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»Die Amerikaner?« fragte Johannes.

Salid zuckte mit den Schultern, überlegte einen Moment und schüttelte dann den Kopf. »Nein … etwas anderes.«

Die Formulierung ließ Brenner schaudern. Etwas.

Er hatte etwas gesagt. Nicht jemand.

Salid machte eine entsprechende Geste, still zu sein, stand langsam wieder auf und begann geduckt die Treppe hinunterzugehen, sehr langsam und unendlich behutsam, wie es Brenner vorkam. Trotzdem legte er nicht mehr die gleiche Lautlosigkeit an denTag wie zuvor. Die ausgetretenen Stufen ächzten hörbar unter seinem Gewicht, und mindestens einmal glaubte Brenner ganz deutlich das Geräusch von reißendem Holz zu hören. Auch Salid zögerte einen spürbaren Moment, ehe er die Bewegung zu Ende führte, und er vermied es, die Stufe mit seinem ganzen Körpergewicht zu belasten, sondern ließ den nächsten Schritt viel schneller auf den letzten folgen als die zuvor. Erst als er dieTreppe gut zur Hälfte hinter sich gebracht hatte, gab er Brenner und Johannes einen Wink, nachzukommen.

Brenner bedeutete Johannes, noch einen Moment zu warten, und folgte Salid als erster. Sein Verhalten hatte nichts mit Mut zu tun; eher im Gegenteil. Er hätte es nicht ertragen, hinter sich nicht Johannes, sondern nichts als flüsternde Dunkelheit zu wissen.

Erst als er diesen Gedanken so formulierte, wurde ihm klar, wie sehr er der Wahrheit entsprach. Das Haus war längst nicht mehr still. Nach den Schüssen, dem Höllenlärm des Hubschraubers und ihren eigenen Gesprächen war es ihm vielleicht still erschienen, aber vermutlich war es das nie gewesen. Er hörte plötzlich, wie laut die Dunkelheit war, die ihn umgab. Das Rascheln und Knistern war noch immer da, und es schien nun tatsächlich nicht mehr nur vom unteren Ende derTreppe her zu kommen, sondern von überallher zugleich, und zu diesen mittlerweile bekannten Lauten hatten sich andere, unbekannte und unheimliche gesellt: ein Raunen, Flüstern und Wispern wie von fernen Kinderstimmen im Wind, das Huschen winziger Füßchen auf hartem Boden, ein Zirpen, Knistern, Krachen und Mahlen, Freß-und Zersetzungsgeräusche, ein unheimliches Reißen und Zerren und noch andere, undefinierbare, aber auch unheimliche Laute. Es war, als wäre das ganze Haus rings um ihn herum zum Leben erwacht.

»Was soll das heißen – er ist weg?« Kenneally gab sich Mühe, nicht zu schreien, aber es gelang ihm eigentlich nur, weil es ihm trotz seiner scheinbar perfekten Aussprache noch immer Mühe bereitete, sich überhaupt in dieser fremden Sprache auszudrücken. Sie war so furchtbar unpräzise, und sie gehorchte Regeln, die ihm manchmal regelrecht barock vorkamen und viel komplizierter, als vonnöten gewesen wäre.

Im Moment war er allerdings nicht in der Stimmung, über die grammatikalischen Fußangeln der deutschen Sprache nachzudenken. Er mußte sich viel zu sehr zusammenreißen, um diesen Dummkopf vor sich nicht am Kragen zu packen und so lange zu schütteln, bis ihm die randlose Brille von der Nase rutschte.

»Aber es ist so!« verteidigte sich sein Gegenüber. »Ich verstehe es ja selbst nicht, aber er … als ich gerade zum Wagen zurückgehen wollte, kam er mir entgegen! Er ist einfach aufgestanden und weggegangen! «

»Einfach so?« vergewisserte sich Kenneally. »Und Sie haben nicht versucht, ihn aufzuhalten?«

»Aufhalten?« Der Arzt blinzelte verständnislos. »Aber warum denn?«

»Wa-?« Kenneally japste hörbar, und sein Entsetzen war nicht einmal gespielt. Diesmal brauchte er tatsächlich mehrere Sekunden, bis er sich wenigstens wieder so weit in der Gewalt hatte, daß er weiterreden konnte. »Hören Sie, Mister: Noch vor fünf Minuten haben Sie mir erzählt, daß der Mann eine lebensgefährliche Schußwunde in der Brust hätte. Sie haben behauptet, er wäre gelähmt. Und jetzt erzählen Sie mir, er wäre aufgestanden und so mir nichts, dir nichts davonspaziert?! «

»Ich weiß, wie es sich anhören muß«, antwortete der Arzt.

»Aber ganz genau so war es! Ich … ich verstehe es ja selbst nicht.«

Seine Stimme klang fast gequält, und wäre Kenneally nur ein kleines bißchen weniger wütend gewesen, hätte er vielleicht sogar Mitleid mit ihm empfunden. Der Mann sah bei genauem Hinsehen nicht nur verstört, sondern Schlichtweg fassungslos aus. Aber Kenneally war nicht in der Stimmung, genauer hinzusehen. Er war in der Stimmung, etwas ganz anderes zu tun.

»Ich schätze, Sie verstehen eine ganze Menge nicht«, sagte er in bewußt verletzendemTon. »Vielleicht Ihren Beruf?«

Die Verwirrung in den Augen des Notarztes machteÜberraschung und eine halbe Sekunde später dem Feuer gerechter Empörung Platz, aber Kenneally gab ihm keine Gelegenheit, zu protestieren, sondern drehte sich abrupt um und ließ ihn einfach stehen. Seine Zeit war zu kostbar, um sie mit einem sinnlosen Streit zu vertun. Außerdem tat es javielleicht gut, seinem Ärger ein bißchen Luft zu machen, indem er auf diesem armen Kerl herumtrampelte – der überdies nichts dafür konnte, denn von den wahren Zusammenhängen hatte er nicht einmal eine Ahnung – , es brachte aber nichts ein; ein billigerTriumph, der mehr schadete als nutzte.

Er steuerte mit energischen Schritten den Wagen an, der auf der anderen Straßenseite stand, aber schon auf halbem Wege kam ihm einer seiner Männer entgegen. Er wirkte sehr aufgeregt; und sehr besorgt. Kenneally hätte seine Worte gar nicht hören müssen, um den Grund für beides zu wissen.

»DasTelefon glüht«, begann der Agent übergangslos. »Wir brauchen jetzt eine Entscheidung, Sir. Die deutschen Behörden werden nicht mehr lange stillhalten.«

Die deutschen Behörden können mich mal, dachte Kenneally. Laut sagte er: »Beruhigen Sie sie, irgendwie. Verdammt, Sie sind doch für eine solche Situation ausgebildet worden, oder?«

Überhaupt nicht, antwortete der Blick des Mannes, und das entsprach durchaus der Wahrheit. Die Männer waren auf denkbare Situationen vorbereitet, aber nicht darauf, in einer

belebten Stadt inmitten eines befreundeten Landes einen fast kriegsmäßigen Einsatz durchzuführen. Der Agent war klug genug, diesen Einwand zumindest nicht laut vorzubringen, aber er schüttelte trotzdem den Kopf und fuhr fort:

»Ich weiß nicht, wie lange ich sie noch hinhalten kann. Der Polizeipräsident droht, unsere Straßensperre mit Gewalt zu durchbrechen, wenn wir seine Leute nicht durchlassen.«

Der Helikopter, dachte Kenneally. Das war dieser dreimal vermaledeite Helikopter! Smith hätte ihn niemals anfordern dürfen.

Er konnte sich lebhaft vorstellen, was jetzt in den Büros der örtlichen Polizei vor sich ging. Sie hatten natürlich die Schüsse gehört – verdammt noch mal, sie hatten Maschinengewehrsalven gehört! – , und wenn das noch nicht gereicht haben sollte, sie aufzuschrecken, dann hätte es der Hubschrauberlärm getan. Smith mußte völlig den Verstand verloren haben, einen Kampfhubschrauber mitten in der Stadt das Feuer auf ein Wohnhaus eröffnen zu lassen! Aber Smith war tot, und wie es aussah, blieb die ganze Scheiße wieder mal an ihm hängen. Die ganze Geschichte drohte ihm aus den Händen zu gleiten. Wenn die Sache weiter eskalierte, würde er sich am nächsten Morgen vielleicht fragen lassen müssen, wie es kam, daß an diesem Abend CIA-Agenten auf deutsche Polizeibeamten geschossen hatten und umgekehrt, statt gemeinsam gegen Salid und seine Begleiter vorzugehen …

Das durfte nicht geschehen.

»Also gut«, sagte er. »Ich rede mit ihnen. Halten Sie sie fünf Minuten hin. Sagen Sie, daß ich mich melde und bis dahin hier nichts weiter geschieht. Irgendwas. Ich brauche fünf Minuten.«

Der Agent wirkte immer noch nicht überzeugt, aber er protestierte jetzt nicht mehr, sondern drehte sich mit einem angedeuteten Achselzucken um und verschwand mit schnellen Schritten in die Richtung, aus der er gekommen war.

Kenneally blickte ihm nach, aber er tat es, ohne ihn wirklich zu sehen; so wenig, wie er in diesem Moment die anderen Männer dort drüben gesehen hätte oder die Wagen oder die Baumreihe, die ein stummes Spalier zwischen der Straße und der zu Ende gehenden Nacht bildete. Sein Blick war auf einen imaginären Punkt im Nichts gerichtet, und hätte ihm jemand in diesem Moment ins Gesicht gesehen, wäre er zweifellos erschrocken; denn was immer Kenneally in diesen Sekunden auch sah, es war nichts Gutes. Schließlich schloß er für einen Moment die Lider, seufzte sehr tief und sehr leise und ließ die rechte Hand in die Jackentasche gleiten. Als er sie wieder hervorzog, hielt sie ein kleines, scheinbar vollkommen normales Funktelefon.

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