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Der Agent entfernte sich wieder ein paar Schritte von seiner Position und blieb schließlich ein wenig abseits der geparkten Wagen stehen. Seine Finger klappten das Gerät auf und tippten eine sehr lange Nummer ein. Wie immer, wenn er diese Nummer wählte – was in den letzten Tagen ebenso beunruhigend oft der Fall gewesen war, wie es in den Jahren zuvor selten vorgekommen war, begann er sich auf eine schwer greifbare Weise unwohler zu fühlen; je mehr Zahlen er eingab und je weiter er sich der letzten Ziffer näherte, desto langsamer wurden seine Bewegungen. Vor der letzten Ziffer zögerte er eine geschlagene Sekunde.

Der Teilnehmer am anderen Ende der Verbindung meldete sich, kaum daß Kenneally den Daumen von der Tastatur gehoben hatte, und auch das war etwas, was eher zu seiner Beunruhigung beitrug, statt sie zu mildern. Früher war es anders gewesen. Es hatte manchmal lange gedauert, ehe sich jemand meldete, und manchmal war auch gar keine Reaktion erfolgt. Jetzt kam die Verbindung so schnell zustande, daß es dafür nur eine Erklärung gab: Der Teilnehmer auf der anderen Seite hatte mit der Hand auf dem Telefonhörer darauf gewartet, daß der Apparat klingelte.

»ja?«

»Smith ist tot«, sagte Kenneally übergangslos. Eine Sekunde Schweigen, dann: »Wie?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Kenneally. Einen winzigen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, seinem Gesprächspartner zu erzählen, wie er an diese Information gekommen war, entschied sich aber dann dagegen. Es zu sagen hätte auch bedeutet, von Heidmann zu berichten und dem, was der Arzt über ihn erzählt hatte. Kenneally wußte zwar, daß dieser Vorfall für seinen Gesprächspartner zweifellos von höchstem Interesse war, hielt es aber trotzdem für klüger, ihn zu verschweigen. Er hatte schon genug Probleme hier. Und wahrscheinlich hatten die Schwierigkeiten noch nicht einmal richtig begonnen. So sagte er nur: »Ich war nicht dabei. Aber er ist tot. Und die Männer, die bei ihm waren, auch.«

Ganz unwillkürlich hatte er die Stimme gesenkt, während er sprach – obwohl es eigentlich nicht nötig war. Die Verbindung war abhörsicher, und selbst wenn sie es nicht gewesen wäre, hätte niemand das Gespräch zurückverfolgen können. Unter der Nummer, die Kenneally gerade eingetippt hatte, hätte sich von jedem anderen Apparat der Welt aus ein Weingut in der Toscana gemeldet, dessen Besitzer nicht einmal wußte, daß es jemanden wie Kenneally gab; geschweige denn den Mann, mit dem der CIA-Agent sprach.

»Und die anderen?«

»Salid ist noch im Haus«, antwortete Kenneally. »Wir haben alles abgeriegelt. Er kann nicht entkommen. «

Drei, vier, fünf, schließlich zehn endlose Sekunden lang herrschte vollkommenes Schweigen, dann sagte die Stimme auf die gleiche, fast emotionslose Weise wie bisher: »Töten Sie ihn. Und seine beiden Begleiter auch.«

Kenneally war erschrocken, aber nicht überrascht. Er hatte geahnt, daß er diese Anweisung bekommen würde. Nein: Er hatte es befürchtet. »Das … ist nicht so einfach«, sagte er zögernd. »Ich fürchte, ich kann das nicht.«

»Sie müssen es. Glauben Sie mir-es ist wichtig.« »Natürlich«, beeilte sich Kenneally zu versichern. »Aber die Situation ist leider sehr kompliziert. Wir sind nicht allein. Die örtlichen Behörden laufen bereits Amok. Smith hat – « »Sie müssen es tun«, unterbrach ihn die Stimme im Hörer. »Es ist unvorstellbar wichtig. Töten Sie die drei, unbedingt.

Selbst wenn … wenn es das Leben weiterer Unschuldiger kosten würde. Der Preis spielt keine Rolle. Es steht mehr auf dem Spiel, als Sie sich auch nur vorstellen können.«

Kenneally war schockiert; nicht nur wegen dem, was sein Gesprächspartner gesagt hatte, sondern vielmehr über die Art, wie er es tat. Seit jenernTag vor nunmehr fünfzehn Jahren, an dem Kenneally die gesichtslose Stimme am Telefon das erste Mal gehörte hatte, hatte sie stets gleich geklungen: ruhig, freundlich und sehr bestimmt, aber im Grunde auch so ausdruckslos, daß sie ebensogut einer Maschine hätte gehören können. Was er jetzt darin hörte, war eindeutig eine Emotion gewesen. Und nicht irgendeine. Es war Angst.

»Wie Sie wünschen«, sagte er.

Die Verbindung wurde ohne ein Wort des Abschieds unterbrochen, und Kenneally klappte das Gerät wieder zu. Mehrere Sekunden lang starrte er den kleinen Apparat mit steinernem Gesicht an, dann klappte er ihn wieder auf und wählte eine andere, sehr viel kürzere Nummer. Diesmal meldete sich der Agent, mit dem er selbst vor ein paar Augenblicken erst gesprochen hatte.

»Kenneally hier«, sagte er. »Was haben Sie erreicht?«

Die Stimme des Agenten klang nervös und verriet sehr viel mehr über seinen wahren Zustand, als es seine Worte taten: »Ich konnte sie beruhigen, Sir. Aber ich fürchte, nicht für lange. Der Polizeipräsident dieser Stadt ist auf dem Weg hierher. Er war sehr deutlich. Wenn noch ein Schuß fällt, droht er damit, unsere Absperrung mit Gewalt durchbrechen zu lassen und uns alle zu verhaften. Wir haben noch fünf Minuten. Allerhöchstens. «

»Das reicht«, antwortete Kenneally. »Schicken Sie die Einsatzgruppe los. Wir stürmen das Haus.«

»Aber Sie, Sie – «

»Sie haben mich verstanden!« unterbrach ihn Kenneally; nicht einmal lauter, aber in scharfem, fast schneidendemTon. »Stürmen Sie das Haus. Sofort. Ich übernehme die volle Verantwortung. «

Zwei, drei Sekunden lang herrschte Schweigen, und Kenneally rechnete schon damit, daß der Mann sich weigern würde, diesen Befehl auszuführen. Genaugenommen mußte er sich weigern. Kenneally hätte an seiner Stelle nicht anders reagiert – ohne die Informationen, die er besaß. Er betete, daß seine Autorität ausreichte, um die Bedenken des Mannes zu überwinden.

»Ganz wie Sie meinen, Sir«, sagte der Agent schließlich. »Aber ich darf Sie bitten, Ihren Befehl noch einmal und vor Zeugen zu wiederholen.«

Kenneally sah in Richtung des Wagens, in dem der CIAAgent saß und mit ihm telefonierte. Er war keine fünfzig Meter entfernt, und die Situation war im Grunde schon fast absurd: Er hätte nur hingehen und seinen Befehl wiederholen müssen. Aber er rührte sich nicht von der Stelle, sondern sagte nur noch einmal:

»Ich gebe Ihnen den Befehl, das Haus zu stürmen. Ich übernehme die volle und alleinige Verantwortung für diese Aktion. Und ich will keine Überlebenden.«

»Sir?! «

»Sie haben richtig verstanden«, sagte Kenneally. Seine Stimme klang belegt, und der Speichel in seinem Mund schmeckte plötzlich bitter. Er hatte Mühe, überhaupt noch zu sprechen. »Töten Sie Salid und seine Begleiter, selbst wenn sie sich ergeben sollten. Das ist ein Befehl.«

Brenner war nicht der einzige, der die unheimlichen Laute hörte. Auch Johannes war stehengeblieben und sah sich mit kleinen, nervösen Blicken um, und obwohl er Salids Gesicht nicht erkennen konnte, spürte er die plötzlich gestiegene Anspannung des Palästinensers.

»Unheimlich«, murmelte Johannes.

Salid machte eine ärgerliche Geste, still zu sein, und Johannes fuhr sichtbar zusammen. Die winzige Bewegung allein reichte aus, um die Treppe spürbar erzittern zu lassen. Einen Moment später hörten sie ein sonderbar dumpfes, ächzendes Geräusch, dann lief ein spürbares Zittern durch das gesamte Haus.

Brenner streckte ganz automatisch die Hand nach demTreppengeländer aus, um sich daran festzuhalten, besann sich im letzten Moment darauf, was mit dem Türrahmen oben geschehen war und griff nur sehr behutsam zu. Trotzdem zerfiel das Geländer unter seinen Fingern zu einer klebrigfeuchten Masse, und diesmal war es keine Einbildung – er konnte sehen, wie etwas daraus hervorkroch und mit raschen, abgehackt wirkenden Bewegungen davonhuschte. Es verschmolz schon nach einer Sekunde mit den Schatten, aber Brenner hatte einen deutlichen Eindruck von etwas Winzigem, Dunklem mit zu vielen Beinen und glitzernden Augen. Und einem Stachel.

Angeekelt trat er einen Schritt zurück und wischte sich die Finger an der Wand auf der anderen Seite ab.

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