Unsere Lois, sagte er oft und lachte. Lois tat so, als wäre sie verärgert darüber, aber sie tat immer nur so; sie sah den Ausdruck in seinen Augen, wenn er es sagte.
An ihrem ersten Weihnachtsmorgen als Mann und Frau (sie waren in Lois’ hübsches kleines Haus gezogen und hatten das weiße Monstrum von Ralph zum Verkauf angeboten), schenkte Lois ihm einen Beaglewelpen. »Magst du sie?« fragte sie zaghaft. »Ich hätte sie fast nicht bekommen. Dear Abby sagt, man soll niemals Tiere verschenken, aber sie sah so süß im Fenster der Tierhandlung aus… und so traurig… wenn du sie nicht magst oder nicht den Rest des Winters damit verbringen willst, einen Welpen stubenrein zu machen, sag es einfach. Wir werden schon jemand -«
»Lois«, sagte er und zog seine Braue, wie er hoffte, so ironisch hoch wie Bill, »du stammelst.«
»Wirklich?«
»Wirklich. Das tust du immer, wenn du nervös bist, aber jetzt kannst du aufhören, nervös zu sein. Ich bin vernarrt in diese Dame.« Und das war nicht übertrieben; er hatte sich fast auf der Stelle in die schwarzbraune Beaglehündin verliebt.
»Wie willst du sie nennen?« fragte Lois. »Schon eine Ahnung?«
»Klar«, sagte Ralph. »Rosalie.«
Die nächsten fünf Jahre waren im großen und ganzen auch für Helen und Nat Deepneau gute Jahre. Sie lebten eine Weile in ärmlichen Verhältnissen an der Fast Side und kamen gerade so mit Helens Gehalt als Bibliothekarin über die Runden, aber mehr auch nicht. Das kleine Cape Cod in der Nähe von Ralphs Haus war verkauft worden, aber der Erlös reichte gerade aus, um offene Rechnungen zu bezahlen. Dann, im Juni 1994, empfing Helen einen warmen Regen von der Versicherung… aber der Regenmacher war in Wirklichkeit John Leydecker.
Die Great Eastem Versicherungsgesellschaft hatte sich zunächst geweigert, Ed Deepneaus Lebensversicherung auszubezahlen, weil er sich selbst das Leben genommen hatte. Nachdem sie eine Zeitlang großes Theater gemacht und die Firmenmuskeln hatten spielen lassen, boten sie schließlich einen anständigen Vergleich an. Dazu wurden sie von einem Pokerkumpel von John Leydecker namens Howard Hayman überredet. Wenn er nicht Lowball, Stud oder Draw-Poker spielte, war Hayman Anwalt, dem es gefiel, Versicherungsgesellschaften zum Frühstück zu verspeisen.
Leydecker hatte Helen im Februar 1994 kennengelernt, war sofort von ihr fasziniert (»Es war nie richtig Liebe«, sagte er später zu Ralph und Lois, »was wahrscheinlich auch gut so war, wenn man bedenkt, wie alles gekommen ist«) und hatte sie Hayman vorgestellt, weil er glaubte, daß die Versicherungsgesellschaft sie übers Ohr hauen wollte. »Er war verrückt, kein Selbstmörder«, sagte Leydecker und blieb noch lange dabei, nachdem Helen ihm den Hut gebracht und ihm die Tür gewiesen hatte.
Als sie mit einem Prozeß rechnen mußten, bei dem Howard Hayman die Great Eastern hinstellen wollte wie Snidely Whiplash, der Little Nell an die Eisenbahnschienen fesselt, hatte Helen einen Scheck über siebzigtausend Dollar bekommen. Im Spätherbst des Jahres 1994 kaufte sie mit dem größten Teil dieses Geldes ein Haus in der Harris Avenue, nur drei Häuser von ihrem alten Wohnsitz entfernt und direkt gegenüber von Harriet Bennigan.
»Ich habe mich an der Hast Side nie richtig wohlgefühlt«, erzählte sie Lois an einem Novembertag dieses Jahres. Sie waren auf dem Rückweg vom Park, und Natalie saß zusammengesunken und schlafend in ihrem Wagen, nicht mehr als eine rosa Nasenspitze und eine Kondenswolke aus Atemluft unter einer großen Skimütze, die Lois selbst gestrickt hatte. »Ich habe von der Harris Avenue geträumt. Ist das nicht verrückt?«
»Ich glaube nicht, daß auch nur ein einziger Traum verrückt ist«, antwortete Lois.
Helen und John Leydecker gingen fast den ganzen Sommer über miteinander aus, aber weder Ralph noch Lois waren besonders überrascht, als die Romanze nach dem Labor Day unvermittelt zu Ende ging oder als Helen eine diskrete, dreieckige rosa Anstecknadel an ihrer gestärkten Bibliothekarinnenbluse mit dem hohen Kragen trug. Vielleicht waren sie nicht überrascht, weil sie so alt waren, daß sie alles mindestens einmal gesehen hatten, oder weil sie auf einer anderen Ebene immer noch die Auren sahen, die alles umgaben und einen hellen Durchgang zu einer heimlichen Stadt versteckter Bedeutungen, verborgener Motive und trügerischer Tagesabläufe bildeten.
Ralph und Helen machten ab und zu den Babysitter bei Natalie, als Helen wieder in der Harris Avenue wohnte, und diese Abende bereiteten ihnen außerordentliches Vergnügen. Nat war das Kind, das aus ihrer Ehe hervorgegangen sein könnte, wäre sie dreißig Jahre früher zustande gekommen, und der kälteste und wolkenverhangenste Wintertag wurde warm und hell, wenn Natalie hereingetappst kam, die in ihrem gesteppten rosa Schneeanzug, an dessen Ärmeln die Fäustlinge herunterhingen, wie eine zwergenhafte Version des Michelin-Männchens aussah und fröhlich rief: »Hi, Walf! Hi, Roliss! Ich bin zu Vesuv gekommen!«
Im Juni 1995 kaufte Helen einen gebrauchten Volvo. Auf das Heck klebte sie einen Sticker mit der Aufschrift EINE FRAU OHNE MANN IST WIE EIN FISCH OHNE FAHRRAD. Auch das überraschte Ralph nicht besonders, aber wenn er den Sticker sah, fühlte er sich immer unglücklich. Manchmal dachte er, Eds schlimmstes Vermächtnis an seine Witwe ließe sich in diesem kurzen, nicht besonders komischen Spruch zusammenfassen, und wenn er ihn sah, mußte Ralph oft daran denken, wie Ed an dem Nachmittag ausgesehen hatte, als er, Ralph, vom Red Apple zu ihm gegangen war, um ihn zur Rede zu stellen. Wie Ed ohne Hemd in dem Sprühregen des Rasensprengers gesessen hatte. An den kleinen Blutstropfen auf einem Brillenglas. Wie er sich nach vorne gebeugt, Ralph mit seinen ernsten, intelligenten Augen angesehen und gesagt hatte, wenn die Dummheit ein gewisses Maß erreicht habe, könne man schwer damit leben.
Und danach hat alles angefangen, dachte Ralph dann manchmal. Aber was genau angefangen hatte, daran konnte er sich nicht mehr erinnern, was allerdings wahrscheinlich auch nicht schlimm war. Aber dieses Aussetzen der Erinnerung (wenn es sich denn darum handelte) änderte nichts an seiner Überzeugung, daß Helen auf eine dunkle Weise betrogen worden war… daß ein übellauniges Schicksal ihr eine Blechdose an den Schwanz gebunden hatte, und sie wußte es nicht einmal.
Einen Monat nachdem Helen ihren Volvo gekauft hatte, erlitt Faye Chapin einen Herzanfall, während er an einer vorläufigen Teilnehmerliste für das Startbahn Drei Classic dieses Herbstes arbeitete. Er wurde ins Derry Home Hospital gebracht, wo er sieben Stunden später starb. Ralph besuchte ihn kurz vor dem Ende, und als er die Nummer an der Tür sah - 215 - überkam ihn ein überwältigendes Gefühl von deja vu. Zuerst glaubte er, es läge daran, daß Carolyns Krankheit auf diesem Flur ihr Ende genommen hatte, aber dann fiel ihm ein, daß auch Jimmy V. in genau diesem Zimmer gestorben war. Er und Lois hatten Jimmy kurz vor dem Ende besucht, und Ralph glaubte, daß Jimmy sie beide erkannt hatte, war aber nicht mehr sicher; seine Erinnerungen an die Zeit, als ihm Lois zum erstenmal richtig aufgefallen war, waren verschwommen und nebulös. Er vermutete, daß daran teilweise die Liebe schuld war, und teilweise, daß er in die Jahre kam, am meisten aber die Schlaflosigkeit - in den Monaten nach Carolyns Tod hatte er wirklich sehr darunter gelitten, aber mit der Zeit war sie verschwunden, wie das bei solchen Dingen eben manchmal geht. Dennoch schien ihm, als hätte sich etwas
([hallo Frau, hallo Mann, wir haben auf euch gewartet]) mehr als Außergewöhnliches in diesem Zimmer zugetragen, und als er Fayes trockene, kraftlose Hand nahm und in Fayes ängstliche, verwirrte Augen sah, kam ihm ein seltsamer Gedanke: Sie stehen genau da drüben in der Ecke und beobachten uns.
Er sah hinüber. Selbstverständlich stand niemand in der Ecke, aber einen Augenblick… nur einen Augenblick…
Das Leben in den Jahren von 1993 bis 1998 ging seinen Gang, wie es in Städten wie Derry immer der Fall ist: Aus den Knospen des April wurden die trockenen, fallenden Blätter des Oktober; Mitte Dezember wurden Weihnachtsbäume in die Häuser getragen und in der ersten Januarwoche mit Resten von Lametta, die noch traurig an den Zweigen hingen, wieder mit den Müllwagen abtransportiert; Babys kamen zum Eingang herein, und alte Leute gingen durch den Ausgang hinaus. Manchmal gingen auch Menschen im besten Alter durch den Ausgang hinaus.