Tschick-tschick-tschack-tschack, und er hatte gesehen, daß sich das T-förmige Atmungsrohr in ihrer Nase verschoben hatte. Er wartete darauf, daß sie einen ihrer schrecklichen, gequälten Atemzüge aus der Luft saugen würde, und als sie ausatmete, beugte er sich nach vorne und rückte das kleine Plastikröhrchen wieder zurecht. Er hatte ein wenig Rotz an die Finger bekommen, daran erinnerte er sich noch, und wischte sie an einem Kleenex aus der Box auf dem Nachttisch ab. Er hatte sich zurückgelehnt, auf den nächsten Atemzug gewartet, wollte sich vergewissern, daß die Nasenröhre sich nicht wieder verschob, aber es kam kein nächster Atemzug, und ihm war klar geworden: Das Ticken, das er seit dem vergangenen Sommer überall gehört hatte, war verstummt.
Er erinnerte sich, wie er wartete, während die Minuten verstrichen - eine, dann drei, dann sechs -, weil er nicht glauben wollte, daß die guten Jahre und schönen Anlässe (nichtzu vergessen die wenigen unschönen) auf diese klägliche und tonlose Weise zu Ende gegangen sein sollten. Ihr Radio, das auf einen lokalen Musiksender eingestellt war, spielte leise in der Ecke, und er hörte »Scarborough Fair« von Simon and Garfunkel. Sie sangen es bis zum Ende. Danach kam Wayne Newton und sang »Danke Shoen.« Er sang es bis zum Ende. Danach kam der Wetterbericht, aber bevor der Sprecher erzählen konnte, wie das Wetter an Ralph Roberts erstem Tag als Witwer werden würde, die Einzelheiten über Tiefdruckzonen und Kälte und Windböen aus Nordost, sah Ralph es schließlich ein. Die Uhr hatte aufgehört zu ticken, der Zug war angekommen, der Boxkampf war vorbei. Und sämtliche Metaphern waren zu Boden gefallen, zurück blieb nur die Frau in dem Zimmer, in dem es endlich still geworden war. Ralph fing an zu weinen. Er war weinend in die Ecke gestolpert und hatte das Radio ausgeschaltet. Er erinnerte sich an den Sommer, als sie einen Kurs in Malen mit Fingerfarben besucht hatten, und an die Nacht, als sie ihre nackten Körper mit den Fingern bemalt hatten. Bei dieser Erinnerung mußte er noch mehr weinen. Er ging zum Fenster, lehnte den Kopf an die kalte Glasscheibe und weinte. Während dieser ersten, schrecklichen Minute der Einsicht wollte er nur eines: selber tot sein. Eine Schwester hörte ihn weinen und kam herein. Sie versuchte, Carolyns Puls zu messen. Ralph sagte ihr, sie sollte aufhören, sich wie eine Närrin zu benehmen. Sie kam zu Ralph herüber, und er glaubte einen Moment, sie würde versuchen, seinen Puls zu messen. Statt dessen hatte sie die Arme um ihn gelegt.
Sie -
[»Ralph? Ralph, alles in Ordnung?«]
Er drehte sich zu Lois um und wollte ihr sagen, daß es ihm bestens ging, aber dann fiel ihm ein, daß er in diesem Stadium kaum etwas vor ihr verbergen konnte.
[»Ich bin traurig. Zu viele Erinnerungen hier drinnen. Und keine guten.«]
[»Ich verstehe… aber sieh nach unten, Ralph! Schau auf den Boden!«]
Er gehorchte und riß die Augen auf. Auf dem Boden befanden sich verschiedene bunte Fußspuren, einige frisch, aber die meisten verblaßten bereits. Zwei zeichneten sich deutlich vom Rest ab, sie funkelten wie Diamanten in einem Haufen stumpfer Imitationen. Ihre Farbe war leuchtend grüngolden, mit einigen winzigen roten Fleckchen darin.
[»Sind die von denen, nach denen wir suchen, Ralph?«]
[»Ja - die Docs sind hier.«]
Ralph nahm Lois’ Hand - die sich sehr kalt anfühlte - und führte sie langsam den Flur entlang.
Kapitel 17
Sie waren noch nicht weit gekommen, als etwas Seltsames und ziemlich Furchteinflößendes geschah. Einen Augenblick blutete die Welt vor ihren Augen weiß. Die Türen der Zimmer entlang des Flurs, in diesem grellweißen Dunst kaum zu erkennen, schwollen zur Größe von Garagentoren an. Der Flur selbst schien gleichzeitig länger und höher zu werden. Ralph spürte, wie sich sein Magen hob wie damals, als er noch ein Teenager war und häufig mit der Dust-Devil-Achterbahn in Old Orchard Beach gefahren war. Er hörte Lois stöhnen, dann drückte sie seine Hand mit der Kraft der Panik.
Das Weiß währte nur einige Sekunden, dann strömte wieder Farben in die Welt ein, aber sie wirkten heller und leuchtender als noch vor einem Augenblick. Auch die normale Perspektive erlangte wieder Geltung, aber die Gegenstände sahen irgendwie dicker aus. Die Auren waren noch da, aber sie schienen dünner und blasser zu sein - Heiligenscheine in Pastelltönen statt Primärfarben wie aus der Spraydose.
Gleichzeitig stellte Ralph fest, daß er jeden Riß und jede Pore in der Betonwand zu seiner Linken sehen konnte… und dann wurde ihm klar, er konnte die Röhren, Leitungen, Kabel und die Isolierung hinter den Wänden sehen, wenn er wollte; er mußte nur hinsehen.
O mein Gott, dachte er. Passiert das alles wirklich? Kann das alles wirklich passieren?
Überall Geräusche: gedämpfte Glocken, eine Toilettenspülung, verhaltenes Gelächter. Geräusche, die man normalerweise als Bestandteile des täglichen Lebens völlig überhörte, aber jetzt nicht. Nicht hier. Die Geräusche schienen, wie die sichtbare Realität der Gegenstände, eine außergewöhnliche sinnliche Beschaffenheit zu haben, wie dünne, einander überlappende Schichten aus Seide und Stahl.
Aber nicht alle Geräusche waren gewöhnlich; eine ganze Menge exotische zogen sich durch das Sammelsurium. Er hörte tief in einer Heizungsleitung eine Fliege summen. Ein Geräusch wie feines Schmirgelpapier, als eine Schwester in der Personaltoilette ihre Strumpfhose hochzog. Herzschlag. Zirkulierendes Blut. Die sanften Gezeiten des Atmens. Jedes Geräusch war auf seine Weise perfekt; fügte sich in die anderen ein zu einem wunderschönen und komplexen Hörballett - einem verborgenen Schwanensee knurrender Mägen, summender Steckdosen, wirbelsturmgleicher Föhns, flüsternder Reifen von Krankenhausbahren. Ralph konnte einen Fernseher am Ende des Flurs hinter dem Schwesternzimmer hören. Aus Zimmer 240, wo Mrs. Thomas Wren, eine Patientin mit einem Nierenleiden, Kirk Douglas und Lana Turner in Die Stadt der Illusionen sah. »Wenn du dich mit mir zusammentust, werden wir diese Stadt aus den Angeln heben, Baby«, sagte Kirk, und Ralph erkannte an der Aura, die diese Worte umgab, daß Mr. Douglas am Tag, als diese spezielle Szene gedreht worden war, Zahnweh gehabt hatte. Und das war längst nicht alles; er wußte, er konnte (höher? tiefer? weiter?) gehen, wenn er wollte. Ralph wollte es eindeutig nicht, dies war der Wald von Arden, und man konnte sich in seinem Dickicht verirren.
Oder von Tigern aufgefressen werden.
[»Herrgott! Eine neue Ebene - das muß es sein, Lois! Eine völlig neue Ebene!«]
[»Ich weiß.«]
[»Wirst du damit fertig?«]
[»Ich glaube ja, Ralph… und du?«]
[»Ich denke auch, vorläufig… aber wenn der Boden wieder wegrutscht, weiß ich nicht. Komm mit.«]
Aber bevor sie den grüngoldenen Spuren weiter folgen konnten, kamen Bill McGovern und ein Mann, den Ralph nicht kannte, aus Zimmer 213. Sie waren in eine angeregte Unterhaltung vertieft.
Lois drehte sich voller Entsetzen zu Ralph um.
[»O nein! O Gott, nein! Siehst du es, Ralph? Siehst du es?«]
Ralph hielt ihre Hand fester. Er sah es auch. McGoverns Freund war von einer pflaumenfarbenen Aura umgeben. Sie sah nicht besonders gesund aus, aber Ralph glaubte auch nicht, daß der Mann ernsthaft krank war; nur eine Menge chronische Sachen wie Rheuma und Nierensteine. Eine Ballonschnur derselben purpurnen Farbe stieg vom Kopf des Mannes auf und wogte sanft hin und her wie der Luftschlauch eines Tauchers in schwacher Strömung.
McGoverns Aura dagegen war völlig schwarz. Der Stumpf, der einmal eine Ballonschnur gewesen war, ragte steil in die Höhe. Die Ballonschnur des behinderten Babys war kurz, aber gesund gewesen; hier sahen sie die verwesenden Überreste einer brutalen Amputation vor sich. Ralph sah kurz ein Bild vor sich, so deutlich, daß es fast einer Halluzination gleichkam: McGoverns Augen quollen aus den Höhlen und wurden dann ganz herausgedrückt, worauf sich eine Sturzflut schwarzer Käfer daraus ergoß. Er mußte selbst einen Moment die Augen schließen, um nicht lauthals aufzuschreien, und als er sie wieder aufschlug, war Lois nicht mehr neben ihm.