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Lebens-Ansichten des Katers Murr / Житейские воззрения кота Мурра - i_003.jpg

Kreisler hatte recht; Meister Abraham verstand sich darauf, Kartonblätter so zuzuschneiden, daß, fand man auch aus dem Gewirre durchschnittner Flecke nicht das mindeste deutlich heraus, doch, hielt man ein Licht hinter das Blatt, in dem auf die Wand geworfenen Schatten, sich die seltsamsten Gestalten in allerlei Gruppen bildeten. Hatte nun Meister Abraham schon an und für sich selbst einen natürlichen Abscheu gegen alles Vorlesen, war ihm noch besonders des Lieutenants Verselei im Grunde des Herzens zuwider, so konnt' es nicht fehlen, daß er, kaum hatte der Lieutenant begonnen, begierig nach dem steifen Notenpapier griff, das zufällig auf dem Tische des Geheimerats lag, eine kleine Schere aus der Tasche langte, und eine Beschäftigung begann, die ihn dem Attentat des Lieutenants gänzlich entzog.

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«Höre Kreisler«, begann nun der Geheimerat, – »also eine Erinnerung an Deine Knabenzeit war es, die in Deine Seele kam, und dieser Erinnerung mag ich es wohl zuschreiben, daß Du heute so mild bist, so gemütlich, – höre, mein innigstgeliebter Freund! es wurmt mich wie alle, die Dich ehren und lieben, daß ich von Deinem frühern Leben so ganz und gar nichts weiß, daß Du der leisesten Frage darüber so unfreundlich ausweichst, ja, daß Du absichtlich Schleier über die Vergangenheit wirfst, die doch zuweilen zu durchsichtig sind, um nicht durch allerlei in seltsamer Verzerrung durchschimmernde Bilder die Neugierde zu reizen. Sei offen gegen die, denen Du doch schon Dein Vertrauen schenktest.«—

Kreisler blickte den Geheimerat an mit großen Augen voll Verwunderung, wie einer, der aus dem tiefen Schlafe erwachend, eine fremde unbekannte Gestalt vor sich erblickt, und fing dann sehr ernsthaft an:

«Am Tage Johannis Chrysostomi, das heißt am vier und zwanzigsten Januar des Jahres Ein tausend siebenhundert und etzliche dazu, um die Mittagsstunde, wurde einer geboren, der hatte ein Gesicht und Hände und Füße. Der Vater aß eben Erbsensuppe, und goß sich vor Freuden einen ganzen Löffel voll über den Bart, worüber die Wöchnerin, unerachtet sie es nicht gesehen, dermaßen lachte, daß von der Erschütterung dem Lautenisten, der dem Säugling seinen neuesten Murki vorspielte, alle Saiten sprangen, und er bei der atlasnen Nachthaube seiner Großmutter schwur, was Musik betreffe, würde der kleine Hans Haase ein elender Stümper bleiben ewiglich und immerdar. Darauf wischte sich aber der Vater das Kinn rein und sprach pathetisch: ›Johannes soll er zwar heißen, jedoch kein Hase sein.‹ Der Lautenist – «

«Ich bitte Dich, Kreisler«, unterbrach der kleine Geheimrat den Kapellmeister, verfalle nicht in die verdammte Sorte von Humor, die mir, ich mags wohl sagen, den Atem versetzt! Verlange ich denn, daß Du mir eine pragmatische Selbstbiographie geben, will ich denn mehr, als daß Du mir vergönnen sollst, einige Blicke in Dein früheres Leben zu tun, ehe ich Dich kannte? – In der Tat magst du mir eine Neugierde nicht verargen, die keine andere Quelle hat, als die innigste Zuneigung recht aus dem tiefsten Herzen. Und nebenher mußt Du es Dir, da Du nun einmal seltsam genug auftrittst, gefallen lassen, daß jeder glaubt, nur das bunteste Leben, eine Reihe der fabelhaftesten Ereignisse könne die psychische Form so auskneten und bilden, wie es bei Dir geschehen«. —»O des groben Irrtums«, sprach Kreisler, indem er tief seufzte,»meine Jugendzeit gleicht einer dürren Heide ohne Blüten und Blumen, Geist und Gemüt erschlaffend im trostlosen Einerlei! -«

«Nein nein«, rief der Geheimerat,»dem ist nicht so, denn ich weiß wenigstens, daß in der Heide ein hübscher kleiner Garten steht, mit einem blühenden Apfelbaum, der mein feinstes Königspulver überduftet. Nun! ich meine, Johannes, Du rückst hervor mit der Erinnerung aus Deiner frühern Jugendzeit, die heute, wie Du erst sagtest, Deine ganze Seele befängt.«

«Ich dächte«, sprach Meister Abraham, indem er dem eben fertig gewordenen Kapuziner die Tonsur einschnitt,»ich dächte auch, Kreisler, daß Ihr in Eurer heutigen passablen Stimmung nichts Besseres tun könntet, als Euer Herz oder Euer Gemüt, oder wie Ihr sonst gerade Euer inneres Schatzkästlein nennen möget, aufschließen, und dies, jenes daraus hervorlangen. Das heißt, da Ihr nun einmal verraten, daß Ihr wider den Willen des besorgten Oheims im Regen hinausliefet und abergläubischerweise auf die Weissagungen des sterbenden Donners horchtet, so möget Ihr immer noch mehr erzählen, wie sich damals alles begab. Aber lügt nicht, Johannes, denn Ihr wißt, daß Ihr, was wenigstens die Zeit betrifft, als Ihr die ersten Hosen truget, und dann der erste Haarzopf Euch eingeflochten wurde, unter meiner Kontrolle stehet.«

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Kreisler wollte etwas erwidern, aber Meister Abraham wandte sich schnell zum kleinen Geheimenrat und sprach:»Sie glauben gar nicht, Vortrefflichster, wie unser Johannes sich dem bösen Geist des Lügens ganz und gar hingibt, wenn er, wie es jedoch gar selten geschieht, von seiner frühesten Jugendzeit erzählt. Gerade wenn die Kinder noch sagen: ›Pä pä und Mä mä!‹ und mit den Fingern ins Licht fahren, gerade zu der Zeit will er schon alles beachtet, und tiefe Blicke getan haben ins menschliche Herz.«

«Ihr tut mir unrecht«, sprach Kreisler, mild lächelnd, mit sanfter Stimme,»Ihr tut mir großes Unrecht, Meister! Sollt' es mir denn möglich sein, Euch was weismachen zu wollen von frühreifem Geistesvermögen, wie es wohl eitle Gecken tun? – Und ich frage Dich, Geheimerrat, ob es Dir auch nicht widerfährt, daß oft Momente lichtvoll vor Deine Seele treten aus einer Zeit, die manche erstaunlich kluge Leute ein bloßes Vegetieren nennen und nichts statuieren wollen, als bloßen Instinkt, dessen höhere Vortrefflichkeit wir den Tieren einräumen müssen! – Ich meine, daß es damit eine eigene Bewandnis hat! – Ewig unerforschlich bleibt uns das erste Erwachen zum klaren Bewußtsein! – Wäre es möglich, daß dies mit einem Ruck geschehen könnte, ich glaube, der Schreck darüber müßte uns töten. – Wer hat nicht schon die Angst der ersten Momente im Erwachen aus tiefem Traum, bewußtlosen Schlaf empfunden, wenn er sich selbst fühlend, sich auf sich selbst besinnen mußte! – Doch, um mich nicht zu weit zu verlieren, ich meine, jeder starke psychische Eindruck in jener Entwicklungszeit läßt wohl ein Samenkorn zurück, das eben mit dem Emporsprossen des geistigen Vermögens fortgedeiht, und so lebt aller Schmerz, alle Lust jener Stunden der Morgendämmerung in uns fort, und es sind wirklich die süßen wehmutsvollen Stimmen der Lieben, die wir, als sie uns aus dem Schlafe weckten, nur im Traum zu hören glaubten, und die noch in uns forthallen! – Ich weiß aber, worauf der Meister anspielt. Auf nichts anders, als auf die Geschichte von der verstorbenen Tante, die er mir wegstreiten will, und die ich, um ihn erklecklich zu ärgern, nun gerade Dir, Geheimerat erzählen werde, wenn Du mir versprichst, mir was weniges empfindelnde Kinderei zu Gute zu halten. – Was ich Dir von der Erbssuppe und dem Lautenisten«—»O«, unterbrach der Geheimerat den Kapellmeister,»still still, nun merk' ich wohl, Du willst mich foppen, und das ist denn doch wider alle Sitte und Ordnung.«

«Keinesweges«, fuhr Kreisler fort,»mein Herz! Aber von dem Lautenisten muß ich anfangen; denn er bildet den natürlichsten Übergang zur Laute, deren Himmelstöne das Kind in süße Träume wiegten. Die jüngere Schwester meiner Mutter war Virtuosin auf diesem, zur Zeit in die musikalische Polterkammer verwiesenen Instrument. Gesetzte Männer, die schreiben und rechnen können und wohl noch mehr als das, haben in meiner Gegenwart Tränen vergossen, wenn sie bloß dachten an das Lautenspiel der seligen Mamsell Sophie, mir ist es deshalb gar nicht zu verdenken, wenn ich ein durstig Kind, meiner selbst nicht mächtig, noch ohne in Wort und Rede aufgekeimtes Bewußtsein, alle Wehmut des wunderbaren Tonzaubers, den die Lautenistin aus ihrem Innersten strömen ließ, in begierigen Zügen einschlürfte. – Jener Lautenist an der Wiege war aber der Lehrer der Verstorbenen, klein von Person, mit hinlänglich krummen Beinen, hieß Monsieur Turtel, und trug eine sehr saubere weiße Perücke mit einem breiten Haarbeutel, sowie einen roten Mantel. – Ich sage das nur, um zu beweisen, wie deutlich mir die Gestalten aus jener Zeit aufgehen, und daß weder Meister Abraham, noch sonst jemand, daran zweifeln darf, wenn ich behaupte, daß ich, ein Kind von noch nicht drei Jahren, mich finde auf dem Schoß eines Mädchens, deren mild blickende Augen mir recht in die Seele leuchteten, daß ich noch die süße Stimme höre, die zu mir sprach, zu mir sang, daß ich es noch recht gut weiß, wie ich der anmutigen Person all' meine Liebe, all' meine Zärtlichkeit zuwandte. Dies war aber eben Tante Sophie, die in seltsamer Verkürzung ›Füßchen‹ gerufen wurde. Eines Tages lamentierte ich sehr, weil ich Tante Füßchen nicht gesehen hatte. Die Wärterin brachte mich in ein Zimmer, wo Tante Füßchen im Bette lag, aber ein alter Mann, der neben ihr gesessen, sprang schnell auf, und führte, heftig scheltend, die Wärterin, die mich auf dem Arm hatte, heraus. Bald darauf kleidete man mich an, hüllte mich ein in dicke Tücher, brachte mich ganz und gar in ein anderes Haus zu andern Personen, die sämtlich Onkel und Tanten von mir sein wollten, und versicherten, daß Tante Füßchen sehr krank sei, und ich, wäre ich bei ihr geblieben, ebenso krank geworden sein würde. Nach einigen Wochen brachte man mich zurück nach meinem vorigen Aufenthalt. Ich weinte, ich schrie, ich wollte zu Tante Füßchen. Sowie ich in jenes Zimmer gekommen, trippelte ich hin an das Bette, in dem Tante Füßchen gelegen, und zog die Gardinen auseinander. Das Bette war leer, und eine Person, die nun wieder eine Tante von mir war, sprach, indem ihr die Tränen aus den Augen stürzten: ›Du findest sie nicht mehr, Johannes, sie ist gestorben, und liegt unter der Erde.‹ —

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