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Grunzend streckte er die Hand bis ganz nach hinten aus, stieß einen Karton beiseite, aus dem ein halber Weihnachtsstern herausragte wie ein seltsames stacheliges Periskop (dabei stieß er auch den Stöckelschuh ohne Absatz auf den Boden), und dann sah er, wonach er gesucht hatte, in der hinteren linken Ecke des Regals: das Etui, in dem sich sein altes Fernglas von Zeiss-Ikon befand.

Ralph stieg von dem Stuhl herunter, bevor dieser ganz unter ihm wegrutschen konnte, schob ihn näher heran und stieg wieder hinauf. Er kam nicht bis ganz in die Ecke, wo das Fernglas lag, daher nahm er das Netz in die Hand, das seit ach so vielen Jahren da oben neben seiner Fliegenschachtel und dem Fischkorb lag, und konnte das Etui beim zweiten Versuch fassen. Er zog es nach vorne, bis er den Gurt ergreifen konnte, stieg von dem Stuhl herunter und trat auf den heruntergefallenen Stöckelschuh. Sein Knöchel knickte schmerzhaft um. Ralph stolperte, ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, und vermied es so knapp, mit dem Gesicht voran gegen die Wand zu prallen. Aber als er ins Wohnzimmer zurück ging, spürte er nasse Wärme unter dem Verband an der Seite. Jetzt hatte er es doch geschafft, daß die Messerwunde wieder aufgebrochen war. Prima. Eine wunderbare Nacht im Chez Robert… und wie lange war er von dem Fenster weg gewesen? Er wußte es nicht, aber es schien ziemlich lange gewesen zu sein, und er war sicher, daß die kleinen kahlköpfigen Ärzte fort sein würden, wenn er zurückkam. Die Straße würde verlassen sein und…

Er blieb wie angewurzelt stehen, das Etui des Fernglases baumelte an seinem Gurt und warf einen langen, trapezförmigen Schatten auf dem Boden hin und her, den das orangegelbe Leuchten der Straßenlaternen überzog wie eine häßliche Farbschicht.

Kleine kahlköpige Ärzte? Hatte er sie gerade so genannt? Ja, natürlich, denn so nannten die anderen sie - die Leute, die behaupteten, daß sie von ihnen entführt… untersucht… in manchen Fällen operiert worden waren. Sie waren die Mediziner aus dem Weltall, die Proktologen aus der unendlichen Weite. Aber das war nicht wichtig. Wichtig war -

Ed hat den Ausdruck gebraucht, dachte Ralph. Er hat ihn in der Nacht gebraucht, als er angerufen und mich gewarnt hat, ich sollte mich von ihm und seinen Interessen fernhalten. Er sagte, der Arzt hätte ihm von dem Scharlachroten König und den Zenturionen und dem ganzen Rest erzählt.

»Ja«, flüsterte Ralph. Er hatte am ganzen Rücken eine Gänsehaut. »Ja, das hat er gesagt. >Der Arzt hat es mir gesagt. Der kleine kahlköpfige Arzt.<«

Als er zum Fenster zurückkehrte, sah er, daß die Fremden immer noch draußen waren, aber während er nach dem Fernglas gesucht hatte, waren sie von der Verandatreppe auf den Bürgersteig gegangen. In der Tat standen sie direkt unter einer der verdammten orangegelben Lampen. Ralphs Eindruck, daß die Harris Avenue wie eine verlassene Bühnenkulisse nach der abendlichen Vorstellung aussah, stellte sich mit unheimlicher, theatralischer Gewißheit wieder ein… aber mit einer anderen Bedeutung. Zunächst einmal war die Bühne nicht mehr verlassen, oder? Ein geheimnisvolles Schauspiel lange nach Mitternacht hatte seinen Anfang in einem Theater genommen, das die beiden seltsamen Wesen da unten zweifellos für vollkommen menschenleer hielten.

Was würden sie tun, wenn sie wüßten, daß sie ein Publikum haben? fragte sich Ralph. Was würden sie mit mir anstellen?

Die kahlköpfigen Ärzte legten nun das Gebaren von Männern an den Tag, die fast zu einer Einigung gelangt sind. In diesem Augenblick sahen sie für Ralph trotz der Kittel überhaupt nicht nach Ärzten aus - sie sahen aus wie Fabrikarbeiter, deren Schicht im Werk gerade zu Ende gegangen war. Diese beiden Typen, eindeutig gute Kumpels, sind einen Moment vor dem Haupttor stehengeblieben, um ein Thema zu Ende zu bringen, das nicht warten kann, bis sie einen Block weiter zur nächsten Bar gegangen sind, weil sie wissen, daß es in jedem Fall sowieso nur noch etwa eine Minute dauert; völlige Übereinstimmung ist nur noch ein oder zwei Sätze entfernt.

Ralph holte das Fernglas aus seinem Etui, hielt es an die Augen und vergeudete einen oder zwei Augenblicke, als er am Schärfeknopf herumdrehte, bis ihm klar wurde, der Grund, weshalb er nichts sah, war der, daß er vergessen hatte, die Abdeckung von den Linsen zu entfernen. Das holte er nach, und dann hielt er das Fernglas wieder an die Augen. Diesmal schnellten die beiden Gestalten unter der Straßenlaterne sofort in sein Gesichtsfeld, groß und perfekt ausgeleuchtet, aber verschwommen. Ralph drehte den kleinen Knopf zwischen den Linsen, worauf die beiden Gestalten sofort in aller Schärfe zu erkennen waren. Ralph stockte der Atem in der Kehle.

Er konnte nur einen extrem kurzen Blick auf sie werfen, nicht mehr als drei Sekunden vergingen, bis einer der Männer (wenn sie denn Männer waren) nickte und seinem Gefährten eine Hand auf die Schulter legte. Dann wandten sie sich beide ab, und Ralph konnte nur noch ihre kahlen Schädel und die glatten, weiß gekleideten Rücken sehen. Höchstens drei Sekunden, aber Ralph sah in diesem kurzen Augenblick soviel, daß ihm durch und durch mulmig wurde.

Er war das Fernglas aus zwei Gründen holen gegangen, die beide auf seinem Unvermögen beruhten, dies für einen Traum zu halten. Erstens wollte er sicherstellen, daß er die beiden Männer identifizieren konnte, sollte es jemals erforderlich sein. Zweitens (was sich sein bewußter Verstand nur ungern eingestand, was aber deshalb nicht weniger dringend war), er wollte den beunruhigenden Verdacht zerstreuen, daß er es mit seiner eigenen unheimlichen Begegnung der dritten Art zu tun hatte.

Aber statt den Verdacht zu zerstreuen, erhärtete ihn der kurze Blick durch das Fernglas. Die kleinen kahlköpfigen Ärzte schienen gar keine Gesichtszüge zu haben. Sie hatten Gesichter, ja Augen, Nase, Mund -, aber die sahen so austauschbar aus wie verchromte Zierleisten am selben Modell desselben Baujahrs eines Autos. Sie hätten eineiige Zwillinge sein können, aber das war auch nicht der Eindruck, den Ralph hatte. Sie sahen mehr wie Schaufensterpuppen aus, die über Nacht ihre Perücken abgezogen hatten; als wäre ihre unheimliche Ähnlichkeit keine Folge genetischer Zusammenhänge, sondern von Massenproduktion.

Das einzige eigentlich Seltsame, das er herausgreifen und benennen konnte, war das übernatürlich glatte Aussehen ihrer Haut - keiner von ihnen hatte auch nur eine einzige sichtbare Falte oder Runzel. Auch keine Muttermale, Flecken oder Narben, aber Ralph vermutete, daß man so etwas nicht einmal mit einem besonders guten Fernglas erkennen konnte. Abgesehen von der glatten und seltsam faltenlosen Oberfläche der Haut war alles subjektiv. Und er hatte nur einen so gottverdammt kurzen Blick darauf werfen können! Wäre er schneller an das Fernglas herangekommen, ohne das Brimborium mit Stuhl und Fischernetz, und hätte er gleich bemerkt, daß die Linsenabdeckungen noch darauf waren, statt sich an der Schärfeeinstellung zu schaffen zu machen, hätte er sich vielleicht einen Teil oder alles Unbehagen ersparen können, das er jetzt empfand.

Sie sehen wie Skizzen aus, dachte er in dem Augenblick, bevor sie ihm die Rücken zudrehten. Das ist es, was mir so zu schaffen macht, glaube ich. Nicht die identischen kahlen Köpfe, die identischen weißen Kittel oder die fehlenden Falten. Daß sie wie Skizzen aussehen - die Augen nur Kreise, die kleinen Ohren nur Filzstiftkrakel, die Münder zwei rasche, fast achtlose Striche mit Wasserfarben. Sie sehen weder wie Außerirdische noch wie Menschen aus; sie sehen aus wie hastige Abbildungen von… nun, ich weiß auch nicht.

Er wußte nur eines mit Sicherheit: Doc Nr. 1 und Doc Nr. 2 waren beide in helle Auren gehüllt, die durch das Fernglas grüngolden mit rötlich-orangefarbenen Flecken durchwirkt ausgesehen hatten, die glühten wie aufwirbelnde Funken eines Lagerfeuers. Diese Auren hatten ein Gefühl von Kraft und Vitalität vermittelt, was die konturlosen, uninteressanten Gesichter nicht vermocht hatten.

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