297
Nicht unzeitig sehen wollen. — Solange man etwas erlebt, muß man dem Erlebnis sich hingeben und die Augen schließen, also nicht darin schon den Beobachter machen. Das nämlich würde die gute Verdauung des Erlebnisses stören: anstatt einer Weisheit trüge man eine Indigestion davon.
298
Aus der Praxis des Weisen. — Um weise zu werden, muß man gewisse Erlebnisse erleben wollen, also ihnen in den Rachen laufen. Sehr gefährlich ist dies freilich; mancher» Weise «wurde dabei aufgefressen.
299
Die Ermüdung des Geistes. — Unsere gelegentliche Gleichgültigkeit und Kälte gegen Menschen, welche uns als Härte und Charaktermangel ausgelegt wird, ist häufig nur eine Ermüdung des Geistes: bei dieser sind uns die Anderen, wie wir uns selber, gleichgültig oder lästig.
300
«Eins ist not.«— Wenn man klug ist, ist einem allein darum zu tun, daß man Freude im Herzen habe. — Ach, setzte jemand hinzu, wenn man klug ist, tut man am besten, weise zu sein.
301
Ein Zeugnis der Liebe. — Jemand sagte:»Über zwei Personen habe ich nie gründlich nachgedacht: es ist das Zeugnis meiner Liebe zu ihnen.»
302
Wie man schlechte Argumente zu verbessern sucht — Mancher wirft seinen schlechten Argumenten noch ein Stück seiner Persönlichkeit hintennach, wie als ob jene dadurch richtiger ihre Bahn laufen würden und sich in gerade und gute Argumente verwandeln ließen; ganz wie die Kegelschieber auch nach dem Wurfe noch mit Gebärden und Schwenkungen der Kugel die Richtung zu geben suchen.
303
Die Rechtlichkeit. — Es ist noch wenig, wenn man in bezug auf Rechte und Eigentum ein Muster- Mensch ist; wenn man zum Beispiel als Knabe nie Obst in fremden Gärten nimmt, als Mann nicht über ungemähte Wiesen läuft, — um kleine Dinge zu nennen, welche wie bekannt, den Beweis für diese Art von Musterhaftigkeit besser geben als große. Es ist noch wenig: man ist dann immer erst eine» juristische Person«, mit jenem Grad von Moralität, deren sogar eine» Gesellschaft«, ein Menschen-Klumpen fähig ist.
304
Mensch! — Was ist die Eitelkeit des eitelsten Menschen gegen die Eitelkeit, welche der Bescheidenste besitzt, in Hinsicht darauf, daß er sich in der Natur und Welt als» Mensch «fühlt.
305
Nötigste Gymnastik. — Durch den Mangel an kleiner Selbstbeherrschung bröckelt die Fähigkeit zur großen ab. Jeder Tag ist schlecht benutzt und eine Gefahr für den nächsten, an dem man nicht wenigstens einmal sich etwas im kleinen versagt hat: diese Gymnastik ist unentbehrlich, wenn man sich die Freude, sein eigener Herr zu sein, erhalten will.
306
Sich selber verlieren. — Wenn man erst sich selber gefunden hat, muß man verstehen, sich von Zeit zu Zeit zu verlieren — und dann wieder zu finden: vorausgesetzt daß man ein Denker ist. Diesem ist es nämlich nachteilig, immerdar an eine Person gebunden zu sein.
307
Wann Abschied nehmen not tut. — Von dem, was du erkennen und messen willst, mußt du Abschied nehmen, wenigstens auf eine Zeit. Erst wenn du die Stadt verlassen hast, siehst du, wie hoch sich ihre Türme über die Häuser erheben.
308
Am Mittag. — Wem ein tätiger und stürmereicher Morgen des Lebens beschieden war, dessen Seele überfällt um den Mittag des Lebens eine seltsame Ruhesucht, die monden- und jahrelang dauern kann. Es wird still um ihn, die Stimmen klingen fern und ferner; die Sonne scheint steil auf ihn herab. Auf einer verborgenen Waldwiese sieht er den großen Pan schlafend; alle Dinge der Natur sind mit ihm eingeschlafen, einen Ausdruck von Ewigkeit im Gesichte — so dünkt es ihm. Er will nichts, er sorgt sich um nichts, sein Herz steht still, nur sein Auge lebt, — es ist ein Tod mit wachen Augen. Vieles sieht da der Mensch, was er nie sah, und soweit er sieht, ist alles in ein Lichtnetz eingesponnen und gleichsam darin begraben. Er fühlt sich glücklich dabei, aber es ist ein schweres, schweres Glück. — Da endlich erhebt sich der Wind in den Bäumen, Mittag ist vorbei, das Leben reißt ihn wieder an sich, das Leben mit blinden Augen, hinter dem sein Gefolge herstürmt: Wunsch, Trug, Vergessen, Genießen, Vernichten, Vergänglichkeit. Und so kommt der Abend herauf, stürmereicher und tatenvoller, als selbst der Morgen war. — Den eigentlich tätigen Menschen erscheinen die länger währenden Zustände des Erkennens fast unheimlich und krankhaft, aber nicht unangenehm.
309
Sich vor seinem Maler hüten. — Ein großer Maler, der in einem Porträt den vollsten Ausdruck und Augenblick, dessen ein Mensch fähig ist, enthüllt und niedergelegt hat, wird von diesem Menschen, wenn er ihn später im wirklichen Leben wiedersieht, fast immer nur eine Karikatur zu sehen glauben.
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Die zwei Grundsätze des neuen Lebens. — Erster Grundsatz : man soll das Leben auf das Sicherste, Beweisbarste hin einrichten: nicht wie bisher auf das Entfernteste, Unbestimmteste, Horizont-Wolken- hafteste hin. Zweiter Grundsatz : man soll sich die Reihenfolge des Nächsten und Nahen, des Sicheren und weniger Sicheren feststellen, bevor man sein Leben einrichtet und in eine endgültige Richtung bringt.
311
Gefährliche Reizbarkeit. — Begabte Menschen, die aber träge sind, werden immer etwas gereizt erscheinen, wenn einer ihrer Freunde mit einer tüchtigen Arbeit fertig geworden ist. Ihre Eifersucht ist rege, sie schämen sich ihrer Faulheit — oder vielmehr, sie befürchten, der Tätige verachte sie gegenwärtig noch mehr als sonst. In dieser Stimmung kritisieren sie das neue Werk — und ihre Kritik wird zur Rache, zum höchsten Befremden des Urhebers.
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Zerstören der Illusionen. — Die Illusionen sind gewiß kostspielige Vergnügungen: aber das Zerstören der Illusionen ist noch kostspieliger — als Vergnügen betrachtet, was es unleugbar für manchen Menschen ist.
313
Das Eintönige des Weisen. — Die Kühe haben mitunter den Ausdruck der Verwunderung, die auf dem Wege zur Frage stehen bleibt. Dagegen liegt im Auge der höheren Intelligenz das nil admirari ausgebreitet wie die Eintönigkeit des wolkenlosen Himmels.
314
Nicht zu lange krank sein. — Man hüte sich, zu lange krank zu sein: denn bald werden die Zuschauer durch die übliche Verpflichtung, Mitleiden zu bezeigen, ungeduldig, weil es ihnen zuviel Mühe macht, diesen Zustand lange bei sich aufrecht zu erhalten — und dann gehen sie unmittelbar zur Verdächtigung eures Charakters über, mit dem Schlusse:»ihr verdient es krank zu sein, und wir brauchen uns nicht mehr mit Mitleiden anzustrengen.»
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Wink für Enthusiasten. — Wer gern hinge- rissen werden will und sich leicht nach oben tragen lassen möchte, soll zusehen, daß er nicht zu schwer werde: das heißt zum Beispiel, daß er nicht viel lerne und namentlich von der Wissenschaft sich nicht erfüllen lasse. Diese macht schwerfällig! — nehmt euch in Acht, ihr Enthusiasten!
316
Sich zu überraschen wissen. — Wer sich selber sehen will, so wie er ist, muß es verstehen, sich selber zu überraschen , mit der Fackel in der Hand. Denn es steht mit dem Geistigen so, wie es mit dem Körperlichen steht: wer gewohnt ist, sich im Spiegel zu schauen, vergißt immer seine Häßlichkeit: erst durch den Maler bekommt er den Eindruck derselben wieder. Aber er gewöhnt sich auch an das Gemälde und vergißt seine Häßlichkeit zum zweiten Male. — Dies nach dem allgemeinen Gesetze, daß der Mensch das Unveränderlich-Häßliche nicht erträgt : es sei denn auf einen Augenblick; er vergißt es oder leugnet es in allen Fällen. — Die Moralisten müssen auf jenen» Augenblick «rechnen, um ihre Wahrheiten vorbringen zu dürfen.
317
Meinungen und Fische. — Man ist Besitzer seiner Meinungen, wie man Besitzer von Fischen ist, — insofern man nämlich Besitzer eines Fischteiches ist. Man muß fischen gehen und Glück haben, — dann hat man seine Fische, seine Meinungen. Ich rede hier von lebendigen Meinungen, von lebendigen Fischen. Andere sind zufrieden, wenn sie ein Fossilien-Kabinett besitzen — und, in ihrem Kopfe,»Überzeugungen«.
318
Anzeichen von Freiheit und Unfreiheit. — Seine notwendigen Bedürfnisse soviel wie möglich selber befriedigen, wenn auch unvollkommen, das ist die Richtung auf Freiheit von Geist und Person . Viele, auch überflüssige Bedürfnisse sich befriedigen lassen, und so vollkommen als möglich, — erzieht zur Unfreiheit . Der Sophist Hippias, der alles was er trug, innen und außen, selbst erworben, selber gemacht hatte, entspricht eben damit der Richtung auf höchste Freiheit des Geistes und der Person. Nicht darauf kommt es an, daß alles gleich gut und vollkommen gearbeitet ist; der Stolz flickt schon die schadhaften Stellen aus.
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Sich selber glauben. — In unserer Zeit mißtraut man jedem, der an sich selber glaubt; ehemals genügte es, um an sich glauben zu machen. Das Rezept, um jetzt Glauben zu finden, heißt:»Schone dich selber nicht! Willst du deine Meinung in ein glaubwürdiges Licht setzen, so zünde zuerst die eigene Hütte an!»
320
Reicher und ärmer zugleich. — Ich kenne einen Menschen, der als Kind schon sich gewöhnt hatte, gut von der Intellektualität der Menschen zu denken, also von ihrer wahren Hingebung in bezug auf geistige Dinge, ihrer uneigennützigen Bevorzugung des als wahr Erkannten und dergleichen, dagegen von seinem eigenen Kopfe (Urteil, Gedächtnis, Geistesgegenwart, Phantasie) bescheidene, ja niedrige Begriffe zu haben. Er machte sich nichts aus sich, wenn er sich mit anderen verglich. Nun wurde er im Laufe der Jahre erst einmal und dann hundertfach gezwungen, in diesem Punkte umzulernen, — man sollte denken zu seiner großen Freude und Genugtuung. Es gab auch in der Tat etwas davon; aber» doch ist, wie er einmal sagte, eine Bitterkeit der bittersten Art beigemischt, welche ich im früheren Leben nicht kannte: denn seit ich die Menschen und mich selber gerechter schätze, scheint mir mein Geist weniger nütze; ich glaube damit kaum noch etwas Gutes erweisen zu können, weil der Geist der Anderen es nicht anzunehmen versteht: ich sehe jetzt die schreckliche Kluft zwischen dem Hilfreichen und dem Hilfebedürftigen immer vor mir. Und so quält mich die Not, meinen Geist für mich haben und allein genießen zu müssen, soweit er genießbar ist. Aber geben ist seliger als haben : und was ist der Reichste in der Einsamkeit einer Wüste!»