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Es klopfte an die Tьr. »Wer ist denn drin?« Das war Berthold.

»Ich.«

»Mach schnell, ich muss dringend.«

Eva griff nach der Klopapierrolle, riss einige Blдtter ab und wischte das Herz weg. Dann erst цffnete sie die Tьr.

»Wie siehst du denn aus?«, fragte Berthold.

Eva fiel zum ersten Mal auf, dass er wie ihr Vater sprach.

»Gefallt es dir nicht?«

»Nein. Du siehst aus wie ein Zirkuspferd.«

Eva lachte. »Mir gefдllt es. Mir gefдllt es sogar sehr gut.«

»Warte nur, bis Papa dich so sieht.«

Aber der Vater sah sie nicht. Er schlief noch, hielt sein Samstagnachmittag-Schlдfchen, machte sein Ni­ckerchen, das meistens bis zur Sportschau dauerte.

»Gefдllt es dir, Mama?«

Die Mutter zцgerte. »Ganz anders siehst du aus«, sagte sie. »Ein bisschen wild.«

Eva nahm ihren blauen Regenmantel. Sie war froh

ьber das schlechte Wetter, mit dem Mantel sah sie

nicht so dick aus. »Tschьss, Mama.«

»Viel SpaЯ, Kind. Und vergiss nicht, um zehn Uhr.« »Ja, ja«, sagte Eva und zog leise die Tьr hinter sich

zu. Der Vater schlief.

Michel hatte sie erstaunt angesehen. »Siehst gut aus.«

Dann saЯen sie in einem Cafe und tranken Cola. Eva mochte Cola eigentlich gar nicht so besonders. Michel hatte bestellt, ohne sie zu fragen.

»Normalerweise bin ich samstags immer im Freizeit­heim«, sagte er. Er trug ein weiЯes Hemd, fast bis zum Nabel offen, und eine dunkelblaue Kordjacke. Richtig ordentlich sah er aus.

»Was macht ihr da, im Freizeitheim?«

»Alles Mцgliche. Samstags tanzen wir meistens. Ein paar von den Jungen machen eine irre Musik.« Michel sah ganz stolz aus. »Einer von ihnen ist mein Freund. Er spielt E-Gitarre.«

»GrьЯ dich, Eva«, sagte jemand. Eva sah auf. Vor ihr stand Tine.

»GrьЯ dich«, sagte Eva.

Tine sah Michel neugierig an. Sie blieb einfach ste­hen und schaute Michel an. Der Junge neben ihr, ein schlaksiger, dьnner mit langen, blonden Haaren, legte den Arm um sie und wollte sie weiterziehen. »Komm endlich. Ich habe Durst.«

Tine fragte: »Ist das dein Freund?« Aber sie schaute Eva nicht an dabei.

»Wenn du nichts dagegen hast«, antwortete Michel.

»Tschьss«, rief Tine und verschwand, von dem Langhaarigen gezogen, im hinteren Teil des Cafes.

»Wie die dich angesehen hat.«

»Wer war das?«

»Ein Mдdchen aus meiner Klasse.«

»Genierst du dich nicht mit mir?«

Eva war verblьfft. »Wieso denn?«

»Na ja, weil ich ja nur in die Hauptschule geh, ich bin ja nichts Besonderes.«

Nichts Besonderes, dachte Eva. Die Hauptschule sieht man nicht, aber meinen dicken Hintern sieht je­der.

Laut sagte sie: »Du solltest das nicht so wichtig neh­men. Es ist doch eigentlich egal, in welche Schule je­mand geht. Es sagt noch nicht einmal was darьber aus, wie intelligent man ist.«

»Das sagst du so«, antwortete Michel. »Ich bin noch nie mit einem Mдdchen gegangen, das im Gymnasium ist. Ein bisschen komisch ist das schon.«

»Ist denn an mir was anders?«

»Viel.«

»Was denn?...

»Ich weiЯ nicht. Viel halt.«

Eva hдtte gern gefragt: »Bin ich besser?« Sie hдtte gern gewusst, genau gewusst, was Michel mit den anderen gemacht hatte. War er auch mit ihnen »am Fluss« gewesen? Aber die Fragen blieben in ihrem Bauch, die Angst davor, was er antworten kцnnte, schob die gedachten und vorgeformten Worte in ihren Bauch zurьck, bevor sie noch den Mund aufmachen konnte.

Wieder war es still zwischen ihnen. Und wieder dachte Eva: Ist es das, was ich mir vorgestellt hatte, das, woran ich schon so oft gedacht habe? Und sie dachte: So ist das also zwischen Jungen und Mдdchen, dass man nicht weiЯ, was man sagen soll, wenn man ei­gentlich so viel sagen mцchte.

Sie bestellten sich noch eine Cola.

Spдter, im Kino, nahm Michel Evas Hand. Seine Hand war ein bisschen rauh und ein bisschen mager, ganz anders als Karolas.

Der Cowboy ritt durch die Prдrie, ritt mitten hinein in einen roten Cinemascope-Technicolor-Sonnenunter-gang und Michel streichelte ihre Hand. Eva hielt ganz still. Sie hielt so still, dass sie fast nicht atmen konnte.

Michel hatte sie nach Hause gebracht, genau um zehn Uhr hatte sie die Wohnungstьr aufgeschlossen. »Bist du das, Eva?«, hatte die Mutter aus dem Wohnzimmer gerufen.

»Ja, ich.«

Im Wohnzimmer sagte der Nachrichtensprecher: »Beim heutigen Nebeleinbruch haben auf Bayerns StraЯen mindestens acht Menschen den Tod gefun­den.« Stimmt, heute Morgen war es neblig gewesen.

Eva ging ins Badezimmer und riegelte hinter sich ab. Sie stьtzte sich mit den Hдnden auf das kalte Porzellan des Waschbeckens und schaute in den Spiegel. Sie be­trachtete ihren Mund. Von der Schminke war nicht viel ьbrig, ein kleiner, verwischter Rest im Mundwinkel. Sie sah aus wie sonst. Sie wunderte sich darьber, dass er keine Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen hatte. Er. Michel.

Sie nahm die Zahnbьrste in die Hand, drьckte Zahn­pasta darauf, zцgerte und spьlte die Zahnpasta wieder ab. Heute nicht. Sie wollte die Erinnerung nicht weg­waschen.

Dann band sie sich die Haare wieder zusammen und ging ins Bett. Die Mutter, neugierig, verschwцrensch, цffnete die Tьr und fragte: »Na?«

»Schцn war's«, antwortete Eva. »Aber ich bin jetzt mьde. Ich will schlafen.«

Eva stieg die Treppe hinauf, unendlich viele Stufen hatte die Treppe. Oben stand Michel und schaute zu ihr herunter. Oder war es Karola? Karolas Kцrper mit Michels Gesicht? Als sie nдher kam, die Beine schlepp­ten schon, zerfiel Karola-Michel, zerfiel in kaleido­skopartige Stьckchen. Eva schloss die Augen. Auf Hдnden und FьЯen kroch sie weiter die Treppe hinauf. Endlich wagte sie, die Augen wieder zu цffnen. Dort oben stand Michel, viel weiter oben jetzt. Er hatte ihr den Rьcken zugedreht. »Michel«, rief sie. »Michel!« Er drehte sich um. »Komm nicht«, sagte er mit einer ganz fremden Stimme. »Geh zurьck oder ich werde dich erstechen.« Jetzt erst sah Eva, dass er in der Hand einen Sдbel trug. Die Klinge blitzte, als er ihn langsam hochhob. Eva schrie, drehte sich um und wollte die Treppe hinunterlaufen. Aber vor ihr war nur ein Loch, ein gдhnendes, graues, endloses Loch. Das gibt es doch nicht, dachte Eva. Eine Treppe kann doch nicht plцtz­lich weg sein. Da fiel sie in das Loch, ein endloses Fal­len war das. Die Angst drьckte ihr die Luft ab und er­stickte ihren Schrei. Das Blut hдmmerte in ihrem Kopf, und in dem Moment, als sie dachte, jetzt, jetzt schlage ich auf, jetzt werde ich sterben, jetzt, jetzt, in diesem Moment wachte sie auf, merkte, dass sie in ih­rem Bett lag, und fing vor Erleichterung an zu weinen. Im Kьhlschrank war noch eine Schьssel Pudding. Schokoladenpudding. Sonntag. Eva hasste diese Sonntage, die immer glei­chen Sonntage, die sich fast nur durch Regen, Sonne, Schnee und Wind unterschieden und gelegentlich durch einen Kinobesuch. Sie hasste sie noch mehr als die Wochentage, an denen sie wenigstens die Hoffnung haben konnte, dass irgendetwas passierte, dass jemand mit ihr sprach oder dass Franziska ihre Hand auf ihren Arm legte und ihr etwas erzдhlte. Sonntag, das hieЯ Lernen, um die Langeweile zu ьbertцnen, englische Vokabeln gegen das Gedudel von Bayern drei, mathe­matische Gleichungen gegen den rьlpsenden Sonntags­frieden.

Zum Frьhstьck saЯ die Familie um den Tisch, um die dampfende Kaffeekanne und den Sonntagskuchen. Mutter im geblьmten Morgenrock, steif, Nylon, dun­kelrote Rцschen auf rosa Grund, und der Vater, noch nicht rasiert, mit dunkelblauem Bademantel ьber dem Schlafanzug, blauweiЯ gestreift.

»Einen guten Kuchen hat unsere Mama wieder ge-backen«, sagte der Vater und die Mutter schaute auf ih­ren Teller und antwortete: »Ein bisschen braun ist er geworden. Ich hдtte den Herd fьnf Minuten eher aus­machen sollen.« Oder sie sagte: »Die Kдsefьllung istein bisschen zu feucht. Die Unterhitze im Herd funk­tioniert nicht mehr so richtig.«

»Nein, Marianne«, widersprach der Vater. »Der Ku­chen ist wirklich gut. Nicht wahr, Kinder?«

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