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Eine Pause. Langes Schweigen. ›Hilf ihm nicht über dieses Schweigen hinweg, mal sehen, wie er fortfährt.‹

»Ich brauche dich, Maria. Du hast Licht, obwohl ich spüre, daß du mir nicht glaubst und meinst, ich wolle dich mit meinen Worten verführen. Frag nicht ›Warum ich? Was ist Besonderes an mir?‹ An dir ist nichts Besonderes, nichts, wofür ich eine Erklärung hätte. Dennoch – und darin liegt das Geheimnis des Lebens – kann ich an nichts anderes mehr denken.«

»Ich hätte nicht gefragt«, log sie.

»Wenn ich nach einer Erklärung suchen würde, könnte ich sagen: Die Frau, die ich vor mir habe, hat es geschafft, das Leiden zu überwinden und es in etwas Positives, Kreatives zu verwandeln. Aber das reicht als Erklärung nicht aus.«

Die Situation wird allmählich brenzlig, dachte Maria. Ralf fuhr fort.

»Und ich? Ich bin kreativ, meine Bilder sind in Galerien auf der ganzen Welt gesucht, ich habe mir einen Traum erfüllt, ich bin ein geachteter Bürger meines Dorfes, meine Frauen haben mich nie um Alimente gebeten, ich bin gesund, sehe gut aus, kurz, ich habe alles, was ein Mann sich nur erträumen kann… Und doch stehe ich hier und sage zu einer Frau, die ich erst kürzlich in einem Cafe getroffen und mit der ich gerade mal einen Nachmittag verbracht habe: ›Ich brauche dich!‹ Weißt du, was Einsamkeit ist?«

»Ja, ich weiß es.«

»Aber du weißt nicht, was Einsamsein heißt, wenn du gleichzeitig jede Menge Leute treffen könntest, überall eingeladen bist, zu Partys, Cocktails, Theaterpremieren. Wenn andauernd das Telefon klingelt und Frauen dran sind, die deine Arbeit großartig finden, die mit dir zu Abend essen wollen ­schöne, intelligente, gebildete Frauen. Und etwas hält dich ab und sagt: ›Geh nicht! Du wirst dich nicht amüsieren. Du wirst nur eine weitere Nacht damit vertun, Eindruck zu schinden, dir selbst zu beweisen, daß du fähig bist, die ganze Welt zu verführen.‹

Dann bleibe ich zu Hause, gehe in mein Studio, suche das Licht, das ich in dir gesehen habe. Aber ich sehe dieses Licht nur, solange ich arbeite.«

»Was kann ich dir geben, das du nicht schon hast?« entgegnete sie. Die Bemerkung über die anderen Frauen tat weh, aber schließlich hatte er sie, Maria, dafür bezahlt, um sie an seiner Seite zu haben.

Er war bei seinem dritten Whisky angelangt, und Maria stellte sich vor, wie der Alkohol seine Kehle hinunterrann, im Magen brannte, in Ralfs Blutkreislauf gelangte, ihn ermutigte, und sie fühlte sich ebenfalls beschwipst, obwohl sie keinen Tropfen Alkohol getrunken hatte.

»Gut. Ich kann deine Liebe nicht kaufen, aber du hast gesagt, daß du alles über Sex weißt. Bring es mir bei. Oder erzähl mir etwas über Brasilien. Was auch immer, wenn ich nur bei dir sein darf.«

Was jetzt?

»In Brasilien kenne ich nur zwei Städte: die Kleinstadt, in der ich geboren wurde, und Rio de Janeiro. In puncto Sex glaube ich nicht, daß ich dir etwas beibringen kann. Ich bin bald dreiundzwanzig und du nur sechs Jahre älter, aber du hast viel intensiver gelebt als ich. Die Männer, mit denen ich mich sonst treffe, bezahlen dafür, daß ich mache, was sie wollen, und nicht umgekehrt.«

»Ich habe bereits alles getan, wovon ein Mann träumen kann, mit zwei, drei Frauen auf einmal. Aber ich weiß nicht, ob ich viel gelernt habe.«

Wieder Schweigen, nur daß diesmal Maria an der Reihe war, etwas zu sagen. Und er half ihr nicht, so wie sie vorher ihm nicht geholfen hatte.

»Willst du mich als Professionelle?«

»Ich will dich so, wie du willst.«

Nein, das hätte er nicht antworten dürfen, denn es war genau das, was sie hören wollte. Wieder das Erdbeben, der Vulkan, der Sturm. Sie würde unweigerlich in die eigene Falle gehen, den Mann verlieren, den sie nie wahrhaft gehabt hatte.

»Du kannst es, Maria. Bring es mir bei. Vielleicht rettet es mich und dich und bringt uns beide zurück ins Leben. Du hast recht, ich bin nur sechs Jahre älter als du, und doch habe ich schon mehrere Leben gelebt. Unsere Erfahrungen sind vollkommen unterschiedlich, aber wir sind beide verzweifelt. Das einzige, was uns Frieden schenkt, ist, zusammenzusein.«

Warum sagte er all diese Dinge? Es war unmöglich, und dennoch stimmte es. Sie hatten sich nur einmal gesehen, und schon brauchten sie einander. Was würde nur daraus werden, wenn sie sich häufiger sahen? Maria war eine intelligente Frau, die die Menschen genau beobachtete; sie hatte sich in ihrem Leben einiges vorgenommen, aber sie hatte auch eine Seele, die ihr ›Licht‹ kennenlernen und entdecken mußte.

Sie war es allmählich müde, das zu sein, was sie war, und obwohl die bevorstehende Rückreise nach Brasilien eine interessante Herausforderung war, hatte sie noch nicht alles gelernt, was es hier für sie zu lernen gab. Ralf Hart war ein Mann, der Herausforderungen angenommen hatte, und jetzt bat er ausgerechnet sie – dieses Mädchen, diese Prostituierte, diese verständnisvolle Mutter –, ihn zu retten. Es war grotesk!

Andere Männer hatten sich ihr gegenüber genauso verhalten. Viele hatten keine Erektion zustande gebracht, andere wollten wie Kinder behandelt werden, wieder andere hätten sie gern zur Ehefrau gehabt, weil es sie erregte, daß sie mit vielen Männern im Bett gewesen war. Obwohl sie noch keinen dieser ›speziellen Freier‹ kennengelernt hatte, wußte sie, wie groß der Vorrat an Phantasien war, die die menschliche Seele bevölkerten. Doch kein anderer Mann hatte sie je gebeten: ›Führe mich hier heraus!‹ Sie wollten im Gegenteil Maria immer mit in ihre Welt nehmen.

Und obwohl sie nach jedem Mal noch ein wenig reicher und innerlich noch ein wenig leerer gewesen war, hatte doch jeder dieser Männer sie etwas gelehrt. Allerdings, wenn einer von ihnen wirklich Liebe suchte und Sex nur ein Teil dieser Suche war, wie wollte sie dann behandelt werden?

Was gehörte für sie zu einer ersten Begegnung?

»Ein Geschenk«, sagte Maria.

Ralf Hart sah sie verständnislos an. Ein Geschenk? Er hatte für diese Nacht im Taxi schon im voraus bezahlt, da er das Ritual kannte. Was hatte sie also gemeint?

Aber Maria hatte plötzlich begriffen, welche Gefühle ein Mann und eine Frau brauchen. Sie nahm ihn an der Hand und führte ihn ins Nebenzimmer.

»Wir werden nicht ins Schlafzimmer hinaufgehen«, sagte sie.

Sie löschte fast alle Lichter, setzte sich auf den Teppich und bat ihn, sich ihr gegenüber hinzusetzen. Sie sah, daß es dort einen Kamin gab.

»Mach den Kamin an!«

»Aber es ist doch Sommer!«

»Mach den Kamin an! Du hast mich gebeten, heute nacht die Führung zu übernehmen, und das gehört dazu.«

Sie sah ihn fest an, hoffte, er würde wieder ihr ›Licht‹ sehen. Er sah es, denn er ging in den Garten und holte ein paar vom Regen naßgewordene Holzscheite, legte ein paar alte Zeitungen dazu. Er ging in die Küche, um eine neue Flasche Whisky zu holen, aber Maria sagte: »Hast du mich gefragt, was ich will?«

»Nein.«

»Die Person, die bei dir ist, muß spüren, daß sie für dich existiert. Denk an sie! Denk darüber nach, ob sie Whisky oder Gin oder Kaffee möchte. Frag, was sie möchte!«

»Was möchtest du trinken?«

»Wein. Und ich möchte, daß du auch welchen trinkst.«

Er ließ den Whisky stehen und kam mit einer Flasche Wein zurück. Inzwischen hatte das Feuer schon die Holzscheite angebrannt; Maria löschte die restlichen Lichter, so daß der Raum nur noch vom Kaminfeuer erhellt war. Sie verhielt sich so, als hätte sie schon immer gewußt, daß dies der erste Schritt war: den anderen merken zu lassen, daß man ihn wahrnimmt.

Sie kramte in ihrer Handtasche und fand einen Kugelschreiber, den sie in einem Supermarkt gekauft hatte.

»Der ist für dich. Ich habe ihn gekauft, um damit meine Ideen für meine Farm aufzuschreiben. Drei Tage habe ich geschrieben und geschrieben, bis ich nicht mehr konnte. Es klebt ein wenig von meinem Schweiß, meiner Konzentration, meinem Willen daran, und darum schenke ich ihn dir jetzt.«

Sanft legte sie den Kugelschreiber in seine Hand.

»Anstatt dir etwas zu kaufen, was du vielleicht gern hättest, gebe ich dir etwas, was wirklich mir gehört. Ein Geschenk. Als Zeichen meiner Achtung vor dem Menschen, der vor mir sitzt, damit er versteht, wieviel es mir bedeutet, bei ihm zu sein. Jetzt hast du einen kleinen Teil von mir, den ich dir freiwillig und spontan gegeben habe.«

Ralf erhob sich, ging zum Bücherregal und kam mit einem Gegenstand zurück. Er reichte ihn Maria:

»Das ist der Waggon einer elektrischen Eisenbahn, die ich als kleiner Junge hatte. Ich durfte nie allein damit spielen, weil mein Vater sie dafür zu kostbar fand. Also mußte ich immer warten, bis er Lust hatte, die Eisenbahn aufzubauen – hier in diesem Zimmer. Normalerweise verbrachte er seine Sonntage damit, Opern zu hören. Daher hat die Eisenbahn meine Kindheit überlebt, aber sie hat mir keine Freude gebracht. Im ersten Stock habe ich alle Schienen aufbewahrt, die Lokomotive, die kleinen Bahnhöfe, sogar die Gebrauchsanleitung; weil ich eine Eisenbahn hatte, die mir nicht wirklich gehörte, mit der ich nicht spielte. Es wäre besser gewesen, sie wäre kaputtgegangen wie andere Spielsachen, die ich als Kind bekommen habe und an die ich mich nicht mehr erinnern kann, weil ich sie kaputtgemacht habe, weil man als Kind die Welt voller Leidenschaft entdeckt und dabei vieles kaputtmacht. Diese unversehrte Eisenbahn jedoch erinnert mich immer an einen ungelebten Teil meiner Kindheit, weil die Eisenbahn zu wertvoll oder mein Vater anderweitig beschäftigt war. Oder vielleicht weil mein Vater jedesmal, wenn er die Eisenbahn aufbaute, Angst hatte, mich seine Liebe spüren zu lassen.«

Maria starrte ins Feuer. Etwas war geschehen – aber es lag nicht am Wein oder der gemütlichen Atmosphäre. Es hing mit der Übergabe der Geschenke zusammen.

Ralf wandte sich dem Kamin zu. Sie schwiegen und lauschten dem Knistern des Feuers. Sie tranken Wein, als wäre es nicht wichtig, etwas zu sagen, zu reden, zu tun. Einfach nur dasein, einer beim anderen und in dieselbe Richtung schauen.

»Ich habe viele unversehrte Eisenbahnen in meinem Leben«, sagte Maria nach einer Weile. »Eine davon ist mein Herz. Ich habe auch damit gespielt, wenn die anderen die Schienen aufbauten, und es war nicht immer der richtige Moment.«

»Aber du hast geliebt?«

»Ja, ich habe geliebt, ich habe sehr geliebt. Ich habe so sehr geliebt, daß ich, als ich meiner ersten Liebe nicht gegeben habe, was sie wollte – einen Bleistift –, geflohen bin.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Das brauchst du auch nicht. Ich bringe dir etwas bei, was auch ich erst lernen mußte: schenken. Das Schenken von etwas, was einem gehört. Einem anderen etwas geben, bevor man ihn um etwas Wic htiges bittet. Du hast meinen Schatz: den Kugelschreiber, mit dem ich einige meiner Träume aufgeschrieben habe. Ich habe deinen Schatz: einen Eisenbahnwagen, einen Teil deiner Kindheit, den du nicht gelebt hast. Ich habe jetzt einen Teil deiner Vergangenhe it und du einen Teil meiner Gegenwart. Und das ist schön.«

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