Hatte er gerade geglaubt, seine Furcht im Zaum zu haben? Lächerlich. Sie war da, und sie flüsterte mittlerweile so laut, daß sie in seinen Ohren dröhnte. Er vermied es krampfhaft, durch die offenstehenden Türen der anderen Zimmer zu blicken, obwohl er wußte, daß dahinter nichts war. Aber er hätte dieses Nichts jetzt deutlicher gesehen, und vielleicht auch noch mehr. Wenn er Dinge sah, die nicht da waren, warum dann nicht umgekehrt Dinge nicht sehen, die da waren? Er hätte es nicht ertragen, in eines der Zimmer zu sehen und im Bett einen schlafenden Patienten vorzufinden.
Es waren nur wenige Schritte. Obwohl er sehr langsam ging, dauerte es bestenfalls eine Minute; aber sie kam ihm vor wie ein Jahr. Noch vor zehn Minuten hätte er es für unmöglich gehalten, aber jetzt war er erleichtert, wieder in dem Zimmer zu sein, das ihm in den letztenTagen wie ein Kerker vorgekommen war. Es war kein Kerker. Es war seine Zuflucht. Die Dunkelheit war nicht sein Feind, sondern ein Schutz vor dem Wahnsinn, der dahinter lauerte, die blinkenden Apparate neben seinem Bett waren seine Wächter, und die Nadel, die in seinem Handrücken steckte und sich jetzt mit pochenden Schmerzen wieder in Erinnerung brachte, war seine einzige Waffe. Er war hier nicht gefangen, sondern sicher. Er hätte niemals aufstehen und schon gar nicht sein Zimmer verlassen dürfen.
Brenner schloß sorgsam die Tür hinter sich, ging zu seinem Bett zurück und ließ sich behutsam auf die Kante nieder. Aber statt sich vollends zurückzulehnen und die Bettdecke wie in Kindertagen über den Kopf zu ziehen – und nach nichts anderem war ihm zumute – , saß er einfach da und starrte ins Leere. Er sah das Gesicht noch immer, und das Wissen, daß es nur Einbildung gewesen war, nutzte überhaupt nichts. Vielleicht, weil er sich in einem Dilemma befand, aus dem es keinen Ausweg zu geben schien. Er konnte glauben, daß er das alles gerade wirklich erlebt hatte, aber das hätte bedeutet, daß er die Treppe weitaus mehr als fünfunddreißig Stufen hinuntergestürzt war, nämlich nicht nur bis auf den Kellerboden, sondern bis in eineTiefe, in der Begriffe wie Realität und Logik nicht mehr viel galten. Oder er konnte glauben, es sich wirklich nur eingebildet zu haben. Aber er wußte nicht, ob ihm diese Erklärung tatsächlich besser gefiel. Was war besser? In einem fremden Kontinuum gestrandet zu sein oder den Verstand verloren zu haben?
Er brauchte Gewißheit. Aber wie? Er wußte ja noch nicht einmal, ob es dieses Mädchen überhaupt gegeben hatte, und nicht nur sie, sondern diese ganze verrückte Geschichte, die beim Anblick ihres Gesichts wieder in seiner Erinnerung aufgetaucht war. Da war der Priester gewesen, der gesagt hatte, sie sei wichtig; aber vielleicht hatte er ja nur geblufft, um mehr aus ihm herauszukriegen? Ein Journalist, der sich als Jesuit ausgab und über ein Mädchen sprach, das er gar nicht kennen konnte – das klang nicht besonders überzeugend.
Frage: Wie konnte man entscheiden, was wirklich war und was nicht, wenn man keinerlei Vergleichsmöglichkeiten hatte?Antwort: Überhaupt nicht.
Der Gedanke war eher ernüchternd als erschreckend. Und so ganz nebenbei war er nicht richtig. Er hatte eine Möglichkeit. Sie gehörte zu all den Erinnerungen, die so plötzlich in seinem Gedächtnis aufgetaucht waren. Er war nur nicht ganz sicher, ob er sie nutzen wollte.
Trotzdem blieb er nur noch einen Moment reglos sitzen, dann stemmte er sich wieder hoch und ging mit schleppenden Schritten zur Tür und dem schmalen Einbauschrank in der Wand daneben. Seine Beine fühlten sich mit einem Male an wie mit Blei gefüllt. Seine gerade erst zurückgekehrten Kräfte ließen bereits wieder nach, aber nach dem Raubbau, den er damit betrieben hatte, war das wohl auch kein Wunder.
Mit zitternden Fingern öffnete er die Schranktür und gewann einige weitere Sekunden, indem er seine Kleider betrachtete. In jeder anderen Situation hätte er sich gefragt, warum man sich überhaupt die Mühe gemacht hatte, sie aufzuhängen.
Es waren nur noch Fetzen. Hose und Jacke waren zerrissen und so verdreckt, daß ihr ursprüngliche Farbe kaum noch zu erkennen war, und in der Jacke – und auch dem Hemd, dessen angesengter Kragen darunter zum Vorschein kam – klaffte ein gewaltiges Loch mit verbrannten Rändern, wo ihn das MG-Geschoß gestreift hatte. Es war schwer vorstellbar, daß jemand, der in diesen Kleidern gesteckt hatte, noch am Leben sein sollte. Und noch schwerer vorstellbar, daß er dieser Jemand sein sollte. Außerdem gab es einen weiteren, beunruhigenden Aspekt an diesem Anblick: Er schien das, woran er sich erinnerte – nein, verdammt. zu erinnern glaubte! – , zu bestätigen.
Seine Hände begannen stärker zu zittern. Noch vor einer Sekunde hatte er geglaubt, die Ungewißheit nicht ertragen zu können. Jetzt war er nicht mehr sicher, ob er die Gewißheit ertragen konnte. Warum nicht wieder ins Bett gehen, die Augen schließen und darauf hoffen, sich nur an einen weiteren, völlig abgedrehtenTraum zu erinnern, wenn er sie wieder aufmachte; wenn er wirklich verrückt war, spielte es letztendlich keine Rolle, ob er den Beweis dafür eine Stunde früher oder später bekam.
Aber er konnte auch genausogut seine Brieftasche herausnehmen und nach diesem Beweis suchen.
Sie befand sich in einem kaum besseren Zustand als der Rest seiner Kleidung. Das Leder war angesengt und offenbar naß geworden, denn es fühlte sich brüchig und stumpf an, und ihr Inhalt war zum Großteil zu einer formlosen grauen Masse zusammengepappt. Der einzig relativ unbeschadete Teil war der blanke Hohn: die goldene Eurocard, die die ganze Katastrophe letztendlich ausgelöst hatte. Wer hatte je behauptet, daß das Schicksal keinen Sinn für Humor hätte? Es hatte einen, aber er war ziemlich schwarz.
Brenner biß die Zähne zusammen und versuchte die aufgeklappte Brieftasche mit der rechten Hand zu halten, ohne die Nadel dabei noch tiefer in sein Fleisch zu treiben, während er mit der linken die zusammengeklebten Papiere auseinanderzog. Nichts davon war noch zu gebrauchen, aber den Verlust würdeer verschmerzen. einige Quittungen, ein paar Notizzettel, eine Tankquittung …
… und beinahe als letztes den abgelaufenen Parkschein, auf dessen Rückseite er die Telefonnummer von Astrids Eltern notiert hatte.
Er war ebenso aufgeweicht wie alles andere, was sich in seiner Brieftasche befunden hatte, aber es gab einen Unterschied. Die Feuchtigkeit hatte weder vor Tinte noch vor Kugelschreiber, Bleistift oder Druckerschwärze Halt gemacht und alles Geschriebene zu einem einzigen Brei verwischt. Nur die mit vor Kälte krakeliger Schrift hingekritzelte Telefonnummer war so deutlich zu lesen, als wäre sie vor einer Minute geschrieben worden. Sie war weder verlaufen noch unleserlich, sondern schien ihn höhnisch anzugrinsen.
Brenner starrte die zehnstellige Ziffernkombination an, und er wußte, was geschehen würde, aber er konnte nichts dagegen tun. In seinem Kopf begann sich etwas zu drehen, und nur einen Moment später kippte das Zimmer vor seinen Augen zuerst nach rechts, dann sehr viel weiter nach links und erlosch schließlich. Letztendlich hatte das Schicksal wohl doch noch eine Spur von Mitleid und ließ ihn in Ohnmacht fallen.
Beinahe wäre er ein Opfer seiner eigenen Vorsicht geworden. Etwas stimmte in diesem Krankenhaus nicht, und man mußte kein gesuchter Berufsterrorist sein, um das zu begreifen. Schon auf dem Weg nach oben war ihm die Stille aufgefallen. Krankenhäuser – zumal morgens um vier – gehörten zwar nicht unbedingt zu den Orten, an denen es lautstark wie auf dem Fischmarkt zuging, aber zumindest hier in der dritten Etage, in die er dem Eindringling gefolgt war, war es einfach zu still.
Salid hörte absolut nichts. Der Eindringling – es war ein relativ junger, hellhäutiger Mann mit kurzgeschnittenem blondem Haar und für die Witterung viel zu dünner Kleidung hatte darauf verzichtet, den Aufzug zu benutzen, sondern war die Treppe hinaufgegangen. Um sich nicht zu verraten, hatte Salid ihm einen gewissen Vorsprung gelassen – und wäre um