Kaum war sie fort, beugte sich Lois über den Schreibtisch. »Barbara, mein Freund und ich müssen noch heute morgen mit Gretchen sprechen«, sagte sie. »Persönlich.«
»Sie ist nicht hier. Sie ist in High Ridge.«
»Sag uns, wie wir dorthin kommen.«
Ms. Richards’ Blick wanderte zu Ralph. Der fand ihre grauen, pupillenlosen Augenhöhlen durch und durch beunruhigend. Als würde man eine klassische Statue ansehen, die irgendwie zum Leben erwacht war. Auch ihre dunkelgrüne Aura war deutlich blasser geworden.
Nein, dachte er. Sie wird nur vorübergehend von Lois’ grauer überlagert, das ist alles.
Lois drehte sich kurz um und folgte Barbara Richards’ Blick zu Ralph, dann drehte sie sich wieder zu der jungen Frau um. »Ja, er ist ein Mann, aber das macht nichts, ich verspreche es. Wir wollen Gretchen Tülbury oder den Frauen in High Ridge nichts tun, aber wir müssen mit ihr reden, also sag uns, wie wir dorthin kommen können.« Sie berührte wieder ihre Hand, worauf ihr Grau wieder am Arm der jungen Frau hinauf schoß.
»Tu ihr nicht weh«, sagte Ralph.
»Nein, aber sie muß reden.« Sie beugte sich dichter zu Richards. »Wo ist es? Komm schon, Barbara.«
»Ihr fahrt auf der Route 33 aus Derry hinaus«, sagte sie. »Die alte Newport Road. Nach etwa zehn Meilen seht ihr ein großes rotes Farmhaus links. Zwei Scheunen stehen dahinter. Danach biegt ihr die erste links ab…«
Die Putzfrau kam herein. »Peter hat nichts gehört -« Sie verstummte abrupt, weil ihr möglicherweise nicht gefiel, wie Lois sich über den Schreibtisch beugte, oder weil sie der leere Gesichtsausdruck ihrer Freundin beunruhigte.
»Barbara? Alles in Ord -«
»Seien Sie still«, sagte Ralph mit leiser, freundlicher Stimme. »Sie unterhalten sich.« Er ergriff den Arm der Putzfrau dicht über dem Ellbogen und verspürte dabei ein kurzes aber starkes Pulsieren von Energie. Einen Augenblick wurden alle Farben in der Welt heller. Die Putzfrau hieß Rachel Anderson. Sie war einmal mit einem Mann verheiratet gewesen, der sie oft und schwer verprügelt hatte, bis er vor acht Jahren verschwunden war. Heute hatte sie einen Hund und ihre Freundinnen bei Woman-Care, und das genügte ihr.
»Aber sicher«, sagte Rachel Anderson mit verträumter, nachdenklicher Stimme. »Sie unterhalten sich, und Peter sagt, es ist alles in Ordnung, also sollte ich wohl besser still sein.«
»Das ist eine gute Idee«, sagte Ralph, der sie immer noch sanft am Oberarm hielt.
Lois sah sich rasch um und vergewisserte sich, daß Ralph die Situation unter Kontrolle hatte, dann wandte sie sich wieder Barbara Richards zu. »Nach dem Farmhaus mit den beiden Scheunen links abbiegen. Okay, das haben wir. Was dann?«
»Dann kommt ein Feldweg. Der führt bergauf - etwa eineinhalb Meilen - und endet an einem weißen Farmhaus. Das ist High Ridge. Es hat die schönste Aussicht -«
»Jede Wette«, sagte Lois. »Barbara, es war schön, dich wiederzusehen. Aber jetzt müssen mein Freund und ich -«
»War auch schön, Sie wiederzusehen, Lois«, sagte Ms. Richards mit abwesender, desinteressierter Stimme.
»Mein Freund und ich werden jetzt gehen. Es ist alles in Ordnung.«
»Gut.«
»Du mußt dich nicht daran erinnern«, sagte Lois.
»Auf keinen Fall.«
Lois wollte schon gehen, da drehte sie sich noch einmal um und nahm das Blatt Papier, das sie aus der Handtasche genommen hatte. Es war auf den Schreibtisch gefallen, als Lois das Handgelenk der Frau ergriffen hatte.
»Warum gehen Sie nicht wieder an die Arbeit, Rachel?« fragte Ralph die Putzfrau. Er ließ vorsichtig ihren Arm los, war aber jederzeit bereit, ihn wieder zu packen, sollte sie zu erkennen geben, daß sie einer erneuten Behandlung bedurfte.
»Ja, ich sollte besser weitermachen«, sagte sie etwas freundlicher. »Ich möchte bis Mittag hier fertig sein, damit ich nach High Ridge fahren und mithelfen kann, Spruchbänder zu machen.«
Lois gesellte sich zu Ralph, während Rachel Anderson wieder zu ihrem Wägelchen mit Putzmitteln ging. Lois sah erstaunt und ein wenig erschüttert drein. »Mit ihnen ist doch alles in Ordnung, Ralph, oder?«
»Ja, ganz sicher. Geht es dir denn gut? Du wirst mir doch nicht ohnmächtig oder so?«
»Mir geht es gut. Kannst du dich an die Wegbeschreibung erinnern?«
»Freilich - sie meint das Gelände, das einmal Barrett’s Orchards gewesen ist. Carolyn und ich sind da jeden Herbst hingegangen, um Äpfel zu pflücken und Cidre zu kaufen, bis sie Anfang der achtziger Jahre schließen mußten. Wenn ich mir vorstelle, daß das High Ridge ist.«
»Du kannst dich später noch wundern, Ralph - ich bin jetzt wirklich am Verhungern.«
»Nun gut. Was stand eigentlich auf dem Zettel? Der Nachricht von der Nichte mit dem Stipendium der Uni?«
Sie lächelte ihn schalkhaft an und gab ihm das Blatt Papier. Es handelte sich um ihre Stromrechnung für den Monat September.
»Haben Sie Ihre Nachricht hinterlassen können?« fragte der Wachmann, als sie herauskamen und den Fußweg hinuntergingen.
»Ja, danke«, sagte Lois und schaltete ihr Megawattlächeln wieder ein. Aber sie blieb in Bewegung und umklammerte Ralphs Hand fest mit ihrer. Er wußte, wie ihr zumute war; er hatte keine Ahnung, wie lange die Suggestionen der beiden Frauen andauern würden.
»Gut«, sagte der Wachmann und folgte ihnen zum Ende des Fußwegs. »Das wird ein langer, langer Tag werden. Bin froh, wenn er vorbei ist. Wissen Sie, wieviel Wachpersonal wir von Mittag bis Mitternacht hier haben? Ein Dutzend. Und das nur hier. Beim Bürgerzentrum werden es über vierzig sein - und das zusätzlich zur hiesigen Polizei.«
Und es wird kein bißchen nützen, dachte Ralph.
»Und weshalb? Damit eine aufmüpfige Blondine ihr Maul aufreißen kann.« Er sah Lois an, als rechnete er damit, sie würde ihm vorwerfen, daß er ein sexistischer Stänkerer sei, aber Lois ließ nur ihr Lächeln wieder aufblitzen.
»Ich hoffe, daß alles gutgeht, Officer«, sagte Ralph und führte Lois über die Straße zu dem Oldsmobile. Er ließ ihn an, wendete mühsam in der Einfahrt von Woman-Care und rechnete jeden Moment damit, daß entweder Barbara Richards, Rachel Anderson, oder beide zur Tür herausgelaufen kommen, sich wild umsehen und mit Fingern auf sie zeigen würden. Schließlich hatte er den Olds in der richtigen Richtung und stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Lois sah ihn an und nickte mitfühlend.
»Ich dachte, ich wäre der Vertreter«, sagte Ralph, »aber, Mann, ich habe noch nie gesehen, wie jemand einen Menschen so um den Finger wickelt.«
Lois lächelte bescheiden und verschränkte die Hände im Schoß.
Sie näherten sich dem Parkhaus des Hospitals, als Trigger aus seiner kleinen Kabine gelaufen kam und mit den Armen ruderte. Ralphs erster Gedanke war, daß sie doch keine saubere Flucht bewerkstelligt hatten - der Wachmann mit dem Notizbrett hatte etwas Verdächtiges bemerkt und Trigger über Funk oder Telefon gebeten, sie aufzuhalten. Dann sah er den Gesichtsausdruck - außer Atem, aber glücklich - und was Trigger in der rechten Hand hielt. Es war eine sehr alte und sehr zerschlissene schwarze Brieftasche. Bei jeder Armbewegung klappte sie auf und zu wie ein zahnloser Mund.
»Keine Sorge«, sagte Ralph und bremste den Olds ab. »Ich habe keine Ahnung, was er will, aber ich bin ziemlich sicher, daß es keinen Ärger gibt. Jedenfalls noch nicht.«
»Mir ist egal, was er will. Ich will nur hier weg und etwas essen. Wenn er anfängt, dir seine Angelbilder zu zeigen, Ralph, werde ich persönlich aufs Gaspedal treten.«
»Amen«, sagte Ralph, der genau wußte, daß Trigger nichts mit Angelbildern am Hut hatte. Er war immer noch nicht völlig im Bilde, aber eines wußte er ganz genau: Nichts geschah aus Zufall. Nicht mehr. Dies war der Plan mit all seiner Macht. Er hielt neben Trigger und drückte den Knopf, der das Fenster auf seiner Seite herunterließ. Es senkte sich mit einem ungehaltenen Heulen.
»Ehhh, Ralph!« rief Trigger. »Dacht schon, isch würde disch verpassen!«