Jetzt brauchen wir nur noch Pat, den Zeitungsjungen, und die Show ist perfekt, dachte Ralph. Die letzte Szene von Schlaflos, oder Das Leben der Kurzfristigen in der Harris Avenue, eine Tragikomödie in drei Akten. Alle verbeugen sich und treten nach rechts von der Bühne ab.
Dieser Hund hatte Angst vor Atropos, genau wie Rosalie Nr. 1, und der Hauptgrund, weshalb der kleine kahlköpfige Doc Ralph und Lois nicht gesehen hatte, war der, daß er versuchte, sie am Weglaufen zu hindern, bevor er bereit war. Und da kam Nat den Bürgersteig entlang zu ihrem liebsten Hund auf der ganzen Welt, Ralphs und Lois’ Rosie. Ihr Springseil (drei-sechs-neun die Gans trank Wein) hatte sie über den Arm geschlungen. Sie sah unglaublich schön und unglaublich verwundbar aus in ihrer Matrosenbluse und den blauen Shorts. Ihre Zöpfe wippten.
Es passiert zu schnell, dachte Ralph. Alles passiert viel zu schnell.
[Ganz und gar nicht, Ralph! Vor fünf Jahren haben Sie es prima gemacht; Sie werden es jetzt auch prima machen. Gott liebt Sie… und jetzt halten Sie Ihr Versprechen.]
Das hörte sich nach Klotho an, aber er hatte keine Zeit, sich zu vergewissern. Ein grünes Auto fuhr langsam aus der Richtung des Flughafens die Harris Avenue entlang; es fuhr mit der quälenden Vorsicht, die normalerweise darauf schließen ließ, daß entweder ein sehr alter oder ein sehr junger Mensch am Steuer saß. Quälende Vorsicht hin oder her, es war zweifellos das Auto; eine schmutzige Membran hing wie ein Leichentuch darüber.
Das Leben ist ein Rad, dachte Ralph, und er überlegte sich, daß ihm dieser Gedanke nicht zum erstenmal kam. Früher oder später kommt alles, das man hinter sich gelassen zu haben glaubt, wieder zum Vorschein. Ob gut oder schlecht, es kommt wieder zum Vorschein.
Rosie unternahm einen weiteren vergeblichen Versuch, die Freiheit zu erlangen, und als Atropos sie zurückriß, kniete Nat sich vor sie hin und streichelte sie. »Hast du dich verirrt, Mädchen? Bist du alleine rausgekommen? Das macht nichts, ich bring dich nach Hause.« Sie umarmte Rosie, ihre kleinen Ärmchen gingen durch die Arme von Atropos, ihr kleines, hübsches Gesicht war nur Zentimeter von seinem häßlichen, grinsenden entfernt. Dann stand sie auf. »Komm mit, Rosie. Komm mit, Hündchen.«
Als Nat losging, blieb Rosalie ihr unmittelbar auf den Fersen, drehte sich noch einmal zu dem grinsenden Mann um und winselte nervös. Auf der anderen Seite der Harris Avenue kam Helen aus dem Red Apple, und damit war die letzte Bedingung der Vision, de Atropos Ralph gezeigt hatte, erfüllt. Helen hielt einen Laib Brot in der Hand. Die Red-Sox-Mütze hatte sie auf dem Kopf.
Ralph zog Lois in seine Arme und küßte sie innig. »Ich liebe dich von ganzem Herzen«, sagte er. »Vergiß das nicht, Lois.«
»Das weiß ich«, sagte sie ruhig. »Und ich liebe dich. Darum kann ich nicht zulassen, daß du es tust.«
Sie schlang Arme wie Eisenbänder um seinen Hals, und er spürte ihre Brüste an seinem Körper, als sie so tief Luft holte, wie sie nur konnte.
»Geh weg, du elender kleiner Dreckskerl!« schrie sie. »Ich kann dich nicht sehen, aber ich weiß, daß du da bist! Geh weg! Geh weg und laß uns in Ruhe!«
Natalie blieb wie angewurzelt stehen und sah Lois mit großen, überraschten Augen an. Rosalie blieb neben ihr stehen und spitzte die Ohren.
»Geh nicht auf die Straße, Nat!« rief Lois ihr zu. »Geh nicht -« Dann hielten ihre Hände, die sie in Ralphs Nacken verschränkt hatte, plötzlich gar nichts mehr, ihre Arme, die einen unnachgiebigen Klammergriff bildeten, waren leer.
Er hatte sich in Luft aufgelöst.
Atropos sah in die Richtung, aus der der Warnschrei gekommen war, und erblickte Ralph und Lois, die auf der anderen Seite der Harris Avenue standen. Wichtiger, er stellte fest, daß Ralph ihn sehen konnte. Er riß die Augen auf und fletschte die Lippen zu einem haßerfüllten Fauchen. Eine Hand flog zu seinem kahlen Schädel, der unter der Mütze von alten Narben bedeckt war, die er mit seinem eigenen Skalpell zugefügt bekommen hatte - eine instinktive schützende Geste, die fünf Jahre zu spät kam.
[Hol dich der Teufel, Kurzer! Das kleine Biest gehört mir!] Ralph sah Nat, die Lois unsicher und überrascht anblickte. Er hörte, wie Lois ihr zurief, sie sollte nicht auf die Straße gehen. Dann hörte er Lachesis, der ganz in der Nähe sprach. [Kommen Sie herauf, Ralph! Soweit Sie können! Schnell!] Er spürte den Krampf mitten in seinem Kopf, spürte das kurze Schwindelgefühl im Magen, und plötzlich wurde die ganze Welt hell und füllte sich mit Farben. Er spürte halb und sah halb, wie Lois’ Arme und verschränkten Hände an der Stelle in sich zusammenfielen, wo sich sein Körper noch vor einem Augenblick befunden hatte, und dann wich er vor ihr zurück -nein, wurde von ihr weggezogen. Er spürte den Sog einer gewaltigen Strömung und begriff ein wenig verschwommen: Wenn es so etwas wie den Höheren Plan gab, dann hatte er ihn jetzt erreicht und würde bald mit ihm stromabwärts gerissen werden.
Natalie und Rosalie standen direkt vor dem Haus, das sich Ralph einmal mit Bill McGovern geteilt hatte, bevor er es verkauft hatte und in Lois’ Haus gezogen war. Nat sah zweifelnd zu Lois, dann winkte sie. »Alles in Ordnung, Lois -schau, sie ist hier bei mir.« Sie tätschelte Rosalies Kopf. »Ich bring sie sicher rüber, keine Bange.« Als sie auf die Straße trat, rief sie ihrer Mutter zu: »Ich kann meine Baseballmütze nicht finden! Ich glaube, jemand hat sie gestehlt!«
Rosalie stand immer noch auf dem Bürgersteig. Nat drehte sich ungeduldig zu ihr um. »Komm schon, Mädchen!«
Das grüne Auto fuhr auf das Kind zu, aber sehr langsam. Zuerst schien keine Gefahr zu bestehen. Ralph erkannte den Fahrer sofort, und er zweifelte nicht an seinen Sinnen oder glaubte an eine Halluzination. In diesem Augenblick schien es völlig richtig zu sein, daß die allmählich näherkommende Limousine von seinem ehemaligen Zeitungsjungen gefahren wurde.
»Natalie!« schrie Lois. »Natalie, nein!«
Atropos schoß nach vorne und versetzte Rosalie Nr. 2 einen heftigen Schlag.
[Verschwinde, Köter! Los! Bevor ich’s mir anders überlege!]
Atropos hatte einen letzten höhnischen Blick für Ralph übrig, als Rosie kläffte und auf die Straße lief… und vor den Ford, den der sechzehnjährige Pat Sullivan fuhr.
Natalie sah das Auto nicht; sie sah zu Lois, deren Gesicht rot und erschrocken war. Plötzlich fiel Nat ein, daß Lois vielleicht gar nicht wegen Rosie schrie, sondern wegen etwas ganz anderem.
Pat registrierte den laufenden Beagle; das kleine Mädchen sah er nicht. Er schwenkte, um Rosalie auszuweichen, ein Manöver, das damit endete, daß der Ford direkt auf Natalie zufuhr. Ralph konnte zwei ängstliche Gesichter hinter der Windschutzscheibe sehen, als das Auto herumgerissen wurde, und er glaubte, daß Mrs. Sullivan schrie.
Atropos hüpfte auf und ab und schlug sich auf die Schenkel wie ein Seemann, der einen Hornpipe tanzt.
[Jaaaa, Kurzer! Dummer weißhaariger Trottel! Ich hob dir ja gesagt, ich werd’s dir zeigen!]
Helen ließ den Laib Brot, den sie trug, in Zeitlupe fallen. »Natalie, PASS AUUUUUUF!« schrie sie.
Ralph lief los. Wieder hatte er den deutlichen Eindruck, als würde er sich allein kraft seiner Gedanken bewegen. Und als er mit ausgestreckten Händen auf Nat zurannte und das Auto sah, das unmittelbar hinter ihr war, während ihm durch das Leichentuch grelle Sonnenstrahlen in die Augen fielen, verkrampfte er seinen Geist wieder und sank zum letztenmal auf die Ebene der Kurzfristigen zurück.
Er fiel in eine Landschaft, in der abgehackte Schreie ertönten: Der von Helen vermischte sich mit dem von Lois, der sich mit denen der Reifen des Ford vermischte. Und wie der wilde Trieb einer Ranke wand sich der Jubel von Atropos durch alle hindurch. Ralph sah ganz kurz Nats aufgerissene blaue Augen, dann stieß er sie so fest er konnte in Brust und Bauch, so daß sie mit rudernden Händen und Füßen nach hinten flog. Sie landete aufrecht sitzend im Rinnstein und stieß sich den Steiß am Bordstein an, brach sich aber nichts. Von einem fernen Ort hörte Ralph Atropos voller Wut und Fassungslosigkeit kreischen.