Die Handschellen schlossen sich mit einem schnappenden Geräusch um seine Handgelenke, das allein Kenneally genug über ihren Mechanismus verriet, um sie auch ohne Schlüssel öffnen zu können. Während ihn der Beamte mit einer vollkommen übertrieben heftigen Bewegung am Oberarm ergriff und vor sich hertrieb, sah sich Kenneally das erste Mal wirklich aufmerksam um.
Was er feststellte, beruhigte ihn. Alles in allem hatte er es mit weniger als einem Dutzend Beamten zu tun, und einer vielleicht dreimal so großen – und beständig anwachsenden – Anzahl von Zivilisten, die ihr Möglichstes taten, um die Straßensperre zu durchbrechen oder wenigstens einen Blick auf die andere Seite der Barriere zu werfen, die von den drei quergestellten Streifenwagen gebildet wurde. Nicht weit entfernt zuckten die Blaulichter eines Feuerwehrwagens und einer Ambulanz um die Wette. Wenn der Tanz losging, würde er keine zehn Sekunden brauchen, um zu flüchten.
»Bevor Sie auf irgendeine dumme Idee kommen«, sagte Dessler hinter ihm. »Meine Männer haben Schießbefehl. Auch auf Sie.«
Kenneally sah sich im Gehen um. Dessler war ihm gefolgt und sah nun endlich so nervös und hilflos aus, wie Kenneally es sich am Anfang ihres Gespräches gewünscht hätte. Seine letzte Behauptung war eine glatte Lüge, und nicht einmal eine sehr glaubhafte.
Kenneally blieb stehen und sah den graugesichtigen Mann durchdringend an, und zum erstenmal fiel ihm auf, wie unscheinbar er im Grunde war. Er revidierte seine Meinung über ihn abermals, und diesmal kam er der Wahrheit wahrscheinlich ziemlich nahe. Dessler gehörte offensichtlich durchaus zu jenen Männern, die in Streßsituationen über sich hinauszuwachsen vermögen. Aber er griff dabei nach jedem Strohhalm, der sich ihm bot. In diesem Falle hieß dieser Strohhalm Kenneally.
»Sie wissen nicht, worauf Sie sich einlassen«, sagte er noch einmal, und diesmal wischte Dessler den Einwand nicht mit einer Handbewegung zur Seite, sondern antwortete im gleichen Ton:
»Dann sagen Sie es mir, verdammt noch mal! «
»Ich wollte, ich wüßte es«, antwortete Kenneally. Er erinnerte sich an die Schwärze, nicht mehr. Etwas war aus dem Haus gekommen. Er wußte immer noch nicht, was, aber er wußte, daß es hierherkam. »Ich kann Ihnen nur eines sagen: Was immer Sie sehen, schießen Sie darauf.« Falls es etwas nutzt.
»Sie meinen das ernst, nicht?« fragte Dessler. »Ich meine, Sie … Sie glauben wirklich, wir sind hier in einer Ihrer BronxSchießereien oder irgendeinem dieser beschissenen Hollywood-Filme, wie? Sie müssen völlig verrückt sein! Sie … Sie können nicht einfach hierherkommen und Krieg spielen! Sie – «
Jemand schrie. Einen Moment später fiel ein einzelner Pistolenschuß, und obwohl die beiden Laute jeder für sich sonderbar dünn und fast verloren klangen, wirkte der eine wie ein Katalysator für den anderen. Für den Bruchteil einer Sekunde kehrte eine fast gespenstische Stille ein, in der selbst das asynchrone Heulen der Sirenen innezuhalten schien.
Dann brach ringsum und überall zugleich Panik aus. Kenneally sah nicht hin. Er brauchte zwei Sekunden, um den Polizeibeamten zu überwältigen, der ihn eskortierte, und weitere fünf, um sich der Handschellen zu entledigen.
Es war ein Anblick wie aus einem jener Post-Doomsday-Filme, die er früher so gerne gesehen hatte, nur weniger dramatisch, nicht in Technicolor, sondern in Schwarz-Weiß und ohne akustische Untermalung.
Vielleicht wirkte sie deshalb so entsetzlich real.
Die Straße vor dem Haus war verschwunden. Was Brenner im allerersten Moment für Dunkelheit gehalten hatte, war eine tintige Schwärze, die lautlos aus den Wolken herausgesickert war und sich als farbenvernichtendes Leichentuch über der Schöpfung ausgebreitet hatte. Und etwas von dieser Dunkelheit begann auch in seine Seele zu kriechen und sie zu zerstören; langsam, schleichend und fast ohne Schmerz.
»Was … was ist das?« flüsterte er noch einmal.
Diesmal bekam er eine Antwort, auch wenn die Worte ebensowenig an Johannes gerichtet waren, wie seine Frage ihm gegolten hatte.
»Die Ödnis«, flüsterte der junge Geistliche. »Das öde Land. Vater im Himmel, es … es hat begonnen.« Brenner sah aus den Augenwinkeln, wie Johannes sich bekreuzigte und eine Bewegung begann, wie um auf die Knie zu sinken, sie aber nicht zu Ende führte; wie eine Marionette, deren Spieler auf einmal beschlossen hatte, ein anderes Stück zu spielen. Warum fiel ihm ausgerechnet dieser Vergleich ein?
»Was hat begonnen?« fragte Salid. Es war Brenner immer noch nicht möglich, seinen Blick von der furchterregenden Schwärze jenseits der Schwelle zu lösen, aber er registrierte trotzdem, wie Salid sich herumdrehte und Johannes scharf ansah. »Was?«
»Die Apokalypse« antwortete Johannes. »Das Ende der Welt. Verstehen Sie denn nicht? Haben Sie denn keine Augen im Kopf? Sehen Sie doch hin! «
»Ich sehe nichts«, antwortete Salid. »Ausgenommen der Tatsache, daß wir vielleicht doch noch eine Chance haben.« Er wandte sich an Brenner. »Was ist mit Ihnen? Sind Sie okay?«
Ein Gefühl eindeutig hysterischer Belustigung stieg in Brenner hoch. Okay? »Das ist die lächerlichste Frage, die ich heute gehört habe«, antwortete er.
Salid nickte. »Sie sind okay«, behauptete er. »Los, jetzt weg hier. Lauft zu dem Wagen dort drüben. Ich komme sofort nach!«
Lächerlich oder nicht, Salids unheimliche Macht über Brenners Willen funktionierte noch immer. Diesmal beobachtete er sich selbst genau: Seine Gliedmaßen setzten sich nicht nur ohne, sondern eindeutig gegen seinen eigenen Entschluß in Bewegung. Ohne daß Salid ihn eigens dazu auffordern mußte, ergriff er Johannes' Hand und zog ihn mit sich die kurze Treppe hinab und auf den Wagen auf der gegenüber liegenden Straßenseite zu, auf den Salid gedeutet hatte. Es war nur einer von mehreren Wagen. Etwas stimmte nicht damit, aber er vermochte nicht zu sagen, was. Vielleicht war er es ja, mit dem etwas nicht stimmte. Sie. Johannes, Salid und er waren die einzigen lebenden Wesen in dieser Fantasy-Kulisse, und sie hatten hier ebensowenig verloren wie Häuser, die Menschen verschlangen, und Männer, deren Gesichter sich in Nichts auflösten, in der Wirklichkeit. Er hatte mehr und mehr das Gefühl, durch eine Drehtür in eine fremde, bizarre Nicht-Wirklichkeit getreten zu sein.
Und es wurde schlimmer, mit jedem Schritt, den sie sich vom Haus entfernten. Jemand hatte einen Eimer geschmolzenes Pech genommen und über der Welt ausgegossen. Die einzige Farbe, die er sah, war schwarz. Der Himmel war leergefegt; es gab keine Wolken, keine Sterne, nichts mehr, nur eine einheitliche schwarze Fläche, die mit rauchigen Fäden aus Dunkelheit mit der Erdoberfläche verbunden schien.
Sein Fuß stieß gegen ein Metallteil, das scheppernd davonrollte. Brenner sah ihm nach. Er hatte das Gefühl, es eigentlich erkennen zu müssen, aber es dauerte eine Sekunde, ehe aus diesem Gefühl auch tatsächlich Wis sen wurde: es war eine Gürtelschnalle. Die Metallteile einer Gürtelschnalle. Der dazugehörige Lederriemen fehlte. So, wie der hölzerne Schaft des Gewehres, dessen Lauf, Abzug und Schußmechanismus er daneben entdeckte. Wie das Lederarmband der Uhr, die vor ihm lag. Der Kinnriemen des Helmes. Die Kunststoffteile des Handfunkgerätes, dessen Metallskelett vor ihm glitzerte – die Straße war voller Trümmer. Waffen, Kleidungs-und Ausrüstungsstücke, vielleicht auch Dinge des alltäglichen Gebrauchs, die die Männer bei sich gehabt hatten, die das Haus stürmten. Aber alles, was nicht aus Metall oder Glas bestand, war verschwunden.
Und als hätte diese Erkenntnis einen Schleier von seinen Augen gezogen, sah er nun auch, was mit der Silhouette der Baumreihe auf der anderen Straßenseite nicht stimmte.
Sie war skelettiert. Die Bäume hatten sich in nackte, abgenagte Stämme verwandelt, an deren Ästen nichts mehr war. Aus den Büschen waren bizarre Skulpturen aus gebogenem Draht geworden, und die Erde dazwischen war so tot wie schwarze Lava. Alles Lebende war von diesem Ort entfernt worden, so spurlos und gründlich, als hätte es niemals existiert. Das kriechende Inferno hatte nicht nur das Haus und die Männer, die darin eingedrungen waren, verschlungen, sondern auch alles, was hier draußen existiert hatte.