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»Spiel nicht mit Chuckie«, pflegte Ralphs Mutter zu sagen. »Er ist ein schmutziger Junge. Ralph wußte nicht, ob Chuckie ein schmutziger Junge war oder nicht, aber er war total Banane, das stand fest. Chuckie Engstrom versteckte sich gerne mit einem langen Zweig, den er seinen »Spickestab« nannte, hinter dem Baum im Vorgarten seines Hauses. Wenn eine Frau im Rock vorbeikam, schlich Chuckie ihr auf Zehenspitzen hinterher, steckte den Zweig unter den Rocksaum und hob ihn hoch. Meistens konnte er die Farbe der Unterwäsche erkennen (die Farbe von Damenunterwäsche faszinierte Chuckie ungeheuer), bis ihnen klar wurde, was vor sich ging, und sie den hysterisch kichernden Jungen bis zu seinem Haus verfolgten und drohten, sie würden es seiner Mutter erzählen. Der Flughafenzaun, den die Wurzeln der alten Eiche aus dem Boden gezogen und nach oben gedrückt hatten, erinnerte Ralph daran, wie die Röcke von Chuckies Opfern ausgesehen hatten, wenn er sie mit seinem Spickestab hochgehoben hatte.

[»Ralph?«]

Er sah sie an.

[»Wer ist Biggy Stab? Und warum denkst du ausgerechnet jetzt an sie?«]

Ralph prustete vor Lachen.

[»Hast du das in meiner Aura gesehen?«]

[»Wahrscheinlich - ich kann es nicht mehr sagen. Wer ist sie?«]

[»Erzähl ich dir ein andermal. Komm jetzt.«]

Er nahm ihre Hand, dann gingen sie langsam auf die Eiche zu, wo Atropos’ Spur aufhörte, und in den immer stärkeren Fäulnisgeruch hinein, der seine Duftnote war.

Kapitel 25

Sie standen am Fuß der Eiche und sahen nach unten. Lois nagte zwanghaft an ihrer Unterlippe.

[»Müssen wir da runter, Ralph? Müssen wir wirklich?«]

[»Ja.«]

[»Aber warum? Was sollen wir tun? Atropos aussperren? Den Bau niederbrennen? Etwas zurückholen, das er gestohlen hat? Ihn töten? Was?«]

Er wußte es nicht davon abgesehen, daß er Joes Kamm und Lois’ Ohrringe wiederhaben wollte… aber er war sicher, er würde es wissen, sie beide würden es wissen, wenn der Zeitpunkt gekommen war.

[»Ich glaube, im Augenblick sollten wir einfach nur in Bewegung bleiben, Lois.«]

Der Blitz hatte wie eine kräftige Hand gewirkt, den Baum brutal nach Osten gestoßen und gleichzeitig ein klaffendes Loch am Wurzelansatz der Westseite gerissen. Für einen Mann oder eine Frau mit dem Sehvermögen der Kurzfristigen hätte dieses Loch zweifellos dunkel ausgesehen - und mit seinen abbröckelnden Rändern und den kaum sichtbaren Wurzeln, die sich im Inneren wanden wie Schlangen, vielleicht ein wenig furchteinflößend, aber ansonsten nicht besonders ungewöhnlich.

Ein Kind mit einer ausgeprägten Phantasie würde vielleicht mehr sehen, dachte Ralph. Der dunkle Raum unter dem Baumstamm weckt vielleicht Gedanken an Piratenschätze… Verstecke von Banditen… die Höhle eines Trolls…

Aber Ralph glaubte, daß nicht einmal das phantasievollste Kind das düstere rote Leuchten würde sehen können, das unter dem Baum hervordrang, oder daß die zuckenden Wurzeln in Wirklichkeit holperige Sprossen waren, die an einen unbekannten (und zweifellos unerfreulichen) Ort hinabführten.

Nein - nicht einmal ein phantasievolles Kind würde das sehen… aber möglicherweise spüren.

Richtig. Und wenn es genügend Verstand hatte, würde es weglaufen als wären ihm sämtliche Dämonen der Hölle auf den Fersen. Wie er und Lois, wenn sie der Vernunft gehorchen würden. Wären da nicht Lois’ Ohrringe. Wäre da nicht Joe Wyzers Kamm. Wäre da nicht sein eigener verlorener Platz im Plan. Und wären da selbstverständlich nicht Helen (und möglicherweise Nat) und die zweitausend anderen, die sich heute abend im Bürgerzentrum aufhalten würden. Lois hatte recht. Sie mußten etwas tun, und wenn sie jetzt kniffen, würde dieses Etwas für immer ungeschehenes Geschehen bleiben.

Und das sind die Seile, dachte er. Die Seile, mit denen die Mächtigen uns arme, verwirrte kurzfristige Kreaturen an ihr Rad fesseln.

Er stellte sich Klotho und Lachesis nun durch eine helle Linse des Hasses vor, und er dachte, wenn die beiden jetzt hier wären, hätten sie einen ihrer unsicheren Blicke gewechselt und wären einen Schritt oder zwei zurückgewichen.

Und dazu hätten sie einen Grund gehabt, dacht er. Allen Grund.

[»Ralph? Was ist los? Warum bist du so wütend?«]

Er hob ihre Hand an die Lippen und küßte sie.

[»Nichts weiter. Komm mit. Gehen wir, bevor wir den Mut verlieren.«]

Sie sah ihn noch einen Moment an, dann nickte sie. Und als Ralph die Beine in das klaffende, mit Wurzeln eingefaßte Loch am Fuß des Baums steckte, war sie direkt neben ihm.

Ralph rutschte auf dem Rücken unter den Baum und hielt die freie Hand vor das Gesicht, damit ihm keine Erde in die offenen Augen fiel. Er versuchte, nicht zusammenzuzucken, wenn Wurzeln ihm über den Hals strichen oder sich ihm in den Rücken bohrten. Der Geruch unter dem Baum war so durchdringend, daß man ihn fast greifen konnte, ein abstoßender Affenhausgestank, bei dem einem kotzübel wurde. Er konnte sich einreden, daß er sich daran gewöhnen würde, bis er ganz unter dem Loch in der Eiche war, doch dann ging es nicht mehr. Er stützte sich auf einen Ellbogen und spürte, wie kleinere Wurzeln nach seiner Kopfhaut griffen und baumelnde Rindenstücke ihm die Wangen streichelten, und dann gab er das gesamte Frühstück von sich, das sich noch im Vorratstank befand. Er konnte hören, wie Lois links von ihm seinem Beispiel folgte.

Eine schrecklicher, von Schwindel begleiteter Schwächeanfall schlug über ihm zusammen wie eine Welle am Strand. Der Gestank war so überwältigend, daß er ihn fast zu essen schien, und er konnte die rote Substanz, der sie zu diesem Ort des Grauens unter dem Baum gefolgt waren, überall auf seinen Händen und Armen sehen. Es war schlimm gewesen, das Zeug nur anzusehen; jetzt badete er regelrecht darin, um Gottes willen.

Etwas griff nach seiner Hand, und er ließ sich fast von seiner Panik überwältigen, bis ihm klar wurde, daß es Lois war. Er verschränkte seine Finger mit ihren.

[»Ralph, du mußt ein Stückchen emporsteigen! Dann ist es besser! Du kannst atmen!«]

Er begriff sofort, was sie meinte, und mußte sich zurückhalten, sich im letzten Moment wieder tiefer sinken lassen. Hätte er das nicht getan, wäre er wie eine Rakete mit vollem Schub die Leiter der Wahrnehmung hinaufgeschossen.

Die Welt flackerte, und plötzlich schien etwas mehr Licht in diesem stinkenden Loch zu sein… und auch etwas mehr Platz. Der Geruch verschwand nicht, aber er wurde erträglich. Jetzt war es, als hielte man sich in einem kleinen Zelt voller Leute mit schmutzigen Füßen und Achselschweiß auf - nicht angenehm, aber man konnte damit leben, jedenfalls eine Weile.

Ralph stellte sich plötzlich das Zifferblatt einer Taschenuhr vor, deren Zeiger sich rasch bewegten. Ohne den erstickenden Geruch war es besser, aber dennoch blieb es ein gefährlicher Aufenthaltsort - angenommen, sie kämen erst morgen früh hier wieder heraus, und das Bürgerzentrum wäre nur noch ein rauchendes Loch an der Main Street? Und das war nicht ausgeschlossen. Hier unten war es unmöglich, die Zeit zu messen - kurzfristig, langfristig oder wie auch immer. Der Gedanke an sich war ein Witz.

Laß gut sein, Ralph-du kannst nichts dagegen tun, und du mußt atmen, also laß es gut sein.

Er versuchte es, und dabei fiel ihm ein, daß der alt Dor am Tag, als Ed mit dem Lastwagen von Mr. West Side Gardeners zusammengestoßen war, hundertprozentig recht gehabt hatte; es war besser, sich nicht in langfristige Geschäfte einzumischen. Und doch waren sie hier, der älteste Peter Pan und die älteste Wendy der Welt, und glitten unter einem verzauberten Baum in eine schleimige Unterwelt hinab, die keiner von ihnen sehen wollte.

Lois sah ihn an, das widerliche rote Leuchten erhellte ihr Gesicht, und ihre Augen blickten ängstlich umher. Er sah dunkle Spuren auf ihrem Bonn und stellte fest, daß es sich um Blut handelte. Sie nagte nicht mehr nur an ihrer Unterlippe, sie biß regelrecht hinein.

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