Die Kellnerin sagte das alles - wie eine Ansprache, die sie schon viele Male gehalten hatte -, ohne die Stimme zu heben oder äußerlich auch nur eine Spur von Wut erkennen zu lassen. Ralph hörte ihr nur mit halbem Ohr zu; der größte Teil seiner Aufmerksamkeit galt der hellgrünen Aura, die sie umgab. Aber sie war nicht nur hellgrün. Ein gelblich-schwarzer Fleck drehte sich langsam wie ein schmutziges Wagenrad über der unteren rechten Seite.
Ihre Leber, dachte Ralph. Etwas stimmt mit ihrer Leber nicht.
»Sie möchten doch nicht wirklich, daß Susan Day etwas zustößt, oder?« fragte Lois und sah die Kellnerin mit besorgtem Blick an. »Sie scheinen ein netter Mensch zu sein, und ich bin sicher, das wollten Sie nicht.«
Die Kellnerin seufzte durch die Nase, was zwei dünne Strahlen grünen Dunsts erzeugte. »Ich bin nicht so nett, wie ich aussehe, Schatz. Wenn Gott ihr etwas antun würde, dann wäre ich die erste, die vor Freude Luftsprünge macht und sagt: >Dein Wille geschehe glauben Sie mir. Aber wenn Sie einen Irren wie Charlie Pickering meinen, das ist etwas anderes. So etwas bringt uns alle in Verruf und stellt uns auf eine Stufe mit den Leuten, die wir bekämpfen. Aber Irre wie Pickering sehen das nicht so. Sie sind die Joker im Spiel.«
»Ja«, sagte Ralph. »Joker im Spiel, genau das sind sie.«
»Ich glaube, ich möchte nicht, daß dieser Frau etwas Schlimmes zustößt«, sagte die Kellnerin, »aber es könnte sein. Wirklich. Und wenn ihr etwas passiert, ist sie meiner Meinung nach ganz allein daran schuld. Sie heult mit den Wölfen… und Frauen, die mit den Wölfen heulen, sollten sich nicht wundern, wenn sie gebissen werden.«
Ralph war nicht sicher, ob er danach noch etwas essen wollte, aber sein Appetit schien die Ansichten der Kellnerin zur Abtreibung und zu Susan Day unbeschadet überstanden zu haben. Die Auren erwiesen sich als hilfreich; Essen hatte ihm noch nie so gut geschmeckt, nicht einmal als Teenager, als er fünf oder gar sechs Mahlzeiten täglich zu sich genommen hatte, wenn er sie bekommen konnte.
Lois hielt Bissen für Bissen mit ihm Schritt, jedenfalls eine Weile. Schließlich schob sie die Reste ihrer Bratkartoffeln und die beiden letzten Streifen Speck beiseite. Ralph ging wacker allein in die Zielgerade. Er wickelte das letzte Stück Speck um das letzte Würstchen, schob es sich in den Mund, schluckte und lehnte sich mit einem lauten Seufzen auf dem Stuhl zurück.
»Deine Aura ist zwei Stufen dunkler geworden, Ralph. Ich weiß nicht, ob das bedeutet, daß du endlich genug hast oder daß du an einer Magenverstimmung sterben wirst.«
»Beides wäre möglich«, sagte er. »Du siehst sie auch wieder, hm?«
Sie nickte.
»Weißt du was?« fragte er. »Am allermeisten auf der Welt würde mir jetzt ein Nickerchen gefallen.« Ja, wahrhaftig. Jetzt, wo er satt und schön warm war, schienen die vergangenen vier Monate weitgehend schlafloser Nächte wie ein Sack voll schwerer Gewichte auf ihm zu liegen. Seine Lider fühlten sich an, als wären sie in Beton getaucht worden.
»Ich glaube, das wäre im Augenblick eine ziemlich schlechte Idee«, sagte Lois erschrocken. »Eine ziemlich schlechte Idee.«
»Wahrscheinlich«, stimmte Ralph zu.
Lois wollte die Hand heben und um die Rechnung bitten, ließ sie aber wieder sinken. »Wie wäre es, wenn wir deinen Freund bei der Polizei anrufen? Leydecker, richtig? Könnte er uns nicht helfen? Würde er uns nicht helfen?«
Ralph dachte, so gründlich sein übermüdeter Verstand es zuließ, darüber nach, dann schüttelte er widerwillig den Kopf. »Ich wage nicht, es zu versuchen. Was könnte ich ihm sagen, das uns nicht ins Irrenhaus bringen würde? Und das ist nur ein Teil des Problems. Wenn er sich einmischen würde… aber in der falschen Weise… könnte er es schlimmer machen statt besser.«
»Er könnte uns im Weg sein.«
»Richtig.«
»Okay.« Lois winkte der Kellnerin. »Wir werden mit offenen Fenstern da raus fahren, und wir werden im Dunkin Donuts in Old Cape Rast machen und zwei riesige Kaffee trinken. Auf meine Rechnung.«
Ralph lächelte. Das Lächeln fühlte sich irgendwie riesig und albern und zusammenhanglos auf seinem Gesicht an fast wie das Lächeln eines Betrunkenen. »Ja, Ma’am.«
Als die Kellnerin herüberkam und die Rechnung verdeckt vor ihn schob, fiel Ralph auf, daß sich der Button mit der Aufschrift LEBEN IST EINE ALTERNATIVE nicht mehr an ihrer Schürze befand.
»Hören Sie«, sagte sie mit einem Ernst, den Ralph beinahe schmerzlich rührend fand, »es tut mir leid, wenn ich Sie vor den Kopf gestoßen habe. Sie sind zum Frühstücken gekommen, und nicht, um sich einen Vortrag anzuhören.«
»Sie haben uns nicht vor den Kopf gestoßen«, sagte Ralph. Er sah über den Tisch zu Lois, die zustimmend nickte.
Die Kellnerin lächelte knapp. »Danke, daß Sie das sagen, aber ich bin trotzdem ziemlich über Sie hergefallen. An jedem anderen Tag hätte ich das nicht getan, aber wir haben heute nachmittag um vier unsere eigene Veranstaltung, und ich muß Mr. Dalton vorstellen. Sie haben mir gesagt, ich hätte drei Minuten Zeit, und ich denke, genau so lange habe ich Sie belabert.«
»Schon gut«, sagte Lois und tätschelte ihr die Hand. »Wirklich.«
Diesmal war das Lächeln der Kellnerin aufrichtiger und wärmer, aber als sie sich abwandte, sah Ralph, wie Lois freudiger Gesichtsausdruck erlosch. Sie betrachtete den schwarzgelben Fleck, der über der rechten Hüfte der Kellnerin schwebte.
Ralph nahm den Kugelschreiber zur Hand, den er an der Brusttasche festgeklemmt hatte, drehte die Papiermatte vor seinem Platz herum und schrieb hastig etwas auf die Rückseite. Als er fertig war, holte er den Geldbeutel heraus und legte vorsichtig einen Fünfdollarschein unter das, was er geschrieben hatte. Wenn die Kellnerin nach dem Trinkgeld griff, konnte es sie nicht übersehen.
Er nahm die Rechnung und schwenkte sie vor Lois. »Da dies unsere erste richtige Verabredung ist, werde ich das wohl übernehmen müssen«, sagte er. »Wenn ich ihr den Fünfer gebe, fehlen mir drei Dollar. Bitte sag mir, daß du nicht pleite bist.«
»Wer, die Pokerkönigin von Ludlow Grange? Sei nicht albern, Püppchen.« Sie gab ihm eine Handvoll verschiedener Geldscheine aus der Handtasche. Während er suchte, was er brauchte, las sie, was er auf die Matte geschrieben hatte:
Madam,
Sie leiden an einer Störung der Leberfunktion und sollten unverzüglich zum Arzt gehen. Und ich gebe Ihnen den guten Rat, heute abend nicht in die Nähe des Bürgerzentrums zu kommen.
»Ziemlich dumm, ich weiß«, sagte Ralph.
Sie gab ihm einen Kuß auf die Nasenspitze. »Es ist nie dumm, wenn man versucht, anderen Menschen zu helfen. Ich liebe dich, Ralph.«
»Danke. Aber sie wird es nicht glauben. Sie wird denken, daß wir trotz unserer Beteuerungen sauer wegen ihrem Button und ihrer kleinen Ansprache waren. Daß das, was ich geschrieben habe, nur eine verschrobene Art ist, es ihr heimzuzahlen.«
»Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, sie zu überzeugen.«
Lois betrachtete die Kellnerin - die angelehnt an der Durchreiche zur Küche stand und sich mit dem Koch unterhielt, während sie eine Tasse Kaffee trank - mit einem finsteren Ausdruck der Konzentration. Dabei sah Ralph, wie Lois’ normalerweise blaugraue Aura dunkler wurde und sich zusammenzog; sie wurde zu einer Art Kapsel, die den Körper umgab, statt einer verschwommenen Korona.
Er war nicht ganz sicher, was vor sich ging… aber er konnte es spüren. Seine Nackenhaare richteten sich auf; er bekam eine Gänsehaut auf den Unterarmen. Sie lädt sich auf, dachte er. Sie drückt alle Schalter und schaltet alle Turbinen ein, und das für eine Frau, die sie noch nie vorher gesehen hat und wahrscheinlich auch nie wieder sehen wird.
Nach einem Augenblick spürte die Kellnerin es auch. Sie drehte sich zu ihnen um, als hätte sie gehört, wie ihr Name gerufen worden war. Lois lächelte beiläufig und krümmte die Finger zu einem knappen Winken, aber als sie zu Ralph sprach, bebte ihre Stimme vor Anstrengung. »Ich habe… habe es fast.«