körper nicht erwecken. Und die, denen ich mich hingebe, können meine Seele nicht berühren.
Mit neunzehn schloß Maria die Sekundarschule ab und nahm eine Stelle in einem Stoffladen an. Der Chef verliebte sich in sie – aber Maria wußte nun, wie man einen Mann benutzte, ohne von ihm benutzt zu werden. Er durfte sie nie auch nur anfassen, obwohl sie ihn, ihrer Anziehungskraft voll bewußt, immer wieder provozierte.
Die Macht der Schönheit! Und wie mochte die Welt für die häßlichen Frauen aussehen? Maria hatte etliche Freundinnen, die bei Partys unbeachtet blieben und zu denen keiner »Hallo, wie geht's!« sagte. Erstaunlicherweise maßen diese Mädchen dem wenigen an Liebe, das sie bekamen, viel mehr Wert bei, litten schweigend, wenn sie abgewiesen wurden, und setzten auf etwas anderes, als sich nur für jemanden schönzumachen. Sie waren unabhängiger, nahmen sich mehr Zeit für sich selbst, obwohl ihnen das Leben nach Marias Ansicht doch bestimmt unerträglich vorkommen mußte.
Sie selbst hingegen wußte, wie anziehend sie war. Allerdings vergaß sie die Warnung ihrer Mutter nicht: »Die Schönheit hält nicht ewig an, Töchterchen.«
Ihren Chef hielt sie auf Distanz, flirtete aber auch mit ihm, was ihr eine beachtliche Gehaltserhöhung einbrachte. Wie lange sie ihn noch hoffen lassen könnte, sie eines Tages doch noch ins Bett zu kriegen, wußte sie nicht, aber einstweilen verdiente sie gut. Dazu kam no ch ein Überstundenzuschlag, weil der Mann sie einfach soviel wie möglich um sich haben wollte, vielleicht aus Angst, sie könnte in ihrer Freizeit der großen Liebe begegnen. So arbeitete sie vierundzwanzig Monate hintereinander, konnte ihren Eltern monatlich etwas Geld abgeben und noch etwas auf die hohe Kante legen. Endlich war es soweit! Sie hatte genug Geld beisammen, um eine Woche in der Stadt ihrer Träume Urlaub zu machen, am Ort der Künstler, dem berühmtesten Postkartenmotiv ihres Landes: in Rio de Janeiro!
Ihr Chef erbot sich, sie zu begleiten und alle Kosten zu übernehmen, aber Maria flunkerte, ihre Mutter lasse sie nur unter der Bedingung an einen der gefährlichsten Orte der Welt reisen, daß sie im Haus eines Vetters übernachte, der Jiu-Jitsu praktiziere.
»Außerdem, Senhor«, fuhr sie fort, »können Sie den Laden doch nicht einfach allein lassen, ohne eine vertrauenswürdige Person, die auf ihn aufpaßt.«
»Sag nicht Senhor zu mir«, sagte er, und Maria las in seinen Augen das Feuer der Leidenschaft – und das kannte sie nur zu gut. Sie war überrascht, weil sie bisher geglaubt hatte, der Mann sei nur an Sex interessiert; sein Blick aber verhieß genau das Gegenteil: »Ich kann dir ein schönes Zuhause bieten, Kinder, und deine Eltern werde ich auch unterstützen.« Und mit Blick auf die Ungewisse Zukunft, beschloß Maria, das Feuer am Brennen zu halten.
Sie sagte, sie würde den Laden vermissen und die netten Menschen, mit denen sie so gern zusammen sei (sie nannte extra niemand Bestimmten, ließ offen, ob sich das mit den »netten Menschen« auf ihn bezog). Im übrigen werde sie schon auf ihre Handtasche achten und aufpassen, daß ihr nichts Böses geschehe. In Wahrheit jedoch wollte sie sich von nichts und niemandem ihre erste Woche in völliger Freiheit kaputtmachen lassen. Sie würde alles ausprobieren, im Meer baden, Wildfremde ansprechen, Schaufensterbummel machen und sich bereit halten für den Märchenprinzen, der endlich kommen und sie erlösen sollte.
»Eine Woche geht schnell vorbei«, sagte sie mit verführerischem Läche ln und hoffte im stillen, daß sie sich irrte. »Die geht schnell vorbei, und dann kehre ich zu meiner Arbeit zurück.«
Der Chef war untröstlich, zierte sich ein bißchen, willigte aber schließlich ein, denn er hatte vor, bei ihrer Rückkehr um ihre Hand anzuha lten; er wollte nur nicht zu dreist sein und alles kaputtmachen.
Maria reiste achtundvierzig Stunden mit dem Bus, nahm sich ein Zimmer in einer fünftklassigen Pension in Copacabana, und noch bevor sie ihren Koffer richtig ausgepackt hatte, zog sie ihren ne uen Bikini an und ging an den Strand. Die paar Wolken am Himmel konnten sie nicht abschrecken. Sie blickte aufs Meer und fürchtete sich und fühlte sich unsicher. Ängstlich blickte sie auf die Wellen. Schließlich ging sie doch ins Wasser.
Niemand am Strand bemerkte dieses Mädchen, das zum ersten Mal das Meer sah, das Reich der Liebes-und Meeresgöttin Jemanja, den Atlantik mit seinen Strömungen und seiner Gischt, der auf der anderen Seite an Afrika mit seinen Löwen grenzte. Als sie aus dem Wasser stieg, wurde sie zuerst von einer Sandwichverkäuferin angesprochen, dann von einem schönen Schwarzen, der sie fragte, ob sie abends frei sei, um mit ihm auszugehen, und schließlich von einem Mann, der kein einziges Wort Portugiesisch sprach und sie mit Gesten einlud, ein Kokoswasser mit ihm zu trinken.
Maria kaufte ein Sandwich, weil es ihr peinlich war, nein zu sagen, doch auf die beiden fremden Männer ging sie nicht ein. Plötzlich wurde sie traurig: endlich konnte sie tun, was sie wollte, und trotzdem benahm sie sich absolut unmöglich. Warum? Sie setzte sich und wartete, daß die Sonne hinter den Wolken hervorkam.
Der Mann, der kein Portugiesisch sprach, erschien mit einer Kokosnuß an ihrer Seite. Froh darüber, daß sie nicht mit ihm reden mußte, trank sie das Kokoswasser, lächelte, und er lächelte zurück. Eine Zeitlang saßen sie wortlos da, lächelten hinüber und herüber – bis der Mann ein rot eingebundenes Miniwörterbuch aus der Tasche zog und mit ausländischem Akzent »bonita« – »hübsch« – sagte. Sie lächelte wieder und war durchaus bereit, ihren Märchenprinzen zu treffen, aber er sollte zumindest ihre Sprache sprechen und etwas jünger sein.
Der Mann ließ nicht locker, blätterte weiter in dem Wörterbüchlein herum und stammelte dann:
»Heute abend essen?«
Und dann: »Schweiz.«
Und sagte dann jene Worte, die – in welcher Sprache auch immer – wie die Glocken des Paradieses klingen:
»Job! Dollar!«
Maria kannte kein Restaurant ›Schweiz‹. Aber sollten die Dinge wirklich so einfach sein und die Träume so schnell in Erfüllung gehe n? Besser mißtrauisch sein: Vielen Dank für die Einladung, ich bin schon vergeben, und sie war auch nicht daran interessiert, Dollars zu kaufen.
Der Mann, der kein einziges Wort ihrer Antwort verstand, verzweifelte allmählich; er gab das Hinundhergelächle auf, ließ sie stehen und kam kurz darauf mit einem Dolmetscher zurück. Durch ihn erklärte er, daß er aus der Schweiz komme (kein Restaurant, das Land war gemeint) und gern mit ihr zu Abend essen würde, da er ihr einen Job anzubieten habe. Der Dolmetscher, der sich als Berater des Ausländers und Sicherheitsmann des Hotels vorstellte, in dem der Mann abgestiegen war, flüsterte ihr zu:
»Wenn ich du wäre, würde ich einwilligen. Dieser Mann ist ein wichtiger Künstleragent und nach Rio gekommen, um neue Talente zu entdecken, die in Europa für ihn arbeiten sollen. Wenn du willst, kann ich dir andere Frauen vorstellen, die früher für ihn gearbeitet haben: Inzwischen sind sie reich und verheiratet und haben Kinder, und Dinge wie Arbeitslosigkeit und Angst vor Straßenräubern sind für sie Fremdwörter geworden.«
Zum Schluß versuchte er sie noch mit seiner Bildung zu beeindrucken: »Übrigens werden in der Schweiz Uhren und ausgezeichnete Schokolade hergestellt.«
Marias einzige künstlerische Erfahrung hatte bislang darin bestanden, in einem Passionsstück, das die Stadtverwaltung alljährlich in der Karwoche organisierte, die stumme Rolle einer Wasserverkäuferin zu spielen. Sie war übernächtigt von der langen Busreise, aber das Meer hatte sie erregt, und sie war hungrig und fü hlte sich verloren, weil sie weit und breit niemanden kannte. Sie hatte solche Situationen schon vorher erlebt, in denen ein Mann etwas verspricht und danach nicht hält – und wußte deshalb, daß die Geschichte mit der Künstlerin nur wieder ein Trick war, sie für etwas zu interessieren, das sie abzulehnen vorgab.
Sie spürte, daß die Heilige Jungfrau ihr diese Chance gegeben hatte und sie jede Sekunde dieser Urlaubswoche auskosten mußte. Ein gutes Restaurant kennenzulernen bedeutete, daß sie später zu Hause etwas Interessantes zu erzählen hatte. Deshalb nahm sie sein Angebot an, unter der Bedingung, daß der Dolmetscher sie begleitete. Sie hatte es satt, in einem fort zu lächeln und so zu tun, als verstehe sie auch nur ein Wort dessen, was der Ausländer sagte. Jetzt hatte sie nur ein Problem, ein ganz entscheidendes: Sie hatte nichts Richtiges anzuziehen. Eine Frau gibt so etwas nicht zu (eher noch nimmt sie hin, daß ihr Mann sie betrügt), aber da sie diese Männer nicht kannte und sie vermutlich nie wiedersehen würde, hatte sie nichts zu verlieren.
»Ich bin gerade aus dem Nordosten angekommen, ich habe nichts Anständiges anzuziehen.« Der Mann bat sie durch den Dolmetscher, sich keine Sorgen zu machen, und ließ sich die Adresse ihres Hotels geben. Am späten Nachmittag erhielt sie ein Kleid, wie sie in ihrem ganzen Leben noch keines gesehen hatte, dazu ein Paar Schuhe, die so viel gekostet haben mußten, wie sie im ganzen Jahr verdiente.