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Das war eine Frage, die nicht besonders viel Nachdenken erforderte, fand Ralph. Joe Wyzer hatte Hongs Sekretärin dazu überredet, ihm einen Termin Anfang Oktober freizumachen, und Ralph hatte vor, ihn einzuhalten. Wenn es einen Ausweg aus diesem Dickicht gab, dann wahrscheinlich den, endlich wieder die Nacht durchzuschlafen. Und dafür war Hong der nächste logische Schritt.

»Geschehenes läßt sich nicht ungeschehen machen«, wiederholte er und ging ins Wohnzimmer, um einen seiner Western zu lesen.

Statt dessen blätterte er den Gedichtband cLirch, den Dorrance ihm gegeben hatte - Cemetery Nights von Stephen Dobbyns. Dorrance hatte in beiden Fällen recht gehabt: die Mehrzahl der Gedichte waren wie Geschichten, und Ralph stellte darüber hinaus fest, daß sie ihm wirklich gut gefielen. Das Gedicht, aus dem Dor zitiert hatte, trug den Titel »Pursuit« und begann folgendermaßen:

Was ich auch tue, ich tue es rasch, damit ich etwas anderes tun kann. So verstreichen die Tage… Verschmelzung von Autorennen und dem endlosen Bau einer gotischen Kathedrale. Durch die Fenster meines rasenden Autos sehe ich zurückbleiben, was ich liebe; nichtgelesene Bücher, nichterzählte Witze, nichtbesuchte Landschaften…

Ralph las das Gedicht völlig gefesselt zweimal und überlegte sich, daß er es Carolyn vorlesen müßte. Carolyn würde es gefallen, und noch mehr würde ihr gefallen, daß er, der sonst nur Western und historische Romane las, es gefunden und zu ihr gebracht hatte wie einen Blumenstrauß. Er war schon aufgestanden und suchte einen Fetzen Papier, um die Stelle zu markieren, als ihm einfiel, daß Carolyn schon seit einem halben Jahr tot war, und er fing an zu weinen. Er saß fast fünfzehn Minuten im Ohrensessel, hielt Cemetery Nights auf dem Schoß und wischte sich die Augen mit der linken Hand ab. Schließlich ging er ins Schlafzimmer, legte sich hin und versuchte zu schlafen. Nachdem er eine Stunde die Decke angestarrt hatte, stand er wieder auf, machte sich eine Tasse Kaffee und sah sich ein Collegefootballspiel im Fernsehen an.

Die öffentliche Bibliothek hatte Sonntagnachmittags von eins bis sechs geöffnet, und am Tag nach Dorrance’ Besuch ging Ralph hauptsächlich deshalb dorthin, weil er nichts Besseres zu tun hatte. Normalerweise hätten sich im Lesesaal mit seiner hohen Decke eine ganze Anzahl älterer Männer wie er selbst aufhalten müssen, die die verschiedenen Sonntagszeitungen durchblätterten, für deren Lektüre sie jetzt Zeit hatten, aber als Ralph aus den Regalreihen zurückkehrte, in denen er vierzig Minuten herumgestöbert hatte, stellte er fest, daß er den ganzen Raum für sich allein hatte. Der strahlend blaue Himmel von gestern war einem Dauerregen gewichen, der die frisch gefallenen Blätter auf den Bürgersteigen festklebte oder in die Rinnsteine und in das eigentümliche und unheimlich labyrinthartige Abwassersystem von Derry spülte. Der Wind wehte nach wie vor, hatte aber auf Nord gedreht und eine beißende Schärfe angenommen. Alte Leute mit Verstand (oder Glück) waren zu Hause, wo sie im Warmen sitzen konnten, sahen sich möglicherweise das letzte Spiel einer neuerlich enttäuschenden Saison der Red Sox an, spielten möglicherweise Old Maid oder Candyland mit den Enkeln oder machten möglicherweise nach einer üppigen Hähnchenmahlzeit ein Nickerchen.

Ralph dagegen interessierte sich nicht für die Red Sox, hatte keine Kinder oder Enkel und schien jede Fähigkeit für ein Nickerchen, die er einmal gehabt haben mochte, verloren zu haben. Daher war er mit dem Green Route Bus um dreizehn Uhr zur Bibliothek gefahren, und da war er nun und wünschte sich, er hätte etwas Dickeres als seine alte graue Jacke angezogenes war bitter kalt im Lesesaal. Und düster. Der Kamin war ausgeräumt, und die stummen Heizkörper wiesen deutlich darauf hin, daß die Zentralheizung noch nicht angestellt worden war. Und der Sonntagsbibliothekar hatte sich auch nicht die Mühe gemacht, die Kugeln der Deckenbeleuchtung einzuschalten. Das bißchen Licht, das den Weg von draußen herein fand, schien tot auf den Boden zu fallen, und in den Ecken ballten sich die Schatten. Die Holzfäller und Soldaten und Trommler und Indianer auf den alten Gemälden an den Wänden sahen wie böse Geister aus. Kalter Regen seufzte und prasselte gegen das Fenster.

Ich hätte zu Hause bleiben sollen, dachte Ralph, glaubte es aber selbst nicht; dieser Tage war es noch schlimmer in seinem Apartment. Außerdem hatte er ein interessantes neues Buch in der - wie er sie neuerdings bezeichnete -Sandmännchenabteilung entdeckt: Patterns of Dreaming, von Dr. James A. Hall. Er schaltete die Deckenbeleuchtung selbst ein, was den Raum geringfügig weniger trostlos aussehen ließ, setzte sich an einen der vier langen, leeren Tische und war bald in seine Lektüre versunken.

Vor der Erkenntnis, daß REM-Schlaf und NREM-Schlaf verschiedene Stadien sind, schrieb Hall, führten Studien über Entzug eines bestimmten Schlafstadiums zu Dements Theorie (1960), wonach dieser Entzug… zur Desorganisation der wachen Persönlichkeitführt…

Mann, damit hast du aber recht, mein Freund, dachte Ralph. Man kann nicht mal eine Scheißpackung Cup-A-Soup finden, wenn man eine sucht.

… frühe Studien über Traumentzug führten auch zu der aufregenden Spekulation, daß es sich bei Schizophrenie um eine Störung handeln könnte, bei der Entzug des nächtlichen Träumens zu einem Durchbruch des Traumprozesses ins alltägliche wache Leben handeln könnte.

Ralph hatte die Ellbogen auf die Tischplatte gestützt, die geballten Fäuste an die Schläfen gestützt und kauerte mit gerunzelter Stirn und konzentriert zusammengezogenen Brauen über dem Buch. Er fragte sich, ob Hall, möglicherweise ohne es zu wissen, von den Auren sprach. Aber er hatte doch noch Träume, verdammt - und größtenteils ziemlich deutliche. Erst gestern hatte er einen gehabt, in dem er mit Lois Chasse im alten Derry-Pavillon getanzt hatte (der nicht mehr existierte; er war bei dem großen Sturm vor acht Jahren vernichtet worden, der den größten Teil der Innenstadt dem Erdboden gleichgemacht hatte). Er schien sie mit der Absicht ausgeführt zu haben, ihr einen Antrag zu machen, aber ausgerechnet Trigger Vachon hatte dauernd versucht, sich dazwischenzudrängen.

Er rieb sich die Augen mit den Knöcheln, versuchte, sich zu konzentrieren, und las weiter. Er sah nicht, wie der Mann im ausgebeulten grauen Sweatshirt in der Tür des Lesesaals auftauchte, dort stehenblieb und ihn stumm beobachtete. Nach etwa drei Minuten griff der Mann unter sein Sweatshirt (Charlie Browns Hund Snoopy war mit seiner Joe-Cool-Sonnenbrille darauf abgebildet) und zog ein Jagdmesser aus der Scheide an seinem Gürtel. Die hängenden, kugelförmigen Deckenlampen warfen einen Lichtstrahl an der gezackten Schneide des Messers entlang, als der Mann es herumdrehte und die Schnittkante bewunderte. Dann ging er zu dem Tisch, wo Ralph mit auf die Hände gestütztem Kopf saß. Er setzte sich neben Ralph, der nur ganz am Rande mitbekam, daß jemand gekommen war.

Toleranz gegenüber Schlafverlust variiert etwas mit dem Alter der Testperson. Jüngere Testpersonen zeigen einen früheren Beginn von Störungen und mehr körperliche Reaktionen, während ältere Testpersonen -

Eine Hand legte sich sanft auf Ralphs Schulter und ließ ihn von dem Buch hochschrecken.

»Ich frage mich, wie sie aussehen?« flüsterte ihm eine ekstatische Stimme ins Ohr, und mit den Worten kam ein Schwall Atemluft, die wie verdorbener Speck roch, der langsam in einer Pfanne voll Knoblauch und ranziger Butter schmort. »Deine Eingeweide, meine ich. Ich frage mich, wie sie aussehen, wenn ich sie auf den Boden quellen lasse. Was meinst du dazu, du gottloser babytötender Zenturio? Glaubst du sie sind gelb oder schwarz oder rot oder was?«

Etwas Hartes und Scharfes wurde an Ralphs linke Seite gepreßt und strich dann langsam an den Rippen entlang.

»Ich kann es kaum erwarten, bis ich es herausfinde«, flüsterte die ekstatische Stimme. »Ich kann es kaum erwarten.«

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