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oder Popcorn, das unter dem Gewicht seinerTritte zerbrach.

»Smith! « rief er laut. »Sind Sie hier?«

Keine Antwort. Das Hämmern der Schüsse aus dem Obergeschoß hielt für einen Moment inne und schien dann doppelt laut weiterzugehen, aber seine Augen hatten sich nun auch an die veränderten Lichtverhältnisse hier drinnen gewöhnt. Er konnte seine Umgebung zumindest in Umrissen erkennen – ein schmaler Flur, der zu einer ebenso schmalen, steilen Treppe führte und hier unten drei Türen hatte, von denen eine offenstand. Dahinter brannte Licht. Sonderbarerweise erhellte der Schein nur den Türrahmen und fiel nicht in den Flur hinaus, aber Heidmann war nicht in dem Zustand, über dieses Phänomen nachzudenken. Er warf einen raschen Blick zurTreppe hinauf und kam zu dem Schluß, daß es glatter Selbstmord wäre, jetzt dort hinaufzugehen; die Frage war nicht ob, sondern von welcher Seite er erschossen wurde, wenn er das tat.

Er bedeutete seinen Männern mit einer wortlosen Geste, ihm zu folgen, wies dann auf die beiden geschlossenen und als letztes auf die offenstehende Tür. Sein unausgesprochener Befehl wurde präzise befolgt. Zwei der Polizeibeamten öffneten die Türen und verschwanden mit angeschlagenen Waffen in den dahinter liegenden Räumen, während der dritte an seine Seite trat.

Mit klopfendem Herzen näherte sich Heidmann der erleuchteten Tür. Er konnte einen schmalen Ausschnitt des dahinterliegenden Raumes erkennen; eine kleine, schäbige Küche mit billigen Möbeln und alten Tapeten, deren Muster sich vor seinen Augen zu bewegen schien. Auf dem Boden lag ein zerschlissener braunerTeppich.

Irgend etwas sagte ihm, daß er diesen Raum besser nicht betrat, und das Gefühl war so deutlich, daß er tatsächlich noch einmal zögerte, ehe er die Schwelle überschritt. Wäre er allein gewesen, hätte er vermutlich auf diese Warnung gehört.

»Smith?« rief er laut. »Smith – sind Sie hier? Kenneally?«

Er bekam keine Antwort, und diesmal hatte ihn sein Gefühl nicht getrogen. Heidmann trat mit einem entschlossenen Schritt vollends in den Raum hinein und sah zwei reglose Gestalten auf dem Boden liegen. Er erkannte sofort, daß sie tot waren, und er wußte auch sofort, um wen es sich handelte: Neben einer umgestürzten Aluminiumleiter unter dem Fenster lag eine grauhaarige Frau von vielleicht fünfzig oder sechzig Jahren, die in einen zerschlissenen Kittel gehüllt war und bei der es sich offensichtlich um die Besitzerin dieses Etablissements handelte. Der zweiteTote war Smith. Er lag unmittelbar hinter derTür auf dem Rücken und starrte aus weit aufgerissenen Augen gegen die Decke. Etwas stimmte nicht mit seinem Gesicht, aber Heidmann konnte im allerersten Moment nicht sagen, was.

Er verschwendete auch keinen zweiten Gedanken an diese Frage, sondern trat mit einem raschen Schritt über den Leichnam des Amerikaners weg und drehte sich zugleich einmal im Kreis. Die Waffe, die er nun mit beiden Händen hielt, machte die Bewegung getreulich mit, und sein Zeigefinger hatte den Abzug nun fast bis zum Druckpunkt durchgezogen. Ganz gleich, was er noch vor ein paar Minuten selbst gedacht hatte, er hätte geschossen, hätte sich Smith' Mörder noch im Raum aufgehalten.

Aber er war allein. Das Zimmer hatte keinen zweiten Ausgang, und die spärlichen Möbel boten kein Versteck, das groß genug gewesen wäre, einen Menschen zu verbergen. Wer immer den CIA-Mann umgebracht hatte, war nicht mehr da.

Heidmann ließ mit einem erleichterten Seufzer die Waffe sinken und drehte sich wieder zu Smith' reglosem Körper herum. Sein Blick streifte dabei das Gesicht des Polizeibeamten, der ihm gefolgt war. Der Mann stand in einer fast grotesken, mitten in der Bewegung erstarrten Haltung unter der Tür und starrte Smith an. Sein Gesicht hatte jede Farbe verloren, und die Augen quollen vor Entsetzen weit aus den Höhlen. Er zitterte am ganzen Leib.

Selbst angesichts ihrer prekären Situation erschien Heidmann dieses Verhalten zumindest ungewöhnlich. Anders als in amerikanischen Serienkrimis sahen echte Polizisten nicht jedenTagTote, aber sie sahen sie, und die meisten Unfallopfer boten einen weit schlimmeren Anblick als ein Ermordeter.

Heidmann wollte eine entsprechende Bemerkung machen, aber dann fiel sein Blick wieder auf Smith, und im gleichen Moment begriff er sowohl den Grund für das Entsetzen in den Augen des Polizeibeamten, als auch den für das vage Gefühl von Unrichtigkeit, das ihn quälte. Was nicht richtig war, war Smith' Gesicht.

Es war gar kein Gesicht. Es sah aus wie ein Gesicht, es ähnelte den kantigen Zügen des CIA-Beamten bis ins Detail, aber es war das dritte Mal, daß Heidmann das unheimliche Gefühl hatte, etwas wie reine Bewegung ohne den dazugehörigen Körper zu sehen. Diesmal hielt die Illusion nur einen Sekundenbruchteil an, ehe er erkannte, was sich da bewegte.

Smith Gesicht brodelte. Es wimmelte. Seine vierschrötige Physiognomie schien in Hunderte und Aberhunderte winziger, asymmetrischerTeile zerbrochen zu sein, die perfekt ineinander paßten, von denen sich aber jedes einzelne unabhängig von allen anderen ständig bewegte, so daß das ganze Gesicht zu kochen und sich unentwegt zugleich aufzulösen als auch wieder neu zu formen schien.

Und genau dies geschah. Was er für Smith' Gesicht gehalten hatte, hatte nichts mit einem menschlichen Antlitz zu tun. Es waren Insekten. Tausende und Abertausende winziger, schimmernder Rückenpanzer in verschiedenen Farben und unterschiedlichen Formen, die jede für sich nicht größer als der Fingernagel eines Säuglings waren und sich zu einer perfekten Mimikri zusammengefügt hatten, die sie eine genaue Kopie des CIA-Mannes werden ließ. Beigefarbenes Chitin bildete die Haut und die Lippen, die dunkleren Rückenpanzer einiger größerer Käfer die Augen. Wimpern und Brauen wurden von einem Wald mikroskopisch feiner Fühler imitiert, die Zunge hinter den halb geöffneten Lippen schließlich war ein ineinandergeknoteter Strang rosafarbener nackter Würmer.

Heidmann wollte schreien, aber es ging nicht. Für einen Moment hatte er jede Kontrolle über seinen Körper verloren. Er konnte nur dastehen und die furchtbare Schimäre anstarren, die da aus den tiefsten Abgründen seiner eigenen Seele emporgestiegen war, um ihn mit dem absoluten Horror zu konfrontieren – denn das war die einzige Erklärung, die es für diesen Anblick gab. Er konnte nicht real sein. Er war zu bizarr, um Wahrheit zu sein, zu entsetzlich, um wirklich zu geschehen. Für eine letzte, verzweifelte Sekunde klammerte er sich mit aller Kraft an diese Vorstellung. Er erlebte das nicht wirklich!

Dann fuhr der Polizist neben ihm herum, taumelte wieder auf den Flur hinaus und begann sich dort würgend zu übergeben, und das Geräusch ließ nicht nur die Illusion zerplatzen und die Lähmung von Heidmann abfallen, es machte ihm auch klar, daß er sich in gleich zweifacher Hinsicht getäuscht hatte: Was er sah, war keine Halluzination, und es war auch keineswegs der absolute Horror. Es konnte schlimmer werden, denn als hätte diese Erkenntnis den unheimlichen Zauber gebrochen, begann sich Smith' Gesicht nun tatsächlich aufzulösen. Die imitierten Züge zerflossen, als die Insekten wie auf ein lautloses Kommando hin in allen Richtungen davonzueilen begannen. Darunter kam ein kahler, augenloserTotenschädel zum Vorschein, so blank und weiß wie eine Kopie aus Kunststoff und mit leeren Augenhöhlen, hinter denen es ebenfalls wimmelte und wuselte.

Und was für den Kopf galt, galt auch für den ganzen Körper. Smith' Hände rissen in Sekundenschnelle auf und ließen dünne Skelettfinger zurück, die haltlos auseinanderbrachen und einen wirren Knochenhaufen wie das Orakel eines höllischen Schamanen bildeten. Die Kleider begannen einzufallen wie ein Ballon, aus dem die Luft entweicht, als ein brodelnder Strom winziger Insekten aus den Ärmeln, den Hosenbeinen, den Kragen der plötzlich leeren Hülle hervorströmte. Der ganze entsetzliche Vorgang dauerte nicht einmal fünf Sekunden, dann stand Heidmann vor einem leeren Maßanzug, der sich über blankgefressenen Knochen spannte und inmitten eines größer werdenden Kreises aus Insekten, die in allen Richtungen vor ihm davonwichen. Mit ihnen verschwand derTeppich, der niemals ein Teppich gewesen war. Heidmann begriff plötzlich, woher das unheimliche Popcorngeräusch gekommen war, das seine Schritte verursachten: Was er für einenTeppich gehalten hatte, war eine zentimeterdicke Schicht aus Milliarden winziger Insekten, die den Boden lückenlos bedeckte, so wie auch das Muster auf denTapeten nicht aus Papier und Farbe bestand, sondern aus Chitin und Fühlern, Beinen und Flügeln und mikroskopisch feinen, schimmernden Kristallaugen. Seine verzweifelte Hoffnung, einer Halluzination erlegen zu sein, hatte sich nicht erfüllt. Die Bewegung, die er im Nichts zu sehen geglaubt hatte, war real, und sie hatte Substanz.

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