Ich sehe deformierte Köpfe oder Körper, Kinder mit offenem Rücken, mit fehlenden Beinen oder Armen oder mit Klumpfüßchen. Am dritten Fenster verschlägt es mir fast den Atem. Ein kleiner Babykörper mit einem Riesenkopf, der zu platzen droht, liegt ganz still da. Nur die Lippen bewegen sich, wahrscheinlich weint es. Diesen Anblick kann ich nicht mehr ertragen und gehe in mein Zimmer zurück. Ich bin völlig verstört, denn solche Mißbildungen habe ich noch nie gesehen. Mir wird bewußt, wieviel Glück ich mit meinem Kind habe.
Als die Ärztin zu mir kommt, frage ich, warum diese Kinder überhaupt noch leben.
Sie erklärt mir, daß dies ein Missionsspital sei und hier keine Sterbehilfe geleistet würde. Die Kinder sind meistens vor den Toren des Spitals ausgesetzt worden und warten hier auf ihren Tod. Mir ist noch ganz elend, und ich habe Bedenken, ob ich jemals wieder ruhig und traumlos schlafen kann. Die Ärztin schlägt mir vor, morgen hinter dem Trakt spazierenzugehen, so bleibe mir dieser Anblick erspart. Tatsächlich befindet sich dort eine Wiese mit schönen Bäumen, und wir dürfen täglich bis zu einer halben Stunde draußen bleiben. Ich laufe mit Napirai im Grünen umher und singe laut. Es gefäl t ihr, denn ab und zu gibt auch sie einen Laut dazu.
Doch bald treibt mich die Neugier wieder zu den entstellten Kindern. Da ich nun darauf gefaßt bin, erschreckt mich der Anblick weniger. Einige von ihnen nehmen wahr, daß jemand zu ihnen hinunterschaut. Als ich in mein Zimmer zurückgehen wil, ist gerade die Türe zu dem Vierbett-Zimmer offen. Die schwarze Schwester, die die Kinder wickelt, winkt mich lachend heran, und ich gehe zögernd bis zum Türrahmen.
Sie demonstriert mir die verschiedenen Reaktionen der Kinder, wenn sie mit ihnen spricht oder lacht. Ich bin erstaunt, wie freudig diese Kinder reagieren können. Es berührt und beschämt mich zugleich, daß ich jemals an der Lebensberechtigung dieser Wesen gezweifelt habe. Sie empfinden Schmerz und Freude, Hunger und Durst.
Von diesem Tag an gehe ich immer an die verschiedenen Türen und singe meine drei Lieder, die ich noch aus der Schulzeit kenne. Ich bin überwältigt, wieviel Freude sie schon nach einigen Tagen empfinden, wenn sie mich erkennen oder hören.
Sogar das Wasserkopf-Baby hört auf zu wimmern, wenn ich ihm meine Lieder vorsinge. Endlich habe ich eine Aufgabe gefunden, bei der ich meine wiedergewonnene Lebensfreude weitergeben kann.
Eines Tages schiebe ich Napirai in einem Kindersitz mit Rädern im Sonnenschein hin und her. Sie lacht fröhlich auf, wenn die Räder knirschen und der Wagen holpert.
Mittlerweile ist sie die Attraktion bei den Schwestern. Jede kommt und wil das hellbraune Kind herumtragen. Geduldig läßt sie al es über sich ergehen und zeigt sogar Vergnügen. Auf einmal steht mein Mann mit seinem Bruder James vor mir.
Lketinga stürzt sich sofort auf Napirai und hebt sie aus dem Wagen. Dann begrüßt er auch mich. Ich freue mich mächtig über ihren unverhofften Besuch.
Napirai jedoch scheint mit dem bemalten Gesicht und den langen, roten Haaren ihres Vaters Schwierigkeiten zu haben, denn schon nach kurzer Zeit fängt sie an zu heulen. James geht sofort zu ihr und spricht leise mit ihr. Auch er ist hingerissen von unserem Kind. Lketinga versucht es noch mit Singen, doch es nützt nichts, sie will zu mir. James nimmt sie ihm ab, und sofort wird sie wieder ruhig. Tröstend lege ich meinen Arm um Lketinga und versuche ihm zu erklären, daß sich Napirai erst wieder an ihn gewöhnen muß, da wir nun schon mehr als fünf Wochen hier sind. Verzweifelt wil er wissen, wann wir endlich nach Hause kommen. Ich verspreche ihm, am Abend die Ärztin zu fragen, er solle dann noch einmal während der Besuchszeit kommen.
Bei der Nachmittagsvisite frage ich den Arzt, der mir versichert, daß ich das Spital in einer Woche verlassen kann, wenn ich nicht arbeite und Diät halte. In drei bis vier Monaten dürfe ich langsam wieder ein wenig Fett probieren. Ich glaube, mich verhört zu haben. Noch drei bis vier Monate soll ich dieses nur in Wasser gekochte Reis-oder Kartoffelmenu essen! Mein Verlangen nach Fleisch und Milch ist enorm. Am Abend erscheinen Lketinga und James wieder. Sie bringen mir mageres, gekochtes Fleisch mit. Ich kann nicht widerstehen und esse ganz langsam und ausgiebig kauend ein paar Brocken, den Rest gebe ich ihnen schweren Herzens mit. Wir vereinbaren, daß sie mich in einer Woche abholen kommen.
Nachts bekomme ich heftige Magenschmerzen. Mein Inneres brennt, als ob Feuer die Magenwand verzehren würde. Nach einer halben Stunde halte ich es nicht mehr aus und läute nach der Schwester. Als diese sieht, wie ich mich zusammengerollt im Bett winde, holt sie den Arzt. Er schaut mich streng an und fragt, was ich gegessen habe. Ich schäme mich sehr, als ich zugeben muß, etwa fünf Stückchen fettloses Fleisch zu mir genommen zu haben. Nun wird er sehr ärgerlich und schimpft mich eine dumme Kuh. Wozu ich eigentlich hergekommen sei, wenn ich mich nicht ihrer Weisung fügen wol e. Er habe nun genug Lebensretter gespielt, schließlich sei er nicht nur für mich zuständig!
Wenn nicht gerade die Ärztin ins Zimmer käme, müßte ich mir sicher noch mehr anhören. Jedenfal s bin ich geschockt über seinen Ausbruch, da er bisher sehr nett war. Napirai schreit, und ich heule ebenfal s. Er verläßt das Zimmer, und die Schweizer Ärztin beruhigt mich, während sie sich für den Doktor entschuldigt, der völlig überlastet sei. Seit Jahren hat er keine Ferien mehr gehabt und täglich kämpft er, zum größten Teil vergeblich, um Menschenleben. Gekrümmt vor Schmerzen entschuldige ich mich und fühle mich dabei wie eine Schwerverbrecherin. Die Ärztin geht, und ich quäle mich durch die Nacht. Sehnsüchtig warte ich auf meine Entlassung. Endlich ist es soweit. Wir haben uns schon bei den meisten Schwestern verabschiedet und warten auf Lketinga. Erst kurz nach Mittag erscheint er in Begleitung von James, aber er strahlt nicht so, wie ich es eigentlich erwartet habe.
Unterwegs gab es Ärger mit dem Wagen. Die Gangschaltung hat wieder nicht richtig funktioniert. Mehrmals konnte er nicht weiterschalten, und jetzt steht der Wagen in Wamba in der Missionswerkstatt.
Nairobi
James trägt Napirai und Lketinga meine Tasche. Endlich wieder in Freiheit! An der Rezeption bezahle ich meinen Aufenthalt, und wir gehen hinüber zur Mission. Ein Mechaniker liegt unter dem Landrover und hantiert an verschiedenen Teilen.
Ölverschmiert kriecht er hervor und meint, lange halte die Gangschaltung nicht mehr.
Den zweiten Gang können wir nicht mehr benutzen.
Jetzt ist es genug, sage ich mir in diesem Augenblick. Mit meiner wiedergewonnenen Gesundheit und meinem Baby will ich nichts mehr riskieren.
Deshalb schlage ich meinem Mann vor, zuerst nach Maralal und morgen weiter nach Nairobi zu fahren, um einen neuen Wagen zu kaufen. James ist sofort begeistert, nach Nairobi zu kommen. Vor Anbruch der Dunkelheit erreichen wir Maralal. Im Getriebe hat es zwar dauernd gekracht, doch sind wir gut bis zum Lodging gekommen. Hier lassen wir den Wagen stehen und brechen zu fünft nach Nairobi auf.
James hat darauf bestanden, einen Freund mitzunehmen, da er in Nairobi nicht alleine in einem Zimmer übernachten will. In unserem Gepäck befinden sich 12000
Franken, alles, was wir vom Shop und bei meiner Bank im Moment auftreiben konnten. Wie wir zu einem neuen Wagen kommen, ist mir noch nicht klar, denn es gibt in Kenia keine Gebrauchtwagen-Händler, bei denen man sich einfach einen aussuchen kann. Autos sind Mangelware.
Wir erreichen die Stadt gegen 16 Uhr und sind an diesem Tag nur damit beschäftigt, für uns al e ein Lodging zu finden. Das Igbol ist voll besetzt. Also versuchen wir es wieder in der billigen Absteige, da ich annehme, es ist höchstens für eine oder zwei Übernachtungen. Wir haben Glück und bekommen noch zwei Zimmer. Zuerst muß ich Napirai waschen und wickeln. In einem Waschbecken kann ich mein Mädchen von Staub und Dreck befreien. Natürlich ist die Hälfte der Windeln schon wieder verbraucht, doch eine Waschmöglichkeit gibt es nicht. Nachdem wir noch etwas gegessen haben, gehen wir frühzeitig zu Bett.