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»Nun... ich muss ihn eine Zeit lang aus dem Verkehr ziehen, meine Liebe.« In Steels Stimme schwang plötzlich ein ganz neuer Ton mit, fast so etwas wie Sanftheit, und plötzlich erinnerte ich mich daran, wie mir Bach von Steels Ehe berichtet hatte. Es war mir nie in den Sinn gekommen, dass selbst ein Mensch wie Steel eine andere Seite haben konnte.

Diesmal gelang es mir, vollends auf die Beine zu kommen. Aber mein Magen revoltierte schon wieder und meine Knie gaben nach, sodass ich mich kaum aufrecht halten konnte. Nur über Steels Schulter hinweg sah ich Kim, wie sie gleich mir unsicher auf der gegenüberliegenden Seite stand, ein verschwommener Schatten inmitten blauen Dunstes aus gefrorener Kälte. Ich suchte ihren Blick, aber es gelang mir nicht, ihn einzufangen.

»Was heißt das... aus dem Verkehr ziehen?«, fragte Kim und jetzt war tatsächlich etwas von der alten Schärfe in ihrer Stimme.

»Nun...«, begann Steel unsicher.

»Es heißt, dass er ihn totschlagen will«, mischte sich Ray ein. »Es bedeutet nichts anderes, als dass dieser Bastard seinen Mordgelüsten nachgeben will, um meinen Bruder umzubringen!«

Den letzten Teil des Satzes schrie er. Und das unglaubliche: Steel fuhr ihm nicht etwa in seiner unnachahmlichen Art schroff über den Mund, sondern er wirkte tatsächlich verunsichert. »Kein Grund zur Panik«, sagte er hastig. »Dein Bruder hat mich angegriffen. Aber vielleicht habe ich ja auch etwas übertrieben reagiert.«

»Ach ja, hast du das?«, fragte Ray höhnisch.

Steel zuckte mit den Achseln und drehte sich halb zur Seite, sodass er sowohl mich als auch Ray im Blickfeld hatte. Er schien nicht sehr überrascht zu sein, dass ich mich aufgerappelt hatte. Sein Blick irrte zwischen mir und Ray hin und her. Wenn er gewollt hätte, hätte er mich mit einem einzigen Schlag bewusstlos schlagen können. Doch stattdessen drehte er sich wieder um und ging auf Ray zu.

Was ging hier vor? Hatte er keine Kontrolle über Ray und Kim? War ich in einem sensiblen Moment hier hereingestolpert, als mein Bruder und Kimberley nicht mehr vollständig unter dem Einfluss der unbegreiflichen Kraft standen, die sie in diese Situation gebracht hatte?

»Beruhigt euch erst einmal«, sagte Steel in begütigendem Tonfall. Er blieb direkt vor den Pritschen stehen und verdeckte mir damit die Sicht auf Kim. »Legt euch wieder hin...«

»Nein!«, schrie ich. »Tut das nicht! Kämpft dagegen an!«

Steel wandte sich wieder mir zu. Es war eine langsame Bewegung und in seinem Gesicht las ich so etwas wie Trauer. War auch das für ihn ein Moment, wo er sich seinem Menschsein wieder annäherte?

Einen Herzschlag lang schien die Zeit stillzustehen. Steels Blick durchbohrte mich, aber er ging gleichzeitig durch mich hindurch und verschwand in weiter Entfernung irgendwo hinter mir. Gleichzeitig rutschte Ray in mein Blickfeld. Seine Hand fuhr zum Hosenbund und so schnell und geschickt, wie er die 38er gezogen hatte, als er die Majestic-Agenten erschossen hatte, riss er auch diesmal die Waffe hervor. Ehe ich überhaupt begriff, was er vorhatte, holte er mit der 38er aus, als habe er einen Ball in der Hand. Dann schleuderte er die Waffe von sich, genau in meine Richtung. Sie segelte durch die Luft wie ein Basketball auf dem Weg zum Korb, nur dass der Korb in diesem Fall meine zitternde Hand sein musste, wenn ich eine Chance haben sollte, diesem Irrsinn ein Ende zu bereiten.

Einen schrecklichen Augenblick lang fürchtete ich, dass meine getrübte Wahrnehmung mir einen Strich durch die Rechnung machen würde und ich gar nicht anders konnte als danebenzugreifen. Doch dann erwischte ich die Waffe und sie glitt in meine Hand wie ein lebendiges Wesen; mein Zeigefinger legte sich um den Abzugshebel und mein Daumen zog den Sicherungshebel zurück.

Steel erwachte aus seiner Erstarrung. Aber er handelte ganz anders, als ich es erwartet hatte. Statt zu versuchen, einem möglichen Treffer durch eine schnelle Bewegung auszuweichen oder aber auch auf mich zuzustürmen, um mir die 38er zu entreißen, machte er einen Satz in die andere Richtung, direkt auf Kim zu.

Ich schoss trotzdem. Die erste Kugel ging über Steels Schulter in die Apparatur hinter ihm; der scharfe Knall des 38er-Schusses mischte sich mit einem splitternden Geräusch, als die Kugel ein Stück aus dem Apparat herausriss und sich irgendwo ins Innere bohrte. Ich kam mir vor wie auf dem Schießstand, zwei weitere Kugeln verließen die Waffe, aber auch sie trafen ihr Ziel nicht, denn Steel hatte sich in letzter Sekunde wieder gebückt. Fauchend fraßen sich die Kugeln in die fremdartige Verkleidung hinter ihm und ich hoffte, dass sie möglichst viel Schaden anrichteten.

Steel hatte beim Bücken seine Waffe gezogen und schoss, ohne genau zu zielen, aus der Hüfte heraus. Er war ein guter Schütze. Die Kugel pfiff beängstigend nah an meinem Kopf vorbei und schlug in die Wand neben mir ein. Voller Panik zog ich den Abzug meiner 38er durch, aber wieder ging mein Schuss daneben. Ich stolperte vorwärts auf Steel zu, ohne mir die Mühe zu machen, seinem zweiten Schuss auszuweichen. Es war blinde Wut, ein Vernichtungswille, wie ich ihn noch nie empfunden hatte und der mich normalerweise über mich selbst hätte erschrecken lassen, so animalisch und endgültig war er: der Wunsch, nein, der Wille zu töten, egal, was es mich kosten würde.

Paradoxerweise rettete mir dieses blinde Vorgehen das Leben, denn es zwang Steel zu einer Drehung, während er schoss, und mein torkelndes auf ihn Zustolpern brachte mich im entscheidenden Moment aus der Schusslinie und wieder sauste eine Kugel wirkungslos an mir vorbei. Mein Kopf zerplatzte fast von dem Druck, mit dem riesige Schraubzwingen ihn zu zerdrücken schienen, aber ich achtete nicht darauf. Ich schoss wiederholt aus der Hüfte, ohne genauer zu zielen und ohne irgendwelche Rücksicht zu nehmen, nicht einmal auf Kim, die kurz hinter Steel stand, eng gegen die verhasste Apparatur gepresst, die sie mir zu entreißen drohte.

Mein selbstmörderisches Vorgehen brachte Steel offensichtlich aus dem Konzept. Und doch handelte er wie aus dem Schulbuch: Er riss seine Waffe hoch, seine linke Hand umklammerte sein rechtes Handgelenk und der Lauf seiner Waffe beschrieb einen schnellen Halbbogen, bis die Mündung exakt zwischen meine Augen deutete.

Genau in diesem Moment schoss ich zum letztenmal. Es war ein Schuss, der angetrieben war von meinem Verlangen, Steel zu töten – und doch nicht dieses Ziel erreichte. Aber es war ein Meisterschuss, ein Treffer, wie ihn sich jeder Cop wünschen würde, der bei einer Verhaftung seinen Gegner nicht töten, sondern nur kampfunfähig machen will: Er traf Steels eigene Waffe und prellte sie ihm aus der Hand. Im hohen Bogen segelte sie davon und krachte irgendwo neben Kim zu Boden.

Aber ich war kein Cop. Ich war beseelt von dem Wunsch, von dem Drang zu töten. Es waren keine Rachegelüste, die mich trieben, es war auch nicht mein Beschützerinstinkt oder sonst ein mehr oder weniger edles Motiv: Es war ein Vernichtungs– und Tötungswille, wie ihn vielleicht Urmenschen auf der Jagd empfunden haben mussten im Zweikampf gegen eine lebensbedrohende Kreatur. Mein Finger zog wieder und wieder den Abzug der Pistole durch, deren Mündung direkt auf Steels Magen deutete.

Ich weiß nicht, wie oft ich den Abzug betätigte, bis mir klar wurde, dass mich mein Glück verlassen hatte: Die verdammte Waffe klemmte. Sie war nicht unbedingt leer geschossen, sondern einfach nur blockiert, was ich anhand der schwergängigen Mechanik eigentlich sofort hätte bemerken müssen; ein seltenes, aber immer wieder auftretendes Phänomen. Selbst wenn noch ein paar Schuss in dem Magazin waren, konnte ich nichts mehr ausrichten.

Steel lächelte diabolisch. »So endet es also«, stieß er hervor. Er griff in sein Jackett und zog ein Springmesser hervor und ließ es aufspringen; es hatte eine gefährliche Klinge, die mindestens zehn Zoll lang war. »Damit hast du das Maß überschritten.«

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