Marcel nahm das alles schweigend auf. »Sechzehn Jahre lang wollte ich unbedingt zum inneren Kreis gehören«, sagte er dann. »Sechzehn Jahre lang habe ich mir jeden Tag gewünscht, ich würde dazugehören. Ich wollte die Wahrheit wissen. Und ich wollte nicht, dass Leute wie Frank Bach die Wahrheit nach ihrem Gutdünken unterdrücken und benutzen konnten.« Er schüttelte noch einmal schwerfällig den Kopf. »Und heute ist es die Wahrheit, dass eine fremde Spezies in unsere Körper und Gedanken eindringen kann und es um nichts anderes geht, als unsere bedingungslose Kapitulation zu erzwingen.«
Ich verzichtete auf einen Kommentar.
»Glauben Sie, dass Bach und seine Männer sie aufhalten können?«
»Die Hive?«, fragte ich dagegen. »Oder die, die hinter ihnen stehen?«
Marcel hob die Schultern. »Was auch immer.«
»Ich glaube nicht mehr an die edle Mission von Bachs Majestic«, stellte ich fest. »Was die Hive betrifft...« Ich ließ den Satz unbeendet. »Ich muss sehen, dass ich erst einmal irgendwie hier wieder herauskomme...« Ich lachte voller Bitterkeit. »Manchmal frage ich mich, ob Bach nicht schlimmer ist als die Hive. Und doch ist Majestic irgendwie die einzige konstante Kraft, die sich den Aliens gegenüber stellt. So etwas wie die einzige Hoffnung der Menschheit.« Aber nicht meine Hoffnung, ergänzte ich in Gedanken, sondern ganz im Gegenteil. Ich hatte einen schlechten Geschmack im Mund. Es war früher Morgen, draußen, wo man die Sonne sehen konnte. Vielleicht würde es auch ein bedeckter Tag werden. Ich fragte mich, was Kim und Ray gerade machten, ob sie schliefen, ob man gerade irgendwelche Experimente an Kim vornahm oder Schlimmeres. Und dann kroch die entsetzliche Frage in mir hoch, die ich die ganze Zeit versucht hatte zu unterdrücken: Ob sie vielleicht schon tot war?
Die nächste halbe Stunde verging schweigend. Eingesponnen in meine Ängste und Befürchtungen hatte ich mich wieder auf den Fußboden gehockt und die Verzweiflung mischte sich mit meiner Erschöpfung zu einer abstrusen Vision, in der Kim von innen heraus von den pilzähnlichen Ganglien zerfressen wurde, bis nichts mehr übrig blieb außer ihrer äußeren Hülle. Bleib bei den Fakten!, ermahnte ich mich, Kim lebt und es besteht nach wie vor die Hoffnung, dass wir diesem ganzen Albtraum unbeschadet entrinnen können. Aber es war nicht mehr viel Hoffnung in mir, nicht, nachdem mir Bach auf seine unnachahmliche Art klargemacht hatte, dass ich mir Kims Zustand schöngeredet hatte und da etwas in ihr am Werke war, das sie aller Wahrscheinlichkeit nach von innen Stück für Stück verschlang.
Irgendwann musste ich dann wohl doch eingeschlafen sein, denn als draußen etwas krachte, schreckte ich benommen hoch, kniff ein paarmal die Augen zusammen, bis ich wieder einigermaßen klar sehen konnte, und strich mir übers Haar, wobei ich nur mit Mühe ein Gähnen unterdrücken konnte. »Was ist los?«, fragte ich.
Marcel war aufgestanden und an die Scheibe getreten. »Ich weiß nicht«, antwortete er leise, aber mir entging nicht der besorgte Ton in seiner Stimme. »Da geht etwas vor, was mir gar nicht gefällt. Vielleicht...«
Er kam nicht mehr dazu, seinen Gedankengang zu beenden. Das Schrillen einer Alarmsirene zerriss seinen Satz und dann mischten sich andere Geräusche in das beginnende Chaos, das Trampeln schwerer Stiefel und aufgeregte Schreie, die Kommandos oder auch Fragen brüllten. Die uniformierte Wache vor unserer Glasscheibe, die bislang Marcel sehr genau im Auge behalten hatte, drehte sich auf dem Absatz um, warf einen Blick den Gang hinab und zögerte einen Moment lang, mit der Waffe im Anschlag. Dann warf der Mann einen letzten Blick auf Marcel, der ihm wohl bedeuten sollte, keinen Unsinn zu machen, und stürmte den Gang hinab.
»Was, zum Teufel...?«, begann ich, als ich mich hochstemmte und mit zwei schnellen Schritten bei Marcel war. Ich weiß nicht, warum ich beim Schrillen der Alarmsirene automatisch an Steel denken musste. Vielleicht war es einfach die Aura von Gewalttätigkeit, die dieser Mann ausströmte, das Gefühl der Unberechenbarkeit und der animalischen Stärke, das nur zum Teil mit dem Ganglion zu tun hatte, das sich in ihn hineingefressen hatte.
Ein Gewehrschuss unterbrach meine Gedanken, gerade als ich an die Scheibe getreten war und in die Richtung starrte, in der die Wache verschwunden war. Der laute Knall hallte erschreckend laut von den Betonwänden wider, dumpf und irgendwie falsch, deplatziert in dieser unterirdischen Festung, in der Bach alles unter Kontrolle zu haben glaubte und doch nichts mehr so war, wie es sein sollte.
Doch damit war es noch nicht vorbei. Der uniformierte Mann, der uns die ganze Nacht nicht aus den Augen gelassen hatte in dieser Mischung zwischen Zelle und spartanisch eingerichtetem Aufenthaltsraum, war offensichtlich in einem der Nebenräume verschwunden. Denn jetzt taumelte er rückwärts wieder aus dem Raum heraus, verzweifelt um sein Gleichgewicht kämpfend. Seine Bewegungen wirkten so unkontrolliert, als ob er an einen Grizzlybären geraten war, der ihm mit einem wütenden Prankenhieb klargemacht hatte, wer hier Herr der Situation war. Der Mann war an die Einmeterneunzig groß und brachte sicherlich einhundertachtzig Pfund auf die Waage und dennoch war er der Attacke seines Gegners offensichtlich in keiner Weise gewachsen. Durch die Scheibe musste ich hilflos mit ansehen, wie er endgültig aus dem Gleichgewicht kam, hintenüber schlug und hart auf dem Boden aufprallte.
Doch der Soldat war besser in Form, als ich vermutet hatte. Er hatte seine Waffe trotz seines harten Sturzes krampfhaft festgehalten und brachte sie mit einer blitzschnellen Bewegung in Anschlag. Immer noch mit dem Rücken auf dem Boden liegend feuerte er in die Tür hinein.
Offensichtlich verfehlte er sein Ziel. Denn es stürzte ein Mann in dunklem Jackett und hellem Hemd auf ihn zu, packte die Waffe und riss sie ihm mit einer unglaublich kraftvollen Bewegung aus den Händen.
Es war Steel.
Der ehemalige Vertraute Bachs wirbelte das Gewehr herum, sodass der Lauf nicht mehr auf ihn, sondern auf den Soldaten gerichtet war. Der Soldat tat das einzig Richtige; mit beiden Händen griff er nach der Waffe, bekam den Lauf zu fassen und versuchte ihn beiseite zu drücken.
In diesem Moment löste sich ein weiterer Schuss. Der Knall schien noch lauter zu sein als zuvor; er dröhnte in meinen Ohren und riss jeden bewussten Gedanken mit sich.
»Runter«, rief Marcel und zerrte mich hinab, hinter den vielleicht fünf Fuß hohen Metallsims, auf dem die Glasscheibe aufsaß. Keine Sekunde zu früh. Denn in diesem Moment drehte Steel den Kopf in unsere Richtung, die instinktive Handlung eines jeden Kämpfers, der seine unmittelbare Umgebung sichert, bevor er die nächsten Schritte einleitet. Ein paar Sekunden lang fürchtete ich, er hätte uns gesehen. Mein Hals fühlte sich trocken und ausgedörrt an und mein Nacken verkrampft, und das nicht nur durch die ungemütliche Haltung hinter der vielleicht nur einen halben Zoll starken Metalleinfassung, unserem einzigen Schutz vor der verrückten Bestie, zu der Steel mutiert war.
Ehe mich Marcel darin hindern konnte, schob ich meinen Kopf vorsichtig so weit nach oben, dass ich den Gang einsehen konnte. Steel war verschwunden. Zumindest wusste ich, in welche Richtung er das Weite gesucht hatte; da er nicht an uns vorbeigekommen war, musste er den Gang hinabgelaufen sein, in Richtung Treppenhaus. Ich hatte keine Ahnung, was passiert war und wie es Steel abermals hatte gelingen können, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Aber ich wusste, dass ich ihn nicht einfach durch die Bunkeranlage laufen lassen konnte.
»Wo, zum Teufel, sind die Wachen?«, fragte Marcel, während er sich aufrichtete und in den Gang hinaus blinzelte. »Ich habe doch gerade noch Stimmen gehört.«
»Ja.« Ich runzelte die Stirn. »Das ist seltsam.« In der Tat lag der Gang wie ausgestorben vor uns und selbst das Wimmern der Sirene war verstummt.