Von einem Gefühl plötzlich neu aufkommender Panik erfüllt, sah Brenner sich wild auf der Straße um, aber er entdeckte nicht, wonach seine entsetzt aufgerissenen Augen suchten. Der Straßenbelag war übersät mitTrümmerstücken, deren ursprüngliches Aussehen er zum Großteil nicht einmal erraten konnte, aber er sah weder Leichen noch Reste von Kleidung, abgesehen von jener ersten Gürtelschnalle und etwas, das eineungute Ähnlichkeit mit Brillengläsern hatte; Dinge, die man verlieren konnte – zum Beispiel, wenn man auf der Flucht vor jemandem war. Oder Etwas.
»Was zum Teufel tut ihr hier?« Salid kam mit zwei, drei gewaltigen Sätzen herangestürmt und fuchtelte dabei mit beiden Armen. Seine Hände waren jetzt nicht mehr leer, und Brenner begriff, warum er noch einmal ins Haus zurückgelaufen war, obwohl das Gebäude jeden Moment über ihm hätte zusammenbrechen können. Der Palästinenser war jetzt wieder bewaffnet: Er hielt eine Maschinenpistole in der rechten und drei oder vier Reservemagazine in der linken Hand.
»Lauft weiter! Verdammt!« Er versetzte Johannes einen Stoß, der ihn haltlos taumeln ließ. Brenner stolperte von sich aus weiter, auch wenn er das Gefühl hatte, sich bei jedem Schritt übergeben zu müssen. Unter seinen Schuhen knirschten Glas und Metall, und leise, ganz weit entfernt, aber trotzdem gerade noch an der Grenze des Wahrnehmbaren, war da noch immer dieses unheimliche Rascheln und Wispern.
Salid erreichte den Wagen als erster, riß die Tür auf und sprang mit einem Fluch zurück. Eine schwarze, glitzernde Schlammwoge schwappte ihm entgegen und zerspellte auf der Straße vor seinen Füßen in hunderttausend Einzelteile, die auf emsig huschenden Beinchen davonwirbelten. Salid stieß einen Laut aus, der irgendwo zwischen einem Keuchen und einem Schrei lag und sprang einen weiteren Schritt zurück, und auch Brenner und Johannes blieben wieder stehen.
Dieser Wagen würde sie nirgendwo mehr hinbringen. Er war nur noch ein Skelett, pures Metall und Glas, das auf blankgefressenen Felgen schräg wie ein gestrandetes Schiff dastand. Aus dem Armaturenbrett hingen halb aufgelöste Instrumente wie metallene Eingeweide, die nur noch von glitzernden, ihrer Kunststoffisolation beraubten Kupfer-und Messingdrähten gehalten wurden. Lenkrad und Sitze waren vollkommen verschwunden. Der Wagen hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit den ausgebrannten Wracks, die Brenner in seiner Funktion als Versicherungsvertreter dann und wann zu Gesicht bekommen hatte. Nur daß er nicht gebrannt hatte. Etwas hatte ihn regelrecht aufgelöst.
Salid verzog angeekelt das Gesicht und begann nach den winzigen Insekten zu treten, die vor ihm davonhuschten. Sie zerplatzten mit einem sonderbar hellen, weithin hörbaren Geräusch, und Brenners Phantasie hatte sich weit genug von ihren Zügeln losgerissen, um daraus dünne, nach Vergeltung verlangende Schmerzensschreie zu machen.
Die Tiere griffen Salid nicht an. Wer immer sie geschickt was immer sie geschickt – hatte, hatte sie nicht gesandt, um sie zu vernichten. Trotzdem hielt Salid nicht inne, sondern trat immer wilder und mit immer größerer Kraft zu. Seine Schuhe stampften die winzigen Tierchen in den Boden, als zertrete er keine fingernagelgroße Insekten, sondern ein gefährliches Untier, von dem er fürchtete, daß es ihm seine Fänge ins Fleisch trieb, wenn er es nicht mit dem ersten Angriff unschädlich machte. Er stieß immer noch diese sonderbaren, keuchenden kleinen Schreie aus. Und er hörte auch nicht auf, als vor ihm längst nichts mehr war, sondern steigerte sich in eine regelrechte Raserei.
Schließlich hob Brenner die Hand und berührte Salid an der Schulter. »Es ist gut«, sagte er. »Hören Sie auf, Salid. Es ist vorbei.«
Nichts war vorbei, und das wußten sie beide, und es war erst recht nichts gut. Aber wenn schon nicht seine Worte, so war es vielleicht das Gewicht seiner Hand, das den unseligen Bann brach. Salid fuhr herum und schlug seinen Arm so heftig zur Seite, daß Brenner beinahe aus dem Gleichgewicht geraten wäre und ein betäubender Schmerz bis in seine Schulter hinaufschoß. Aber er blickte dabei auch in Salids Augen, und er sah, daß das Feuer des Wahnsinns darin erlosch und einer noch immer tobenden, aber trotzdem anderen Furcht Platz machte. Was Salid jetzt spürte, war Angst; ein gutes Gefühl, gegen das, was zuvor von ihm Besitz ergriffen hatte.
»Es ist vorbei«, sagte Brenner noch einmal.
Salid atmete hörbar ein. Nervös fuhr er sich mit der Zungenspitze über die Lippen. »Ich … es tut mir leid.«
»Was?« fragte Brenner. »Daß Sie ein menschliches Gefühl gezeigt haben?«
»Ich habe die Kontrolle verloren«, sagte Salid. »Bitte verzeihen Sie.« Er zögerte einen kurzen, aber spürbaren Moment, dann fügte er hinzu: »Ich hasse Spinnen. Es ist albern, aber … Es wird nicht wieder passieren.«
Brenner schwieg. Es waren keine Spinnen gewesen. Nicht nur. Nicht einmal zu einem Großteil. Und drinnen im Haus waren sie zu Millionen über sie hergefallen. Wieso hatte Salid dort nicht so reagiert, wenn er tatsächlich nur an einer Arachnophobie litt?
Er wußte die Antwort, kaum daß er die Frage in Gedanken formuliert hatte, und – was vielleicht schlimmer war – Salid las es deutlich in seinen Augen. Der Palästinenser fürchtete Spinnen ebensowenig wie Maschinengewehre und Kampfhubschrauber oder irgend etwas auf dieser Welt. Das einzige, was er fürchtete, war die Angst. Und für einen Moment hatte sie ihn überwältigt. Er hatte die Kontrolle verloren; über die Situation, über das Geschehen und vor allem über sich selbst, und das war es, was ihm angst machte.
Dann, von einer Sekunde auf die andere, war er wieder er selbst. Er fuhr mit einem Ruck herum, starrte den ausgehöhlten Wagen eine halbe Sekunde lang fast haßerfüllt an und versetzte derTür schließlich einen wuchtigenTritt.
»Damit kommen wir jedenfalls nicht weiter«, sagte er zornig. Er starrte einen Moment ins Leere, drehte sich dann nach rechts, nach links und wieder nach rechts. Brenner konnte regelrecht sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Zugleich fand er mehr und mehr zu seinem gewohnten Selbst zurück. Auch wenn er vor dem Gedanken zurückschreckte: Brenner war sicher, daß Salid diese Situation begrüßte. Es war eine Herausforderung. Eine Aufgabe, die zu lösen war; etwas, wogegen er kämpfen konnte.
Schließlich drehte sich Salid erneut herum und deutete in westlicher Richtung die Straße hinab. »Dort entlang. Schaffen Sie es noch?«
Brenner nickte, blieb aber trotzdem reglos stehen. Die Straße verlor sich nach vielleicht dreißig, vierzig Metern in vollkommener Finsternis – ihm fiel erst jetzt auf, daß nicht nur sämtliche Straßenlaternen, sondern jede Beleuchtung ausgefallen war – , aber er war davon überzeugt, daß hinter dieser Dunkelheit etwas auf sie wartete. Die Männer, die gekommen waren, um sie zu töten. Oder etwas anderes. Schlimmeres.
»Warum gehen wir nicht dort entlang?« Brenner deutete auf die Baumreihe hinter dem Wagen. Er konnte nicht erkennen, was dahinter lag, vermutete aber, daß es sich um eine kleine Grünanlage oder einen Park handelte; vielleicht schon einTeil des Krankenhausgeländes. Salid hatte ja gesagt, daß sie nur einen Block davon entfernt waren.
»Weil sie damit ganz bestimmt rechnen«, antwortete Salid. »Ich habe keine Lust, einem Dutzend Scharfschützen vor die Zielfernrohre zu laufen.«
Nach allem, was sie in den letzten Minuten gesehen hatten, mußte das selbst in seinen eigenen Ohren lächerlich klingen, aber Brenner widersprach nicht. Tief in sich hatte er längst resigniert. Es war gar nicht Salids Suggestivkraft, die ihn zwang, Dinge zu tun, die er gar nicht tun wollte. Er hatte nicht mehr den Willen, irgend etwas zu tun. Vorhin hatte er Johannes mit einer Marionette verglichen, aber nun begriff er, daß er selbst es war, der an unsichtbaren Fäden hing, ja, sich mit dem letzten bißchen Kraft daran klammerte.
Sie gingen ein Stückweit schweigend die Straße hinunter, wobei Salid sich unentwegt nervös umsah; und noch nervöser mit der Waffe spielte, die er noch immer in der Rechten trug. Die Dunkelheit begleitete sie für eine Weile, aber sie war jetzt nicht mehr so vollkommen wie vorhin, als sie sie nur von außen gesehen hatten. Brenner vermied es am Anfang fast krampfhaft, zu den Häusern hinaufzublicken, an denen sie vorbeigingen. Er hatte Angst, leere Fensterhöhlen zu erblicken, Häuser ohne Türen, ohne Treppengeländer und Stufen, ohne Leben. Doch diese schlimmste aller Vorstellungen zumindest erwies sich als falsch. Schließlich sah er, fast gegen seinen Willen, doch zu der Fassade zur Linken hoch, und sie sah ganz normal aus: ein Haus ohne Licht zwar, aber unversehrt. Die Plage, die die Straße leergefegt hatte, hatte die Gebäude hier und, großer Gott, betete er, das Leben in ihnen – unberührt gelassen.