Die unterschiedlichen Auren der Gegenstände in diesem Lagerhaus waren zwar verblaßt wie der Duft zwischen den Seiten eines Buchs gepreßter Blüten, aber unter dem Gestank von Atropos existierten sie noch, und auf dieser Stufe der Wahrnehmung, wo ihre sämtlichen Sinne hellwach und empfänglich waren, war es unmöglich, sie nicht zu spüren und von ihnen beeinflußt zu sein. Die stummen Erinnerungen an die Opfer des Zufalls waren schrecklich und mitleiderregend zugleich. Ralph wurde klar, daß dieser Ort hier mehr als ein Museum oder der Bau einer Packratte war; er war eine profane Kirche, wo Atropos seine Version des Abendmahls einnahm -Kummer statt Brot, Tränen statt Wein.
Ihr Hindernislauf durch die schmalen, zickzackförmigen Reihen war ein schreckliches, zermürbendes Erlebnis. Hinter jeder nicht ganz ziellosen Biegung warteten hundert weitere Objekte, von denen Ralph wünschte, er hätte sie nie gesehen und würde sich nie daran erinnern; jedes verlieh seinem eigenen leisen Aufschrei des Schmerzes und der Bestürzung Ausdruck. Er mußte sich nicht fragen, ob Lois seine Empfindungen teilte - sie schluchzte in einem fort leise neben ihm.
Da war der zerschrammte Flexible-Flyer-Schlitten eines Kindes, an dessen Lenkstange noch das Seil zum Ziehen geknotet war. Der Junge, dem er gehört hatte, war an einem kalten Januartag des Jahres 1953 an Krämpfen gestorben.
Da lag der Tambourstab einer Majorette, dessen Schaft in purpurne und weiße Kreppspiralen gewickelt war - die Farben der Grant Academy. Sie war im Herbst 1967 vergewaltigt und mit einem Stein totgeschlagen worden. Ihr Mörder, den man nie gefaßt hatte, hatte den Leichnam in eine kleine Höhle geschafft, wo ihre Gebeine - zusammen mit denen von zwei weiteren unglücklichen Opfern - immer noch lagen.
Hier lag die Kameenbrosche einer Frau, die von einem herabfallenden Ziegelstein erschlagen worden war, als sie die Main Street entlang ging, um die neueste Ausgabe von Vogue zu kaufen; hätte sie ihr Haus dreißig Sekunden früher oder später verlassen, wäre ihr nichts geschehen.
Dort lag der Hirschfänger eines Mannes, der 1937 bei einem Jagdunfall ums Leben gekommen war.
Da der Kompaß eines Pfadfinders, der bei einem Ausflug auf den Mount Katahdin gestürzt war und sich das Genick gebrochen hatte.
Der Turnschuh eines kleinen Jungen namens Gage Creed, den ein zu schnell fahrender Tanklaster auf der Route 15 in Ludlow überfahren hatte.
Ringe und Zeitschriften; Schlüsselanhänger und Regenschirme; Hüte und Brillen; Rasseln und Radios. Alle sahen verschieden aus, aber für Ralph waren sie ausnahmslos eines: die schwachen, kläglichen Stimmen von Menschen, die in der Mitte des zweiten Akts aus dem Drehbuch gestrichen worden waren, während sie noch ihren Text für den dritten lernten; Menschen, die ohne große Umstände abgeholt worden waren, bevor ihre Arbeit getan oder ihre Verpflichtungen erfüllt waren; Menschen, deren einziges Verbrechen es war, unter dem Stern des Zufalls geboren worden zu sein… und die Aufmerksamkeit des Irren mit dem rostigen Skalpell auf sich gelenkt zu haben.
Lois, schluchzend: [»Ich hasse ihn! Ich hasse ihn so sehr!«]
Er wußte, was sie meinte. Es war eines, Klotho und Lachesis zuzuhören, wenn sie sagten, daß Atropos ebenfalls in den größeren Rahmen gehörte, daß er vielleicht sogar selbst irgend einem höheren Plan diente, aber etwas völlig anderes, die verblaßte Red-Sox-Mütze eines kleinen Jungen zu sehen, der in ein zugewachsenes Kellerloch gefallen und im Dunkeln gestorben war, unter Schmerzen gestorben, und ohne Stimme, nachdem er sechs Stunden lang nach seiner Mutter geschrien hatte.
Ralph streckt die Hand aus und berührte die Mütze ganz kurz. Billy Weatherbee hatte ihr Besitzer geheißen. Sein letzter Gedanke war der an Eiscreme gewesen.
Ralph drückte Lois’ Hand.
[»Ralph, was ist los? Ich kann dich denken hören - ich bin ganz sicher -, aber es ist, als würde ich jemandem zuhören, der unterdrückt flüstert.«]
[»Ich habe nur gedacht, daß ich dem kleinen Mistkerl gerne eins auswischen möchte. Vielleicht könnten wir ihm zeigen, wie es ist, wenn man nachts wach liegt. Was meinst du?«]
Sie drückte seine Hand ebenfalls fester. Mehr brauchte Ralph nicht als Antwort.
Sie kamen zu einer Stelle, wo der schmale Gang, dem sie folgten, sich teilte. Das leise, konstante Summen kam aus dem linken und war, wie es sich anhörte, nicht mehr weit entfernt. Es war jetzt unmöglich für sie, Seite an Seite zu gehen, und als sie sich dem Ende näherten, wurde der Gang noch schmaler. Ralph mußte schließlich seitwärts weitergehen.
Die rötliche Ausscheidung, die Atropos hinterließ, war hier besonders dick, tropfte an den Souvenirstapeln herunter und bildete kleine Pfützen auf dem gestampften Sandboden. Lois hielt seine Hand jetzt so fest, daß es wehtat, aber Ralph beschwerte sich nicht.
[»Wie beim Bürgerzentrum, Ralph - er verbringt eine Menge Zeit hier.«]
Ralph nickte. Die Frage war, wenn Mr. A. diesen Weg entlang kam, was wollte er sich ansehen… verdammt, womit wollte er kommunizieren? Sie näherten sich jetzt dem Ende des Gangs -er wurde von einer soliden Mauer aus Plunder versperrt -, aber er konnte immer noch nicht sehen, was das Summen erzeugte, das ihn allmählich verrückt machte; es war, als würde ihm eine Pferdebremse direkt durch den Kopf fliegen. Als sie sich dem Ende des Durchgangs näherten, wuchs seine Überzeugung, daß das, wonach sie suchten, sich auf der anderen Seite der Barriere aus Plunder befinden mußte - sie würden entweder umkehren und sich einen anderen Weg suchen oder durchbrechen müssen. Beides konnte mehr Zeit erfordern, als sie sich leisten konnten. Ralph verspürte eine nagende, unterschwellige Verzweiflung.
Aber der Korridor bildete keine Sackgasse; auf der linken Seite befand sich ein Durchschlupf unter einem Eßzimmertisch, auf dem sich Geschirr und Stapel grünen Papiers türmten und -
Grünes Papier? Nein, nicht ganz. Stapel von Banknoten. Zehner, Zwanziger und Fünfziger türmten sich wahllos auf den Tellern. Hunderter waren in eine gesprungene Sauciere gedrückt worden, ein zusammengerollter Fünfhundertdollarschein steckte wie betrunken in einem staubigen Weinglas.
[»Ralph! Mein Gott, das ist ein Vermögen!«]
Sie betrachtete nicht den Tisch, sondern die andere Wand der Passage. Die letzten eineinhalb Meter bestanden aus gebündelten grünen Backsteinen aus Geld, und Ralph wurde klar, daß sich damit eine weitere Frage beantwortete, die ihn beschäftigt hatte: woher Ed seine Knete hatte. Atropos konnte darin baden… aber Ralph vermutete, daß der kleine glatzköpfige Wichser trotzdem Probleme haben würde, sich mit einem Mädchen zu verabreden.
Er bückte sich, damit er den Durchschlupf unter dem Tisch besser sehen konnte. Auf der anderen Seite schien eine sehr kleine Kammer zu liegen. Träges rotes Leuchten pulsierte in dem Kämmerchen wie das Schlagen eines Herzes. Es warf einen unangenehmen roten Schimmer auf ihre Schuhe.
Ralph zeigte darauf, dann sah er Lois an. Sie nickte. Er ließ sich auf die Knie sinken und kroch unter dem mit Geld beladenen Tisch durch in den Schrein, den Atropos um das Ding herum gebaut hatte, das mitten auf dem Boden lag. Deshalb waren sie hergeschickt worden, daran hatte Ralph nicht den geringsten Zweifel, aber er hatte immer noch keine Ahnung, was es eigentlich war. Der Gegenstand, nicht größer als eine Murmel, wie Kinder sie »Klicker« nennen, war in ein Leichentuch gehüllt, so undurchdringlich wie das Zentrum eines schwarzen Lochs.
Oh, prima - klasse. Was nun?
[»Ralph! Hört du den Gesang? Er ist ganz leise.«]
Er sah sie zweifelnd an, dann drehte er sich um. Er haßte diesen engen Raum bereits, und obwohl er nicht an Klaustrophobie litt, spürte er nun, wie sich der panische Wunsch, hier zu verschwinden, in seine Gedanken stahl. Eine deutliche Stimme meldete sich in seinem Kopf zu Wort. Das will ich nicht nur, Ralph; das muß ich. Ich werde mich bemühen, bei dir zu bleiben, aber wenn du nicht bald zu Ende bringst, was du hier tun sollst, spielt es keine Rolle mehr, was einer von uns beiden will - dann werde ich einfach das Ruder übernehmen und abhauen, als wäre der Teufel hinter mir her.