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Sein eigener Gedanke von gerade schoß ihm noch einmal durch den Kopf, und plötzlich fand er ihn gar nicht mehr lustig. Mit ziemlicher Sicherheit befand sich in dem Gebiet, aus dem die Männer kamen, keine Atombombe, aber es mußte wohl etwas in dieser Preisklasse sein; vielleicht nicht ganz so groß, aber für die, die es betraf, von ebenso dramatischer Wirkung.

Die Bilder schlugen Brenner so sehr in ihren Bann, daß er die Stimme des Kommentators kaum noch hörte. Hin und her gerissen zwischen Furcht und einer nie gekannten, morbiden Faszination sah er zu, wie sich die kleine Kolonne im Schritttempo ihren Weg durch die Menschenmenge bahnte, wobei sie nicht besonders gut voran kam und zwei-oder dreimal sogar anhalten mußte, bis die Polizeibeamten die Menge wieder einigermaßen zurückgetrieben hatte. Er versuchte vergeblich, das zu deuten, was er sah. Die Menschenmenge am Straßenrand wirkte aufgebracht, aber nicht wirklich zornig. Irgend etwas sehr Beunruhigendes ging dort vor. Etwas, das

– vielleicht gar nicht real war.

Brenner blinzelte, fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen und sah noch einmal auf den Monitor, auf dem die LKW-Kolonne mittlerweile vollends zum Stillstand gekommen war, belagert von Dutzenden von Männern und Frauen, die den Fahrern und den Männern auf den Ladeflächen etwas zuriefen. Einen Augenblick lang fragte er sich allen Ernstes, ob er noch alle Tassen im Schrank hatte. Die Bilder waren faszinierend, und sie wirkten auf eine schwer greifbare Weise echt und bedrohlich, aber gerade das hätte ihn eigentlich warnen sollen.

Sie wirkten ein bißchen zu bedrohlich und fast ein bißchen zu echt. Die Wirklichkeit gehorchte selten der Dramaturgie eines Spielfilms – aber diese Bilder hier taten es.

Das war die Erklärung. Kein Hundert-Megatonnen-Sprengsatz im Bayerischen Wald, sondern ein Katastrophenfilm auf irgendeinem Privatsender, dem er in seiner Gier nach Informationen von jenseits der grauen Barriere, hinter der er die letzten dreiTage und Nächte verbracht hatte, einfach aufgesessen war. Und er hatte sogar die Möglichkeit, diese Theorie ziemlich schnell zu überprüfen. Er mußte nur umschalten.

Theoretisch. Praktisch verfügte der Fernseher über keinerlei sichtbare Bedienungselemente, an denen er auf einen anderen Kanal umschalten konnte, und die Fernbedienung fand er nicht. Wahrscheinlich hatte die Schwester sie mitgenommen, als sie ihren Posten verließ. Trotzdem, das war die Erklärung. Ein Film. Eine Fiktion, mehr nicht.

Brenner atmete erleichtert auf und trat einen halben Schritt von der Tischplatte zurück. Und hätte ihm jemand in diesem Moment einen Eimer mit eiskaltem Wasser ins Gesicht geschüttet, dann wäre er kaum schlimmer schockiert gewesen.

Eine der Gestalten, die die Wagenkolonne umringten, hatte sich herumgedreht und das Gesicht der Kamera zugewandt, aber das war nur das, wonach es aussah. In Wirklichkeit blickte sie nicht in die Kamera, sondern direkt in Brenners Augen.

Er wußte einfach, daß es so war, mit der gleichen, ebenso grundlosen wie unerschütterlichen Sicherheit, mit der er das Gesicht wiedererkannte.

Es war Astrid.

Brenner schwankte. Es war nicht einfach nur ein Erinnern. Der Name und die Erinnerung tauchten gleichzeitig in seinen Gedanken auf, und beides traf ihn mit der gleichen Wucht; ein geradezu körperlich fühlbarer Faustschlag, der ihn von innen zwischen die Augen traf.

Astrid. Das Mädchen aus seinem Traum. Das Mädchen, nach dem der Pater ihn gefragt hatte. Das Mädchen, das vor seinen Augen zu Asche verbrannt war. Es war unmöglich. Sie war

nur eine Gestalt aus einem Traum, und wenn nicht das, dann war sie tot; und doch stand sie da, und sie sah nicht einfach nur in die Kamera, sondern sah ihn an. Sie wußte ganz genau, daß er hier war, hier in diesem Zimmer, in diesem Krankenhaus, von dem er selbst nicht einmal genau wußte, wo es war, vor diesem einen bestimmten Bildschirm.

Brenner spürte, wie die Hysterie sich wie dünnflüssigeTinte in seinen Gedanken auszubreiten begann. Sein Herz raste plötzlich; von einer Sekunde zur anderen war er in Schweiß gebadet. Er wartete vergeblich darauf, daß sich das Bild abermals änderte; ein neues Zucken, ein weiteres Sich-neu-Ordnen, und aus dem Gesicht des totenTraum-Mädchens würde das Gesicht irgendeines Mädchens werden, das nur eine zufällige Ähnlichkeit mit der Anhalterin hatte. Aber nichts dergleichen geschah. Astrids Gesicht blieb Astrids Gesicht, und ganz im Gegenteil, sie drehte sich in diesem Moment weiter herum, lächelte in die Kamera und winkte mit der linken Hand; für Millionen von Zuschauern nichts als ein Mädchen, das sich für zwei Sekunden als Fernsehstar fühlte und über das man die Stirn runzelte, lächelte oder das man auch insgeheim dafür verachtete, aber Brenner wußte es besser. Dieses Lächeln galt niemand anderem als ihm, und das Winken war kein Winken, sondern ein Zeichen, das nichts anderes sagte als: Ich bin real. Du täuschst dich nicht. Ich bin hier und warte auf dich.

Brenner schloß für einen Moment die Augen und preßte die Lider so fest zusammen, bis bunte Sterne auf seinen Netzhäuten zu tanzen begannen. Als er wieder hinsah, hatte sich das Bild nicht verändert. Es war immer noch da, und Astrids Lächeln war jetzt eindeutig spöttisch geworden. Sie hatte ihn gesehen und amüsierte sich über sein Erschrecken. Und warum auch nicht? Als wandelnde Ausgeburt eines Alptraums hatte man schließlich ein Recht, sich zu freuen, wenn es einem gelang, jemandem einen gehörigen Schrecken einzujagen.

Wahrscheinlich war es dieser Gedanke, der Brenner schließlich in die Wirklichkeit zurückholte. Er war einfach einenTick zu albern, um aus irgend etwas anderem als purer Hysterie geboren zu sein. Er war hysterisch. EinTeil seines Bewußtseins hatte die Grenze zur Panik eindeutig überschritten, und er sah Dinge, die es nicht gab. Das Mädchen war nicht auf dem Bildschirm. Er sah sie noch immer, aber er wußte jetzt, warum: weil er sie sehen wollte. Vielleicht gab es diesen ganzen verrückten Film nicht, und wer weiß, vielleicht stand nicht einmal er wirklich hier, sondern lag in seinem Bett und phantasierte sich wirres Zeug zusammen.

Die Vorstellung half. Ob sie nun der Wahrheit entsprach oder nicht, Panik gehörte offensichtlich zu den Feinden, die heimtückisch waren, ihren Schrecken aber im gleichen Moment zu verlieren begannen, in dem man sich ihrer Gegenwart bewußt wurde. Es gab dieses Mädchen nicht. Es gab diesen Film nicht – nun gut, ihn vielleicht – , und es gab auch die Erinnerung an sie nicht.

Und wenn er noch lange hier herumstand und blödes Zeug dachte, dann würde es vielleicht auch ihn bald nicht mehr geben, und wenn, dann allenfalls als sabbernden Idioten in einer Gummizelle.

Astrids Gesicht war noch immer auf dem Bildschirm zu sehen, und hätte es noch eines zusätzlichen Beweises für seine Theorie bedurft, wäre es der Ausdruck darauf gewesen. Sie hatte aufgehört zu lächeln und wirkte ein bißchen verwirrt, aber auch verärgert. Eindeutig hatte sie seine Gedanken gelesen.

»Nein«, sagte Brenner. »So einfach mache ich es dir nicht.« Natürlich glaubte er nicht wirklich daran, daß sie die Worte verstand, aber er mußte einfach mit ihr reden, und sei es nur aus dem gleichen Grund, aus dem er als Kind ein Lied gepfiffen hatte, wenn er in den Keller ging. Und es half, zumindest teilweise. Ihr Gesicht verschwand immer noch nicht. Sie sah ihn immer noch vorwurfsvoll an, aber beides hatte nun seinen Schrecken verloren. Möglicherweise nicht auf Dauer, denn hinter dieser ersten, fast besiegten Angst lauerte eine zweite, die vielleicht noch schlimmer war: nämlich die, daß er vielleicht wirklich auf dem Wege war, den Verstand zu verlieren.

Aber er gestattete dieser Furcht nicht, Gestalt anzunehmen. Nicht jetzt. Nach einem letzten Blick auf den Bildschirm verließ er das Schwesternzimmer und tastete sich durch den verlassenen Korridor zu seinem Zimmer zurück.

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