„Du lügst!“, sagte der König erbost. „Du kannst es nur nicht ertragen, dass ich glücklich bin! Geh jetzt, ich habe keine Zeit mehr für dich.“ Er klatschte herrisch in die Hände. „Hofmarschall!“, rief er. „Gib dieser Frau Geld für ein neues Kleid und einen neuen Blumentopf.“
Da richtete Gudrun sich zu ihrer vollen Größe auf. „Ich will dein Geld nicht“, sprach sie stolz, wenn auch mit Tränen in den Augen. „Leb wohl und werde glücklich. Doch du sollst wissen, dass du mich rufen kannst, wenn du mich brauchst.“
Der König lächelte spöttisch. „Ich lasse dich rufen, wenn ich dich brauche“, sagte er, „aber ich werde dich nicht brauchen.“ Er schaute sie nicht an dabei, denn obgleich er sich so hochmütig gab, hatte er ein schlechtes Gewissen und konnte es nicht ertragen, ihr trauriges Gesicht und ihre Tränen zu sehen.
Die arme Gudrun kehrte nach Hause zurück und ging in ihre Kammer. Als sie den Rosenstrauch auf den Tisch stellte, streifte sie ungeschickt den Stamm, und ein spitzer Rosendorn stach sie in den Finger und sie begann kräftig zu bluten. Da Gudrun nichts zur Hand hatte, um die Wunde zu verbinden, riss sie das äußere Blatt von einer Rosenblüte ab und legte es auf die Wunde. Das Blättchen schmiegte sich an ihren Finger, wurde zuerst rot, dann rosa, schließlich zog es sich in die Haut ein und verschwand, als ob es nie da gewesen wäre. Gudrun war überrascht. Sie untersuchte ihren Finger und stellte fest, dass von der Verletzung nicht die geringste Spur geblieben war.
Einige Zeit verging. Der Tag der Hochzeit von König Heinrich und Prinzessin Insa wurde bekanntgegeben. Doch dann erschien eines Abends ein königlicher Bote bei Gudrun und überbrachte ihr den Befehl, vor dem König zu erscheinen. Sie war kein bisschen erstaunt, es war, als hätte sie die ganze Zeit auf diese Nachricht gewartet. Sie nahm ihren Rosenstrauch und folgte dem Boten, der sie zum Schloss und in die Gemächer des Königs führte. Dort sah sie Heinrich sitzen, allein und traurig.
„Guten Abend, Gudrun“, sprach er mit großer Mühe. „Insa weiß nicht, dass ich dich rufen ließ. Sie verbringt die letzten Tage vor der Hochzeit bei ihren Eltern. Das ist mir recht, denn ich möchte dich ohne Zeugen sprechen. Setz dich.“ Der König wies auf den Platz neben sich. „Damals war ich dir gegenüber sehr ungerecht, bitte verzeih mir. Außerdem war ich derjenige, der dir geraten hat, Ferdinand zu heiraten, den du nicht geliebt hast und mit dem du nun unglücklich bist. Sag mir, wie kann ich diese Ungerechtigkeit wiedergutmachen? Ich bin sehr reich. Ich könnte dir so viel Geld geben, dass du auf eigenen Füßen stehen kannst; dann könntest du auch deinen Mann verlassen, wenn du willst.“
„Nein, mein König, ich brauche all dein Geld nicht. Das, was ich mit meinen Blumen auf dem Markt verdiene, reicht mir. Wenn ich nicht arbeiten und nicht mit Menschen sprechen könnte, wäre mir langweilig. Aber ich danke dir, dass du mit mir sprechen wolltest. Das war mein größter Wunsch, aber ich wagte nicht, dich darum zu bitten.“
„Wenn du kein Geld brauchst, welche Belohnung willst du sonst haben für deine Liebe und Treue?“
„Du verwechselst etwas, Heinrich. Liebe kann man nicht belohnen. Sie ist selbst die höchste Belohnung, wenn du nur wirklich liebst. Irgendetwas hat wohl deinen Blick getrübt, du misst jetzt alles an Geld. Das ist aber nicht richtig.“
„Davon will ich nichts hören“, sagte der König unwirsch. „Ich frage dich noch einmal: Hast du irgendeinen Wunsch, den ich dir erfüllen kann?“
„Bevor ich meinen Wunsch ausspreche, erlaube mir, dir eine Frage zu stellen.“
„Sprich!“
„Schmerzen deine Wunden immer noch weniger, wenn du deine junge Braut umarmst?“
„Nein“, antwortete der König, nachdem er eine Weile geschwiegen hatte. „Ihre Umarmung wärmt mich nicht mehr so wie am Anfang. Und sie lindert auch meine Wunden nicht mehr, die schmerzen schlimmer denn je und lassen mir Tag und Nacht keine Ruhe. Warum fragst du? Kannst du mir helfen? Rede, Gudrun, die du in Rätseln sprichst!“
„Ja, mein König, nun kann ich meinen Wunsch aussprechen. Wenn du ihn erfüllen wolltest, wäre das eine echte Belohnung für meine Liebe. Mein Wunsch ist, dich von deinen Schmerzen zu befreien, und ich kenne ein Mittel, das dir helfen kann.“
„Gib mir dieses Mittel, schnell!“ Der König streckte die Hand aus und schnippte sogar vor Ungeduld mit den Fingern.
„Nein, Heinrich, ich werde es dir nicht in die Hand geben, denn du hast schon einmal dein Wort gebrochen. Lass mich weiter erklären, was ich mir wünsche, und bitte unterbrich mich nicht.“ Gudrun blickte den König fordernd an und fuhr fort: „Halte deine Braut Insa für zwei Monate von deinem Haus fern. Diese Zeit benötigt die Kur, die ich dir anbiete. Wenn ich dich in dieser Zeit nicht von deinen Schmerzen befreit habe, kannst du mich als Betrügerin auf dem Scheiterhaufen verbrennen. Aber wenn mein Vorhaben gelingt, musst du mich heiraten. Das ist meine Bedingung. Entscheide dich: Willst du den jungen Körper umarmen, der dein Leiden schon lange nicht mehr lindert, oder deine Schmerzen loswerden und die Zeit, die du hast, mit mir zusammen glücklich leben? Frage dich selbst, warum du mich eigentlich hast rufen lassen – ob dein Herz mich wirklich vergessen hat oder ob du dein Leben mit mir teilen willst wie früher. Ich gehe jetzt. Denke darüber nach. Du weißt, wo ich zu finden bin. Leb wohl!“
Die Prinzessin wandte sich ab und ging auf den Ausgang zu. Doch noch bevor sie die Tür erreicht hatte, hörte sie Heinrichs Stimme:
„Warte, Gudrun, geh nicht. Ich werde alles so machen, wie du es willst. Ich schicke einen Boten zu Insa und verbiete ihr, in den nächsten zwei Monaten hierherzukommen. Wenn du mich nicht gesundpflegen kannst, verweise ich dich aus meinem Königreich, weil du nicht halten konntest, was du mir versprochen hast. Heilst du mich aber tatsächlich, bleiben wir zusammen ein Leben lang. Darauf gebe ich dir das Wort des Königs. Und nun komm zu mir, ich möchte dich umarmen wie früher und auf das hören, was mein Herz mir sagt.“
Gudrun trat zum König, und er umarmte sie und fühlte plötzlich sein Herz fröhlich schlagen. Er empfand Freude und Leichtigkeit wie schon lange nicht mehr und spürte auch die Schmerzen kaum noch, die ihn in all der Zeit, die er von Gudrun getrennt gewesen war, eisern umklammert hatten. Da wurde ihm klar, dass er gar nicht die schöne junge Insa liebte, sondern sich die ganze Zeit nach seiner Gudrun sehnte, die immer auf ihn gehört und auf ihn gewartet hatte.
Mit Hilfe der Rose, die sie mit ihrer Liebe großgezogen und mit ihren Tränen genährt hatte, gelang es Gudrun, König Heinrich innerhalb von vierzig Tagen wieder gesundzupflegen und fröhlich zu machen. Von da an lebten sie lange und glückliche Jahre bis ans Ende ihrer Tage zusammen.
Du willst wissen, was aus Ferdinand und aus Insa wurde? Jeder von ihnen hat sein eigenes Märchen …
Das Märchen von der männlichen Wahl
Vor langen, langen Zeiten, an die sich nur wenige Leute erinnern, lag am Ufer eines frei und ungezwungen dahinfließenden Stroms ein großes Königreich, das von König Ludwig und seiner Königin Gertrud regiert wurde. Die beiden lebten sehr glücklich miteinander. Nur eins machte sie traurig: Der liebe Gott wollte ihnen keinen Erben schenken. Das Ehepaar hatte schon fast jegliche Hoffnung aufgegeben, doch dann war Königin Gertrud eines Tages doch in gesegneten Umständen. Neun Monate später kam ein hübscher Junge zur Welt. Er wurde auf den Namen Donatus getauft, als Dank für das göttliche Geschenk. Der Junge wurde mit jedem Tag größer und klüger, und die Eltern hatten große Freude an ihrem Kind.
Donatus wuchs zu einem schlanken, schmucken Jüngling mit blauen Augen und schwarzen Locken heran und lernte von seinem Vater die Kunst des Regierens. Alle Prinzessinnen der Gegend träumten davon, diesen schönen, klugen und reichen Prinzen zu heiraten. Doch diejenigen, die an den Hof kamen, interessierten Donatus nicht im Geringsten. Viele waren hübsch, und alle waren sehr nett zu ihm und sehr freundlich, aber keine von ihnen berührte sein Herz, und er begann sich in ihrer Gesellschaft schnell zu langweilen. Lieber ging er mit seinen Freunden auf die Jagd oder nahm an Turnieren teil.