Die furchtbarste Rache. — Wenn man sich an einem Gegner durchaus rächen will, so soll man so lange warten, bis man die ganze Hand voll Wahrheiten und Gerechtigkeiten hat und sie gegen ihn ausspielen kann, mit Gelassenheit: so daß Rache üben mit Gerechtigkeit üben zusammenfällt. Es ist die furchtbarste Art der Rache: denn sie hat keine Instanz über sich, an die noch apelliert werden könnte. So rächte sich Voltaire an Piron, mit fünf Zeilen, die über dessen ganzes Leben, Schaffen und Wollen richten: soviel Worte, soviel Wahrheiten; so rächte sich derselbe an Friedrich dem Großen (in einem Briefe an ihn, von Ferney aus).
238
Luxus-Steuer. — Man kauft in den Läden das Nötige und Nächste und muß es teuer bezahlen, weil man mitbezahlt, was dort auch feil steht, aber nur selten seine Abnehmer hat: das Luxushafte und Gelüstartige. So legt der Luxus dem Einfachen, der seiner enträt, doch eine fortwährende Steuer auf.
239
Warum die Bettler noch leben. — Wenn alle Almosen nur aus Mitleiden gegeben würden, so wären die Bettler allesamt verhungert.
240
Warum die Bettler noch leben. — Die größte Almosenspenderin ist die Feigheit.
241
Wie der Denker ein Gespräch benutzt. — Ohne Horcher zu sein, kann man viel hören, wenn man versteht, gut zu sehen, doch sich selber für Zeiten aus den Augen zu verlieren. Aber die Menschen wissen ein Gespräch nicht zu benutzen; sie verwenden bei weitem zuviel Aufmerksamkeit auf das, was sie sagen und entgegnen wollen, während der wirkliche Hörer sich oft begnügt, vorläufig zu antworten und etwas als Abschlagszahlung der Höflichkeit überhaupt zu sagen , dagegen mit seinem hinterhaltigen Gedächtnisse alles davonträgt, was der andere geäußert hat, nebst der Art in Ton und Gebärde, wie er es äußerte. — Im gewöhnlichen Gespräche meint jeder der Führende zu sein, wie wenn zwei Schiffe, die nebeneinander fahren und sich hier und da einen kleinen Stoß geben, beiderseits im guten Glauben sind, ihr Nachbarschiff folge oder werde sogar geschleppt.
242
Die Kunst, sich zu entschuldigen. — Wenn sich jemand vor uns entschuldigt, so muß er es sehr gut machen: sonst kommen wir uns selber leicht als die Schuldigen vor und haben eine unangenehme Empfindung.
243
Unmöglicher Umgang. — Das Schiff deiner Gedanken geht zu tief, als daß du mit ihm auf den Gewässern dieser freundlichen, anständigen, entgegenkommenden Personen fahren konntest. Es sind da der Untiefen und Sandbänke zu viele: du würdest dich drehen und wenden müssen und in fortwährender Verlegenheit sein, und jene würden alsbald auch in Verlegenheit geraten — über deine Verlegenheit, deren Ursache sie nicht erraten können.
244
Fuchs der Füchse. — Ein rechter Fuchs nennt nicht nur die Trauben sauer, welche er nicht erreichen kann, sondern auch die, welche er erreicht und anderen vorweggenommen hat.
245
Im nächsten Verkehre. — Wenn Menschen auch noch so eng zusammengehören: es gibt innerhalb ihres gemeinsamen Horizontes doch noch alle vier Himmelsrichtungen, und in manchen Stunden merken sie es.
246
Das Schweigen des Ekels. — Da macht jemand als Denker und Mensch eine tiefe, schmerzhafte Umwandlung durch und legt dann öffentlich Zeugnis davon ab. Und die Hörer merken nichts! glauben ihn noch ganz als den alten! — Diese gewöhnliche Erfahrung hat manchen Schriftstellern schon Ekel gemacht: sie hatten die Intellektualität der Menschen zu hoch geachtet und gelobten sich, als sie ihren Irrtum wahrnahmen, das Schweigen an.
247
Geschäfts-Ernst. — Die Geschäfte manches Reichen und Vornehmen sind seine Art Ausruhens von allzulangem gewohnheitsmäßigem Müßiggang : er nimmt sie deshalb so ernst und passioniert, wie andere Leute ihre seltenen Muße-Erholungen und — Liebhabereien.
248
Doppelsinn des Auges. — Wie das Gewässer zu deinen Füßen eine plötzliche schuppenhafte Erzitterung überläuft, so gibt es auch im menschlichen Auge solche plötzliche Unsicherheiten und Zweideutigkeiten, bei denen man sich fragt: ist's ein Schaudern? ist's ein Lächeln? ist's beides?
249
Positiv und negativ. — Dieser Denker braucht niemanden, der ihn widerlegt: er genügt sich dazu selber.
250
Die Rache der leeren Netze. — Man nehme sich vor allen Personen in acht, welche das bittre Gefühl des Fischers haben, der nach mühevollem Tagewerk am Abend mit leeren Netzen heimfährt.
251
Sein Recht nicht geltend machen. — Macht ausüben kostet Mühe und erfordert Mut. Deshalb machen so viele ihr gutes, allerbestes Recht nicht geltend, weil dies Recht eine Art Macht ist, sie aber zu faul oder zu feige sind, es auszuüben. Nachsicht und Geduld heißen die Deckmantel-Tugenden dieser Fehler.
252
Lichtträger. — In der Gesellschaft wäre kein Sonnenschein, wenn ihn nicht die geborenen Schmeichelkatzen mit hineinbrächten, ich meine die sogenannten Liebenswürdigen.
253
Am mildtätigsten. — Wenn der Mensch eben sehr geehrt worden ist und ein wenig gegessen hat, so ist er am mildtätigsten.
254
Zum Lichte. — Die Menschen drängen sich zum Lichte, nicht um besser zu sehen, sondern um besser zu glänzen. — Vor wem man glänzt, den läßt man gerne als Licht gelten.
255
Die Hypochonder. — Der Hypochonder ist ein Mensch, der gerade genug Geist und Lust am Geiste besitzt, um seine Leiden, seinen Verlust, seine Fehler gründlich zu nehmen: aber sein Gebiet, auf dem er sich nährt, ist zu klein; er weidet es so ab, daß er endlich die einzelnen Hälmchen suchen muß. Dabei wird er endlich zum Neider und Geizhals — und dann erst ist er unausstehlich.
256
Zurückerstatten. — Hesiod rät an, dem Nachbar, der uns ausgeholfen hat, mit gutem Maße und womöglich reichlicher zurückzugeben, sobald wir es vermögen. Dabei hat nämlich der Nachbar seine Freude, denn seine einstmalige Gutmütigkeit trägt ihm Zinsen ein; aber auch der, welcher zurückgibt, hat sein Freude, insofern er die kleine einstmalige Demütigung, sich aushelfen lassen zu müssen, durch ein kleines Übergewicht, als Schenkender, zurückkauft.
257
Feiner als nötig. — Unser Beobachtungssinn dafür, ob andere unsere Schwächen wahrnehmen, ist viel feiner, als unser Beobachtungssinn für die Schwächen anderer: woraus sich also ergibt, daß er feiner ist, als nötig wäre.
258
Eine lichte Art von Schatten. — Dicht neben den ganz mächtigen Menschen befindet sich fast regelmäßig, wie an sie angebunden eine Lichtseele. Sie ist gleichsam der negative Schatten, den jene werfen.
259
Sich nicht rächen? — Es gibt so viele feine Arten der Rache, daß einer der Anlaß hätte sich zu rächen, im Grunde tun oder lassen kann, was er will: alle Welt wird doch nach einiger Zeit übereingekommen sein, daß er sich gerächt habe . Sich nicht zu rächen steht also kaum im Belieben eines Menschen: daß er es nicht wolle , darf er nicht einmal aussprechen, weil die Verachtung der Rache als eine sublime, sehr ernpfindliche Rache gedeutet und empfunden wird — Woraus sich ergibt, daß man nichts Überflüssiges tun soll –
260
Irrtum der Ehrenden. — Jeder glaubt einem Denker etwas Ehrendes und Angenehmes Zu sagen wenn er ihm zeigt, wie er von selber genau auf denselben Gedanken und selbst auf den gleichen Ausdruck geraten sei; und doch wird bei solchen Mitteilungen der Denker nur selten ergötzt, aber häufig gegen seinen Gedanken und dessen Ausdruck mißtrauisch: er beschließt im Stillen, beide einmal zu revidieren. — Man muß, wenn man jemanden ehren will, sich vor dem Ausdruck: der Übereinstimmung hüten: sie stellt auf ein gleiches Niveau. — In vielen Fällen ist es die Sache der gesellschaftlichen Schicklichkeit, eine Meinung so anzuhören, als sei sie nicht die unsrige, ja als ginge sie über unsern Horizont hinaus: zum Beispiel wenn der Alte, Alterfahrene einmal ausnahmsweise den Schrein seiner Erkenntnisse aufschließt.
261
Brief. — Der Brief ist ein unangemeldeter Besuch, der Briefbote der Vermittler unhöflicher Überfälle. Man sollte alle acht Tage eine Stunde zum Briefempfangen haben und darnach ein Bad nehmen.
262
Der Voreingenommene. — Jemand sagte: ich bin gegen mich voreingenommen , von Kindesbeinen an: deshalb finde ich in jedem Tadel etwas Wahrheit und in jedem Lobe etwas Dummheit. Das Lob wird von mir gewöhnlich zu gering und der Tadel zu hoch geschätzt.
263
Weg zur Gleichheit. — Einige Stunden Bergsteigens machen aus einem Schuft und einem Heiligen zwei ziemlich gleiche Geschöpfe. Die Ermüdung ist der kürzeste Weg zur Gleichheit und Brüderlichkeit — und die Freiheit wird endlich durch den Schlaf hinzugegeben.
264
Verleumdung. — Kommt man einer eigentlich infamen Verdächtigung auf die Spur, so suche man ihren Ursprung nie bei seinen ehrlichen und einfachen Fein- den ; denn diese würden, wenn sie so etwas über uns erfänden, als Feinde keinen Glauben finden. Aber jene, denen wir eine Zeitlang am meisten genützt haben, welche aber, aus irgend einem Grunde, im Geheimen sicher darüber sein dürfen, nichts mehr von uns zu erlangen, — solche sind imstande, die Infamie ins Rollen zu bringen: sie finden Glauben, einmal weil man annimmt, daß sie nichts erfinden würden, was ihnen selber Schaden bringen könnte; sodann weil sie uns näher kennengelernt haben. — Zum Troste mag sich der so schlimm verleumdete sagen: Verleumdungen sind Krankheiten anderer, die an deinem Leibe ausbrechen; sie beweisen, daß die Gesellschaft ein (moralischer) Körper ist, so daß du an dir die Kur vornehmen kannst, die den Anderen nützen soll.
265
Das Kinder-Himmelreich. — Das Glück des Kindes ist ebenso sehr ein Mythus wie das Glück der Hyperboreer, von dem die Griechen erzählten. Wenn das Glück überhaupt auf Erden wohnt, meinten diese, dann gewiß möglichst weit von uns, etwa dort am Rande der Erde. Ebenso denken die älteren Menschen: wenn der Mensch überhaupt glücklich sein kann, dann gewiß möglichst fern von unserem Alter, an den Grenzen und Anfängen des Lebens. Für manchen Menschen ist der Anblick der Kinder, durch den Schleier dieses Mythus hindurch, das größte Glück, dessen er teilhaftig werden kann; er geht selber bis in den Vorhof des Himmelreichs, wenn er sagt» lasset die Kindlein zu mir kommen, denn ihrer ist das Himmelreich«. — Der Mythus vom Kinder-Himmelreich ist überall irgendwie tätig, wo es in der modernen Welt etwas von Sentimentalität gibt.