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Mit einem Male wurde ihm klar, daß diese Erkenntnis noch eine weitere, vielleicht noch schlimmere Konsequenz hatte: er befand sich in Gefahr. Einer unvorstellbaren Gefahr, gegen die es absolut keine Gegenwehr gab. Auf einer anderen Ebene seines Bewußtseins wunderte sich Heidmann beinahe, daß er überhaupt noch in der Lage war, so etwas Banales wie Furcht zu empfinden, aber er empfand sie, und sie steigerte sich in Sekunden zu nackter Panik.

Er war so gut wie tot. Im Augenblick wichen die Insekten zwar noch immer vor ihm zurück, so daß er und das, was von Smith übriggeblieben war, sich genau im Zentrum eines rasch größer werdenden Kreises freien Bodens befanden, aber das änderte nichts daran, daß die tödlichen Kreaturen praktisch jeden Quadratzentimeter dieses Raumes bedeckten. Es waren nur winzige Insekten, aber es waren Unzählige, Milliarden und Abermilliarden winziger gepanzerter Krie ger, die in ihrer Gesamtheit eine riesige Freßmaschine bildeten, in deren Magen er sich befand. Er hatte gesehen, was sie Smith angetan hatten, und sie hatten es so schnell getan, daß der Amerikaner offenbar nicht einmal Zeit gefunden hatte, seine Waffe abzufeuern. Den Schuß hätten sie selbst draußen gehört.

Heidmann sah sich verzweifelt nach einem Fluchtweg um. Die Insekten waren überall – auf dem Boden, den Wänden, der Decke. Sie bildeten ein wimmelndes Muster auf der Tapete, flossen als knisternder, beweglicher Überzug über die Möbel und bedeckten die Fensterscheibe, hingen in großen, zitterndenTrauben von der Decke und waren vermutlich auch draußen im Hausflur. Der Polizist hatte aufgehört, sich zu übergeben, aber Heidmann hörte auch sonst nichts mehr von ihm. Vielleicht war er bereits tot.

Er hob in einer Geste vollkommener Hilflosigkeit die Pistole und zielte auf die Front klickender, rasselnder sechsbeiniger Zwergenritter, die ihn umgab, dann ließ er sie wieder sinken. Das Gewicht der Waffe verlieh ihm kein Gefühl von Sicherheit, sondern führte ihm die Ausweglosigkeit seiner Situation im Gegenteil nur noch deutlicher vor Augen. Trotzdem steckte er die Pistole nicht sofort ein, sondern drehte sich ein weiteres Mal und etwas langsamer im Kreis. Sein Fuß stieß dabei versehentlich gegen Smith' Schläfe. Der ausgehöhlte Totenschädel rollte wie eine mißgestaltete Bowlingkugel davon und verschwand in der Front der Insekten, deren Rückzug mittlerweile zum Stehen gekommen war. Dutzende der winzigen Kreaturen wurden einfach zerquetscht, aber schon einen Moment später war der Totenschädel verschwunden; jetzt nicht mehr als eine formlose Verdickung inmitten der Insektenarmee, deren Inneres von neuem, ungutem Leben erfüllt wurde.

Der Anblick war so entsetzlich, daß Heidmann instinktiv einen Schritt zurückprallte, ehe ihm bewußt wurde, daß er sich dadurch den Insekten in seinem Rücken wieder näherte und womöglich Gefahr lief, das Schicksal des Totenschädels zu teilen. Erschrocken blieb er stehen und fuhr auf dem Absatz herum.

Er hatte sich den Insekten nicht genähert. Die Front der Tiere war im gleichenTempo vor ihm zurückgewichen, in dem er sich auf sie zu bewegte.

Heidmann sah verblüfft hinter sich. Die Tiere waren dort wieder näher gekommen, so daß er sich noch immer im Zentrum eines perfekten, zwei Meter messenden Kreises befand. Heidmann machte einen zögernden Schritt, und der Kreis freien Bodens wanderte mit ihm. Er blieb wieder stehen, nahm all seinen Mut zusammen und trat dann einen Schritt zurück. Diesmal bewegte sich der Kreis nicht mit, sondern blieb, wo er war, so daß er sich nicht mehr in seinem Mittelpunkt befand. Erst als er sich wieder der Tür näherte, begannen die Insekten seine Bewegung erneut nachzuvollziehen.

Die Bedeutung dieser Beobachtung war so klar, daß Heidmann für einen Moment sogar seine Panik vergaß und die wimmelnde Insektenflut aus fassungslos aufgerissenen Augen anstarrte. Sie ließen ihn gehen! Es war vollkommen unmöglich. Es war absurd. Es war lächerlich, aber sie ließen ihn gehen!

Unmöglich! dachte er. Es konnte nicht sein. Insekten waren nicht zu einer so abstrakten intellektuellen Leistung fähig! Sie griffen ihre Opfer an oder ignorierten sie, aber sie waren nicht in der Lage, einem Gedankengang zu folgen, der darin gipfelte, einem Eindringling freien Abzug zu gewähren, solange er sich an die vorgegebene Richtung hielt.

Aber Insekten töteten auch normalerweise keine Menschen und nahmen dann die Stelle des Fleisches ein, das sie aufgefressen hatten …

Unendlich behutsam bewegte sich Heidmann weiter. Er hatte Angst, das Wunder selbst zu zerstören und die Tiere vielleicht durch eine unbedachte Bewegung zum Angriff zu reizen, aber seine schreckliche Eskorte rückte nicht näher. Der Kreis vollzog jede seiner Bewegungen getreulich nach, überflutete Smith' Skelett und eskortierte ihn zurTür und weiter hinaus auf den Flur.

Von den drei Polizeibeamten war keine Spur mehr zu sehen, aber Heidmann entdeckte auch keine Uniformfetzen oder Knochen. Dafür sah er etwas, das ihn fast noch mehr entsetzte: Aus irgendeinem Grund war es heller geworden, so daß er erkennen konnte, daß es auch hier draußen von Insekten wimmelte. Boden, Decke und Wände waren von einer brodelnden schwarzbraunen Schicht bedeckt, die mit jeder Sekunde noch weiter anzuwachsen schien.

Etwas berührte seinen Fuß; ein kaum spürbares, zaghaftes Zupfen, das er unter normalen Umständen kaum registriert

hätte. Jetzt aber waren alle seine Nerven bis zum Zerreißen angespannt, und er sah, hörte und fühlte zehnmal besser als sonst. Erschrocken senkte er den Blick – und prallte mit einem keuchenden Schrei zurück.

Er war stehengeblieben, nachdem er das Zimmer verlassen hatte, das zu Smith' Grab geworden war, aber der Kreis aus Insekten bewegte sich weiter; nicht einmal sehr schnell, aber unerbittlich. Die Bedeutung dieser Geste war klar: VERSCHWINDE! Sie war so deutlich, daß er das Wort regelrecht zu hören glaubte.

Heidmann fuhr herum und rannte schreiend auf den Ausgang zu. Der lebende Teppich teilte sich vor ihm aber nicht schnell genug, unter seinen Füßen wurden Hunderte der winzigenTiere zermalmt, so daß sich schon nach wenigen Schritten eine schmierige Schicht unter seinen Schuhsohlen bildete, auf der er auszugleiten drohte. Mehr taumelnd als rennend erreichte er die Tür, prallte ungeschickt dagegen und schaffte es erst beim zweiten Versuch, sie zu öffnen.

Als er auf die Straße hinauslief, fiel ein greller Scheinwerferstrahl in sein Gesicht. Eine Lautsprecherstimme schrie etwas, das er nicht verstand, denn unmittelbar über dem Haus kreiste mittlerweile ein Helikopter, dessen wirbelnde Rotoren einen heulenden Miniaturorkan entfachten. Das Licht war so grell, daß Heidmann instinktiv stehenblieb, sich duckte und schützend die rechte Hand vor die Augen riß. Er hatte vergessen, daß er noch immer die Pistole darin trug.

Eine ganze Salve von Schüssen fiel. Das Heulen der Hubschrauberturbine verschlang jedes Geräusch, aber zwischen den Büschen auf der anderen Straßenseite stachen plötzlich mehr als ein Dutzend winziger, orange-weißer Flämmchen hervor. Praktisch im gleichen Augenblick zerplatzte die Fensterscheibe neben ihm und aus dem Mauerwerk zu beiden Seiten der Tür stoben Funken.

Mehrere Dinge geschahen gleichzeitig: In der Fensterscheibe unmittelbar neben Brenners Gesicht erschien ein daumen

nagelgroßes, rundes Loch mit milchig zersplitterten Rändern, dann fiel die gesamte Scheibe wie in Zeitlupe zusammen, und ein heulender, unglaublich kalter Wind schlug Brenner ins Gesicht. Er hatte den Schuß nicht einmal gehört, ebensowenig wie den zweiten, aber er konnte die Kugel deutlich spüren, die ihn um wenige Zentimeter verfehlte, ehe sie sich auf der anderen Seite des Zimmers in die Wand grub. Salid schrie ihm eine weitere Warnung zu, aber er stand noch immer wie gelähmt da. Genau wie gerade eben draußen auf dem Flur wußte er genau, daß er sterben würde, wenn er sich nicht bewegte, und genau wie gerade konnte er es einfach nicht.

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