Aber er fing sich wieder; diesmal noch. Sein Bewußtsein hangelte sich langsam in die plötzlich so unsicher gewordenen Grenzen der Realität zurück, und plötzlich fand er sich zusammengekauert neben Johannes dahocken, in einer verkrümmten, schutzsuchenden Haltung, die Arme über den Kopf geschlagen und beide Knie dicht an die Brust gezogen. Es mußte wohl doch deutlich mehr als eine Sekunde verstrichen sein, denn das Grollen der Explosion war mittlerweile völlig verklungen, und Salid stand nicht mehr draußen auf der Straße, sondern beugte sich mit besorgtem Gesicht über ihn und redete offensichtlich schon eine geraume Weile auf ihn ein.
»Was ist los mit Ihnen?« fragte er. »Verdammt, Brenner, antworten Sie endlich! «
Brenner nahm vorsichtig die Arme herunter, blieb aber noch einen Moment lang in der gleichen, verschreckten Haltung sitzen. Er verspürte dieses Gefühl nicht wirklich, aber seine Körpersprache signalisierte Salid anscheinend, daß er Angst hatte, er würde ihn schlagen; denn nach einer winzigen Pause fügte Salid in beruhigendemTon hinzu:
»Ich tue Ihnen nichts. Keine Angst. Es ist vorbei.«
Brenner richtete sich zitternd auf. Salid mußte ihn stützen, und Brenner klammerte sich mit solcher Kraft an ihm fest, daß es dem Palästinenser weh tun mußte. Aber Salid wehrte sich nicht, sondern überzeugte sich erst davon, daß Brenner auch tatsächlich aus eigener Kraft auf den Beinen stehen konnte, ehe er seine Hand mit sanfter Gewalt beiseiteschob. »Wir müssen weiter«, sagte er.
Brenner nickte, und er setzte sich auch gehorsam in Bewegung und folgte dem Palästinenser, aber die Worte kamen ihm zugleich auch fast absurd vor. Weiter. Mit einem Male schien ihm dieser Begriff vollkommen leer, sinnlos. »Weiter« bedeutete, irgendwohin zu gehen, und er hatte plötzlich das Gefühl, daß es kein Irgendwo mehr gab, wohin sie gehen konnten. Seit er in dieser Nacht aufgewacht war – Großer Gott!
War es tatsächlich erst ein paar Stunden her, seit dieser Wahnsinn begonnen hatte? War das alles wirklich in einer einzigen Nacht passiert?! – war er von einem Moment des Irrsinns in den nächsten, furchtbareren gestolpert, immer in der festen Überzeugung, daß es nicht mehr schlimmer kommen konnte, und immer einen Augenblick davon entfernt, eines Besseren belehrt zu werden.
Das Furchteinflößendste von allem aber war vielleicht, daß er tief in seinem Inneren spürte, daß auch Salid längst nicht mehr wußte, wohin sie dieses Weiter führen würde. Sie hatten einen Kampf aufgenommen, der im gleichen Moment, in dem sie ihn begannen, bereits verloren gewesen war, vielleicht sogar, weil sie ihn aufgenommen hatten, und sie wußten schon lange nicht mehr, gegen wen sie eigentlich kämpften oder nach welchen Regeln. Die Ereignisse hatten längst die Kontrolle über ihr Handeln übernommen.
Er stolperte blindlings hinter Salid her und merkte nicht einmal, daß dieser stehenblieb, bis Salid den Arm ausstreckte und er unsanft dagegenlief. Erst dann registrierte Brenner, daß die Straße vor ihnen nicht mehr leer war. Ein Wagen kam auf sie zu; nicht sehr schnell, aber mit aufgeblendeten Scheinwerfern und heulendem Motor und außerdem nicht ganz gerade; der Fahrer war entweder verletzt oder betrunken, oder er hatte keine Ahnung vom Autofahren. Es kam Brenner fast absurd vor, daß er solche Details überhaupt noch bemerkte, aber auch seine Wahrnehmung der Dinge schien sich verändert zu haben.
Obwohl sich das Motorengeräusch nicht veränderte, sondern eher noch schriller zu werden schien, als das Fahrzeug näherkam, wurde es langsamer. Brenner sah aus den Augenwinkeln, wie Salid die – nutzlose, weil leergeschossene MN hob, sie aber nicht direkt auf den Wagen richtete, sondern nur in seine ungefähre Richtung. Der Wagen – ein Mercedes oder Ford-Van, das konnte er nicht genau erkennen schwenkte dicht vor ihnen zur Seite, vollführte eine ungeschickte Hundertachtzig-Grad-Drehung und stieß dann wieder ein Stück zurück. Der Motor ging aus. Brenner wartete darauf, daß jemand ausstieg, aber statt dessen geschah eine gute halbe Minute lang gar nichts. Dann wurde eine der beiden hinteren Türhälften aufgestoßen, und eine schlanke Gestalt in einem fleckigen hellen Mantel winkte ihnen hektisch zu.
»Steigt ein! Schnell! «
Nach allem Absurden, was geschehen war, erschien es Brenner fast schon wieder logisch, daß sie gehorchten, ohne auch nur eine Frage zu stellen. Salid überwand die Entfernung zum Van mit zwei, drei schnellen Schritten, sprang ins Innere des Wagens und drehte sich dann herum, um erst Johannes und dann Brenner beim Einsteigen behilflich zu sein. Er schloß die Tür hinter Brenner, überzeugte sich pedantisch davon, daß sie verriegelt war, und wandte sich erst dann an ihren geheimnisvollen Retter.
»Wer sind Sie?«
»Das ist jetzt egal.« Der Mann im Trenchcoat hatte sich schon wieder herumgedreht und war auf dem Weg nach vorne. Brenner sah jetzt, daß sein Mantel nicht wirklich schmutzig war, wie er anfangs geglaubt hatte. Er war zerfetzt und hier und da angesengt, aber die dunklen Flecken, die er für Schmutz gehalten hatte, waren eingetrocknetes Blut.
»Haltet euch fest. Ich werde ziemlich schnell fahren müssen. Und ich weiß nicht, ob sie uns verfolgen.«
Brenner gehorchte ganz automatisch, und auch Johannes und
–zu Brenners Überraschung – selbst Salid, wenn auch nach kurzem Zögern, ließen sich auf die schmale, ungepolsterte Bank auf der rechten Seite des Wagens niedersinken. Die gegenüber liegende Seite wurde von einem wuchtigen Metalltisch beherrscht, der sich über die gesamte Fahrzeuglänge zog und vonTonbandgeräten, Bildschirmen, Mikrofonen und allen möglichen anderen elektronischen Apparaturen nur so überquoll.
Der Fremde hatte mittlerweile das Führerhaus wieder erreicht, hinter dem Steuer Platz genommen und drehte den Zündschlüssel. Der Motor sprang erst beim dritten oder vierten Versuch an, dann aber mit einem schrillen Heulen, als der
Mann viel zu viel Gas gab. Brenners Vermutung, daß ihr Chauffeur wenig, wenn nicht überhaupt nichts vom Autofahren verstand, wurde fast zur Gewißheit, als sich der Wagen in Bewegung setzte – mit einem Ruck, der Johannes und ihn fast von der Bank geschleudert hätte. Salid hatte sich ein wenig besser in der Gewalt, aber er verdrehte die Augen, legte endlich die leergeschossene Waffe auf den Boden und balancierte geduckt und mit halb ausgebreiteten Armen nach vorne.
»Vielleicht wäre es besser, wenn ich fahre«, sagte er. »Wahrscheinlich«, antwortete der Mann am Steuer, ohne allerdings irgendeine Bewegung zu machen, um diese Erkenntnis in die Tat umzusetzen. Er nahm nicht einmal den Fuß vom Gas, sondern beschleunigte im Gegenteil noch mehr. Der Motor heulte protestierend auf, und der Van schoß mit einem so heftigen Schaukeln um die Kurve, daß Salid hastig an der Rückenlehne des Beifahrersitzes nach Halt suchte.
»Sie sollten in den nächsten Gang schalten«, sagte er. »Auf diese Weise lebt der Motor länger – und wir erregen vielleicht nicht ganz so viel Aufsehen.«
Der Fahrer tat, was Salid ihm geraten hatte, und prügelte den nächsthöheren Gang hinein – dem Geräusch nach zu urteilen, ohne die Kupplung zu benutzen.
»Sie sind kein sehr geübter Fahrer, wie?« fragte Salid.
»Ich hab' nicht einmal einen Führerschein«, gestand der Fremde. »Aber wenn wir angehalten werden, ist es trotzdem besser, wenn ich am Steuer sitze. « Er sah zu Salid hoch, während er dies sagte, und zum erstenmal sah Brenner sein Gesicht deutlicher; wenn auch im unheimlichen grünen Widerschein der Armaturenbeleuchtung. Trotzdem erschrak er zutiefst. Auch das Gesicht des Mannes war voller eingetrocknetem Blut. Quer über seine linke Wange zog sich eine klaffende, noch nicht völlig verkrustete Wunde, und was von seiner Haut überhaupt noch sichtbar war, war so bleich wie die eines Toten. Brenner sah hastig weg. Er wollte nicht wissen, welches Geheimnis diesen Mann umgab. Im Grunde wollte er nicht einmal wissen, warum er ihnen half.