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Als er zwei der Kerzen auf eine Vitrine stellte, fiel sein Blick auf einen gerahmten Druck, der darüber an der Wand hing. Es war eine kunstvoll gestaltete Landkarte Südbrasiliens. Sie zeigte die Aufteilung des Landes in Wohnbereiche, Erholungsgebiete, Arbeitsareale und landwirtschaftliche Nutzflächen, die Straßen, Flüsse und Flughäfen. Er wollte sich schon wieder abwenden, als sein Blick an einem weißen Fleck auf dieser Karte hängenblieb, auf dem stand: Wildnis.

Ihm war, als setze sein Herz einen Schlag lang aus. Unmöglich konnte Christopher Kolumbus anders empfunden haben, als damals tatsächlich Land am Horizont auftauchte in einer Richtung, in der alle anderen nur das Ende der Weltenscheibe erwartet hatten.

Wildnis! Gab es also noch Überreste des legendären Amazonas-Dschungels, ungezähmt gebliebene Relikte des ungeheuren Urwalds, der diesen Kontinent einmal überwuchert haben mußte?

Er hob mit bebender Hand eine der beiden Kerzen und sah genauer hin. Kein Zweifel. »Wildnis« stand da, und rings um den weißgebliebenen Fleck auf der Karte menschlichen Einflusses war eine gestrichelte Linie gezogen: die Grenzbefestigungen markierend, mit denen die Zivilisation sich das Ungezähmte, Unheimliche vom Leib hielt. Tonak studierte die Namen der Wohngebiete, die Namen der Strassen und Flüsse. Sein Herz machte einen weiteren Satz – irrte er sich auch nicht? Spielte ihm sein sehnlichster Wunsch auch keinen Streich? Er vergewisserte sich wieder und wieder, aber es schien ihm ganz so, als befänden sie sich hier, in diesem Haus, in unmittelbarer Nähe dieses weißen Flecks, in direkter Nachbarschaft zum Urwald.

Er suchte und fand seine Cousine. »Gham’bia, stimmt das, daß hier ganz in der Nähe die Wildnis beginnt?«

»Der Dschungel?« Sie sah ihn mit großen, verständnislosen Augen an. »Ja, der ist auf der anderen Seite des Flusses. Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen, wir sind hier absolut sicher.«

»Wie kommt man dort hin?«

»Wie meinst du das, wie kommt man dort hin?«

»Wohin muß ich gehen, wenn ich in den Urwald gehen will?«

»In den Urwald?«

»Ja. In den Dschungel. In die Wildnis.«

Völlige Verständnislosigkeit. »Man kann nicht in den Dschungel gehen. Es gibt keinen Weg dort hin. Und selbst wenn es einen gäbe, man braucht eine staatliche Erlaubnis dafür.«

»Ist der Dschungel eingezäunt?«

»Nein, aber es gibt einfach keine Brücke über den Fluß. Tonak, was soll das? Was stellst du mir für komische Fragen?«

Tonak sah sie an. »Vergiß es. Es hat mich nur interessiert.«

Sie musterte ihn von oben bis unten aus ihren unergründlichen schwarzen Augen. »Mach bitte keinen Unsinn, Tonak. Du kennst den Dschungel nur aus Erzählungen, aus Büchern… Es ist wirklich gefährlich dort, weißt du?«

»Ja, natürlich. Es hat mich nur interessiert.« Er machte, daß er fortkam, ehe er noch mehr preisgab von dem, was in ihm vorging.

»Es regnet!« rief jemand. Tonak sah beinahe automatisch auf seine Uhr: zehn vor elf. Pünktlich wie immer. Zuerst nur kleine, glitzernde Punkte auf den großen Glasscheiben und dunkle Flecken auf der Terasse, dann setzte der Regen ein, weich und gleichmäßig niederpladdernd, wie es am besten war für die Pflanzen.

In dieser Nacht fand Tonak keine Ruhe, und das lag nicht nur an dem engen Gästebett. Der Urwald! Ganz in der Nähe! Das letzte Stück ungezähmter Natur auf der ganzen Welt, und er war nur einen Fußmarsch davon entfernt. Er konnte nicht schlafen, wälzte sich wie im Fieber.

Wann würde eine solche Chance einmal wiederkehren in seinem Leben? Das war leicht auszurechnen: nie. Er stand am Ende seiner Ausbildungszeit, Beruf und Familiengründung warteten auf ihn, und dann… nichts weiter. Das war es dann.

Tonak schlug die Decke zurück und setzte sich auf. Es war nackter Wahnsinn, was er vorhatte, das wußte er. Aber in ihm war ein Verlangen, ein brennendes Sehnen, das stärker war als er und alle vernünftigen Argumente. Er zog sich rasch und geräuschlos an und schlüpfte aus dem Zimmer.

Das Haus lag dunkel und still. Später sollte er sich daran erinnern, daß er sich nie vorher und nie mehr danach so sehr lebendig gefühlt hatte wie in diesem Moment, als er mit verhaltenem Atem und leise wetzenden Schritten durch die dunklen Korridore schlich.

Er fand eine der Kerzen, die von der Party übrig geblieben waren, und zündete sie an. In der Küche und im Keller fand er einiges von dem, was er suchte. Er verließ das Haus durch eine der Terassentüren.

Die Nacht war kühler, als er erwartet hatte. Er marschierte entschlossen los, inständig hoffend, daß er sich richtig orientiert hatte. Er stapfte voran, so schnell es ging, und ihm wurde rasch warm.

Er erreichte den Fluß nach ungefähr anderthalb Stunden. Die letzte halbe Stunde hatte er querfeldein gehen müssen, weil kein Weg und keine Strasse zum Flußufer führte. Schließlich kam er bei den Bäumen an, die den Fluß säumten, stolperte die Böschung hinab und stand am Ufer.

Da floß er, träge glitzernd, ein breiter Flußlauf, der die Zivilisation vor dem letzten Dschungel schützte wie ein Burggraben. Tonak hockte sich hin und steckte die Hand ins Wasser. Es war eiskalt.

Darin besteht das Abenteuer, dachte er. Die Herausforderung anzunehmen. Er begann, sich auszuziehen und seine Kleider in den Plastiksack zu stopfen, in dem er seine hastig zusammengesuchte Ausrüstung mit sich trug.

Schließlich war er nackt. Schlotternd knotete er den Beutel zu, wobei er ein kurzes Seil mit einflocht, dessen anderes Ende er sich um den rechten Oberarm schlang. Er zerrte kräftig an dieser Befestigung, aber sie hielt. Um keinen Preis durfte er diesen Sack verlieren.

Und nun ins Wasser. Er tat zitternd und bebend einen Schritt vor in den Schlamm des Flusses, so daß das Wasser seine Knöchel umspülte. Es war beißend kalt. Noch nie hatte er derartige Kälte am eigenen Leib gespürt. Hätte man ihm das befohlen, was er aus eigenem Entschluß zu tun im Begriff war, er hätte sich mit aller Kraft geweigert. Aber nun stieg ein nie gekanntes Gefühl von Freiheit in ihm auf, einer Freiheit, die auf nichts anderem beruhte als auf seinen eigenen Kräften und Fähigkeiten, eine Freiheit, die ihm niemand geben mußte, sondern die immer sein eigen gewesen war und die er nun endlich entdeckt hatte.

Schritt um Schritt watete er weiter in den Fluß hinein, mit zusammengebissenen Zähnen und am ganzen Leib fröstelnd. Der Strom zerrte gewaltig an ihm, als ihm das Wasser bis zu den Oberschenkeln reichte, und als es tiefer und tiefer wurde, mußte er schließlich ganz eintauchen, was ihm nicht ohne einen Schrei gelang, und loslassen, sich forttragen lassen von der Strömung.

Er schwamm mit kräftigen, gleichmäßigen Zügen. Die Kälte raubte ihm fast den Atem, umschloß ihn mit erbarmungslosem Griff. Aber er spürte eine animalische Wildheit in sich erwachen, eine rohe Entschlossenheit, das andere Ufer zu erreichen, und wenn es das Letzte sein sollte, was er im Leben tun würde. Diese Kraft setzte sich der Kälte entgegen und ließ ihn weiter kraftvoll ausholen.

Und dann langte er auf der anderen Seite an, auf einer flachen Sandbank. Keuchend riß er den Beutel auf und zerrte das Handtuch hervor, um sich damit trockenzureiben, die Glieder seines Körpers wieder ins Leben zurück zu massieren. Er hätte jauchzen können. Er hatte es geschafft. Er hatte es tatsächlich geschafft. Triumphierend blickte er zurück auf die Seite, die er hinter sich gelassen hatte, sah vereinzelte Lichpunkte in weiter, weiter Ferne. Dann drehte er sich um, und da war nur Dunkelheit, reine, finstere Nacht, in der kein Licht außer dem des Mondes existierte. Er hatte es geschafft. Er war ihnen entkommen.

Er war… draußen!

Nachdem er sich wieder angezogen hatte, drang er behutsam in den Wald vor. Fremdartige Gerüche umfingen ihn, süßliche Düfte, ekelerregende Ausdünstungen, Gerüche von Moder und faulendem Holz. Äste knackten unter seinen Füßen und lösten zischelnde Geräusche irgendwo im Dunkel aus, die ihm Schauder über den Rücken jagten. Ab und zu blieb er stehen und lauschte, am ganzen Körper angespannt. Es war still, bis auf fernes Zirpen und Rascheln. Er konnte den Urwald um sich herum spüren wie einen einzigen riesigen Organismus, und er fühlte sich, als marschiere er geradewegs in den Schlund eines kolossalen Ungeheuers.

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