Er hielt den Apparat wieder an den Mund, aber so, daß die obere Hälfte mit der Last der eisblauen Aura von seinem Kopf wegzeigte. Er hatte Angst, wenn er den Hörer zu nahe ans Ohr hielt, würde sie ihn mit ihrer kalten und erbosten Verzweiflung taub machen.
»Sagen Sie Bill, daß Ralph angerufen hat«, sagte er. »Roberts, nicht Robbins.« Er legte auf, ohne auf ihre Antwort zu warten. Die blauen Strahlen am Hörer brachen ab und fielen torkelnd zu Boden. Ralph mußte wieder an Eiszapfen denken; diesmal, wie sie ordentlich in einer Reihe herunterfielen, wenn man nach einem warmen Wintertag mit dem Fäustling an der Unterseite eines Simses entlangstrich. Sie lösten sich auf, bevor sie auf dem Linoleum landeten. Er sah sich um. Nichts in dem Raum leuchtete, flackerte oder vibrierte. Die Auren waren wieder fort. Er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, und dann hatte draußen auf der Harris Avenue ein Auto eine Fehlzündung.
In dem einsamen Apartment im ersten Stock stieß Ralph Roberts einen Schrei aus.
Er wollte keinen Tee mehr, hatte aber immer noch Durst. Er fand eine halbe Flasche Pepsi Light - abgestanden, aber außen beschlagen - hinten im Kühlschrank, goß es in einen Plastikbecher mit dem verblaßten Symbol des Red Apple und nahm es mit nach draußen. Er ertrug es nicht mehr, in dem Apartment zu sein, das nach unglücklichem Wachsein zu riechen schien. Besonders nicht nach dem Zwischenfall mit dem Telefon.
Der Tag war, sofern dies überhaupt möglich war, noch schöner geworden; ein starker, milder Wind war aufgekommen, rollte Bänder aus Licht und Schatten über das westliche Derry und kämmte das Laub von den Bäumen. Der Wind wehte es wie orangefarbene, rote und gelbe heulende Derwische über die Bürgersteige.
Ralph wandte sich nach links, aber nicht, weil er den Wunsch verspürte, das Picknickgelände beim Flughafen wiederzusehen, sondern weil er den Wind im Rücken haben wollte. Dennoch betrat er zehn Minuten später wieder die kleine Lichtung. Diesmal fand er sie verlassen vor, was ihn nicht überraschte. Der Wind, der aufgekommen war, war keineswegs schneidend, so daß alte Männer und Frauen hätten aufspringen und in den Häusern Schutz suchen müssen, aber es war Schwerstarbeit, Karten auf den Tischen oder Spielfiguren auf dem Schachbrett zu halten, wenn der übermütige Wind versuchte, sie fortzuwehen. Als Ralph sich dem kleinen Tisch näherte, wo Faye Chapin für gewöhnlich Hof hielt, überraschte ihn auch nicht, daß er einen Zettel unter einem Stein vorfand, und er hatte eine deutliche Vorstellung davon, worum es gehen würde, noch bevor er den Plastikbecher aus dem Red Apple wegstellte und den Zettel aufhob.
Zwei Spaziergänge; zweimal den kahlköpfigen Arzt mit dem Skalpell gesehen; zwei alte Leute, die an Schlaflosigkeit leiden und bunte Farben sehen; zwei Zettel. Als würde Noah die Tiere auf die Arche führen, nicht einzeln, sondern in Paaren… und wird wieder harter radioaktiver Regen fallen? Was meinst du, alter Mann?
Er wußte nicht genau, was er meinte… aber Bills Zettel war eine Art in Entstehung befindlicher Nachruf gewesen, und er hatte keinen Zweifel, daß der von Faye dasselbe sein würde. Das Gefühl, als würde er mühelos und ohne Zögern vorwärts getragen werden, war so stark, daß er es nicht in Zweifel ziehen konnte; es war, als würde man auf einer unbekannten Bühne erwachen und Dialogzeilen in einem Schauspiel sprechen (oder besser gesagt, stottern), an dessen Probe man sich nicht erinnern konnte, als würde man einen Zusammenhang in etwas erkennen, das bislang wie völliger Unsinn ausgesehen hatte, oder entdecken…
Was entdecken?
»Eine heimliche Stadt, genau das«, murmelte er. »Das Derry der Auren.« Dann beugte er sich über Fayes Zettel und las ihn, während der Wind schalkhaft mit seinem schütteren Haar spielte.
Wer Jimmy Vandermeer die letzte Ehre erweisen möchte, sollte es bis spätestens morgen tun. Pater Coughlin kam heute mittag vorbei, als ich die Aufstellungfür das Schachturnier durchsah, und erzählte mir, daß sich der Zustand des armen Kerls zusehends verschlechtert. Aber er KANN Besucher empfangen. Er liegt auf der Intensivstation des Derry Home, Zim—
P.S. Vergeßt nicht, die Zeit wird knapp. 414
Ralph las den Zettel zweimal, legte ihn mit dem Stein darauf wieder auf den Tisch, damit ihn der nächste Altvordere lesen konnte, der hierher kam, dann blieb er einfach mit den Händen in den Taschen und gesenktem Kopf stehen und betrachtete Startbahn 3 unter seinen buschigen Brauen hervor. Ein trockenes Blatt, orangefarben wie die Halloweenkürbisse, die bald die Straßen schmücken würden, kam aus dem tiefblauen Himmel heruntergeschwebt und landete in seinem schütteren Haar. Ralph wischte es zerstreut weg und dachte an zwei Zimmer auf der Intensivstation, zwei Zimmer nebeneinander. Bob Polhurst in einem, Jimmy V. im anderen. Und das nächste Zimmer in diesem Flur? Das war 217, das Zimmer, in dem seine Frau gestorben war.
»Das ist kein Zufall«, sagte er leise. »Nichts von alledem ist Zufall.«
Aber was war es? Umrisse im Nebel? Eine heimliche Stadt? Beides waren bedeutungsschwangere Ausdrücke, beide, aber sie beantworteten keine Fragen.
Ralph setzte sich auf den Picknicktisch neben dem, auf dem Faye seine Nachricht hinterlassen hatte, zog die Schuhe aus und schlug die Beine übereinander. Der böige Wind zerzauste ihm das Haar. Er saß zwischen den fallenden Blättern, hielt den Kopf leicht gesenkt und hatte die Stirn nachdenklich gerunzelt. Er sah wie eine Winslow-Homer-Version des meditierenden Buddha mit den Händen auf den Knien aus, während er gründlich über seine Eindrücke von Doc Nr. 1 und Doc Nr. 2 nachdachte… und sie dann mit denen verglich, die er von Doc Nr. 3 gewonnen hatte.
Erster Eindruck: Alle drei Docs hatten ihn an die Außerirdischen in Sensationsblättern wie Inside View und an Bilder erinnert, die stets die Legende »Vorstellung des Künstlers« trugen. Ralph wußte, daß diese Bilder geheimnisvoller kahlköpfiger, dunkeläugiger Besucher viele Jahre zurückreichten; schon seit langer Zeit berichteten Menschen von Begegnungen mit kleinwüchsigen Kahlköpfen - den sogenannten »kleinen Ärzten« -, möglicherweise schon so lange, wie von UFOSichtungen berichtet wurde. Er war ziemlich sicher, daß er mindestens einen derartigen Bericht schon in den sechziger Jahren gelesen hatte.
»Okay, also sind einige von diesen Burschen unterwegs«, sagte Ralph zu einem Sperling, der sich auf einem der Abfalleimer des Picknickplatzes niedergelassen hatte. »Nicht nur drei Docs, sondern dreihundert. Oder dreitausend. Lois und ich sind nicht die einzigen, die sie gesehen haben. Und…«
Und sprachen die meisten Leute, die solche Begegnungen schilderten, nicht auch von scharfen Gegenständen?
Ja, aber nicht von Scheren oder Skalpellen - jedenfalls glaubte Ralph das nicht. Die meisten Leute, die behaupteten, von den kleinen kahlköpfigen Ärzten entführt worden zu sein, sprachen von Sonden, oder nicht?
Der Sperling flog weg. Ralph bemerkte es nicht. Er dachte an die kleinen kahlköpfigen Ärzte, die May Locher in der Nacht ihres Todes besucht hatten. Was wußte er sonst noch von ihnen? Was hatte er noch gesehen? Sie waren in weiße Kittel gekleidet, wie sie Ärzte in Fernsehserien der fünfziger und sechziger Jahre getragen hatten und Apotheker sie heute noch trugen. Aber ihre Kittel waren, im Gegensatz zu dem von Doc Nr. 3, sauber gewesen. 3 hatte ein rostiges Skalpell gehabt; wenn die Schere in der rechten Hand von Doc Nr. 1 rostig gewesen war, hatte Ralph es nicht bemerkt. Nicht einmal durch das Fernglas.
Noch etwas - wahrscheinlich nicht so wichtig, aber immerhin ist es dir aufgefallen. Der scherentragende Doc war Rechtshänder, jedenfalls der Art nach zu urteilen, wie er seine Waffe gehalten hat. Der skalpellschwingende Doc war Linkshänder.
Nein, wahrscheinlich nicht wichtig, aber etwas daran auch einer dieser Umrisse im Nebel, ein kleinerer - ließ ihm keine Ruhe. Etwas über die Dichotomie von links und rechts.