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Sie saß im Vorzimmer hinter dem Schreibtisch, hatte einen kleinen Spiegel auf die Tastatur gestellt und schminkte die Lippen karminrot. Ihr Haar, das gestern strohblond gewesen war, war schwarz mit einem Stich ins Blaue, das grünlich wirkte. Es war fünf Minuten nach sechs.

«Sie spionieren mir nach, Herr Doktor!«reklamierte Ilse Freude und schminkte sich weiter.

«Wenn Sie derart laut mit der Stellenvermittlung telefonieren«, verteidigte ich mich.

«Sondieren darf man wohl noch«, meinte sie, nachdem sie sich geschminkt hatte,»aber ich lasse Sie nicht im Stich, jetzt wo die Riesenarbeit auf uns zukommt.»

«Welche Riesenarbeit?«fragte ich verwundert.

Ilse Freude gab vorerst keine Antwort, stellte ihre prallvolle Umhängetasche auf den Schreibtisch, warf den Spiegel und den Schminkstift achtlos hinein.

«Herr Doktor«, erklärte sie,»Sie sehen zwar harmlos aus, viel zu gutmütig für einen Rechtsanwalt, Rechtsanwälte haben anders auszusehen. Ich kenne die Rechtsanwälte, entweder sehen sie vertrauenerweckend aus oder künstlerisch, wie Pianisten, nur ohne Frack, aber Sie, Herr Doktor…»

«Worauf wollen Sie hinaus?«unterbrach ich sie ungeduldig.

«Ich will darauf hinaus, daß Sie ein gerissener Hund sind, Herr Doktor. Sie sehen nicht aus wie ein Rechtsanwalt und sind doch einer. Sie wollen auch den unschuldigen Kantonsrat aus dem Zuchthaus befreien.»

«Was soll der Unsinn, Ilse?«staunte ich.

«Wozu haben Sie denn sonst einen Scheck von fünfzehntausend Franken vom Kantonsrat Kohler erhalten?»

Ich war perplex.»Woher wissen Sie das?«herrschte ich sie an.

«Hin und wieder muß ich schließlich Ihren Schreibtisch aufräumen«, fauchte sie zurück,»bei Ihrem Durcheinander. Und jetzt werden Sie noch grob.»

Sie wischte sich die Augen.»Aber Sie werden's schaffen. Sie holen den guten Kantonsrat raus. Ich bleibe bei Ihnen! Wie eine Klette! Wir beide schaffen das, Herr Doktor!»

«Sie glauben, der alte Kohler sei unschuldig?«fragte ich bestürzt.

Ilse Freude erhob sich graziös, trotz ihrer respektablen Fülle, hing sich die Tasche um.

«Das weiß doch die ganze Stadt«, sagte sie.»Und auch wer der Mörder ist.»

«Da bin ich aber gespannt«, sagte ich und fröstelte plötzlich.

«Doktor Benno«, erklärte Ilse.»Der war schweizerischer Meister im Pistolenschießen. Das steht in allen Zeitungen.»

Später aß ich mit Mock im >Du Théâtre<. Er hatte mich eingeladen, eine Seltenheit für den alten Geizkragen. Ich nahm die Einladung an, obgleich ich wußte, daß Mock nur einlud, wenn er sicher war, eine Absage zu erhalten. Aber ich war neugierig darauf, ob es stimme, daß Mock seit der Ermordung Winters nun an dessen Tisch zu speisen pflegte. Es stimmte. Zu meiner Überraschung begrüßte mich Mock freudig, doch kaum hatte ich Platz genommen, setzte sich der Kommandant zu uns, das erste Mal, daß ich ihn kennenlernte, auch stellte sich heraus, daß er gekommen war, um mich kennenzulernen, überhaupt das Treffen organisiert hatte und der Gastgeber war und am Schluß denn auch alles bezahlte. Mock war nur der Köder gewesen. Der Kommandant bestellte Leberknödelsuppe, Tournedos Rossini mit Rösti und Bohnen und eine Flasche Chambertin, Winter zu Ehren, wie er sagte, der sei zwar ein fürchterlicher Schwätzer gewesen, aber ein herrlicher Fresser. Es sei stets eine Freude gewesen, ihm dabei zuzuschauen. Ich machte mit. Mock wählte vom Wagen Rindsbraten mit Kartoffelpüree. Das Mahl hatte etwas Makabres. Wir aßen schweigend, so daß es eigentlich überflüssig war, daß Mock seinen Hörapparat neben seinen Teller gelegt hatte, um ungestört essen zu können. Dann bestellte der Kommandant eine Mousse au chocolat, und ich erzählte ihm mein Gespräch mit Ilse Freude.

«Sie wissen nicht, Spät, wie recht Ihr Unikum von einer Sekretärin hat. Das Gerücht ist im Zuchthaus entstanden. Der Direktor und die Wärter schwören, Kohler könne unmöglich der Mörder sein. Wie das der alte Gauner zustande gebracht hat, weiß der Teufel. Glauben einmal einige einen Unsinn, glauben es andere. Es geht zu wie bei einer Lawine. Immer größere Glaubensunsinnsmassen stürzen herunter. Zuerst glauben's die vom Morddezernat selber. Na ja, es geht Sie, Spät, eigentlich nichts an, aber Leutnant Herren ist unbeliebt, und da wäre seine Mannschaft überglücklich, erwiese sich Kohlers Verhaftung als ein Irrtum, und was die übrige Polizei angeht, so ist die auf das Morddezernat eifersüchtig, während gegenüber der Polizei die Feuerwehr und die Angestellten des öffentlichen Verkehrs unter Minderwertigkeitskomplexen leiden, und schon ist die Lawine unaufhaltsam geworden und erreicht die Bevölkerung, die uns ohnehin jede Schlappe gönnt. Vor allem mir, und bereits hat sich der Mörder in ein Unschuldslamm verwandelt. Dazu kommt noch, daß es ein populärer Mord gewesen ist, der manchem in den Kram gepaßt hat, und daß die Zünfte und der Kreis um Kohler, die Ständeräte, die Nationalräte, Regierungsräte, Kantonsräte und Stadträte und wer sonst noch die Finger im Spiel hat, all die Generaldirektoren und Direktoren, Bosse und Chefs, sich über das forsche Vorgehen Jämmerlins und über das Umfallen der Richter ärgern. Sie haben nichts gegen eine Verurteilung, aber haben mit einer Strafe auf Bewährung oder gar mit einem Freispruch infolge Unzurechnungsfähigkeit gerechnet, was einen Politiker ja nicht unzurechnungsfähig macht. Kohlers Unschuld wäre Balsam auf viele Wunden, Spät.»

Mock schob den Teller von sich und stopfte sich seinen Hörapparat in die Ohren.

«Sie haben vom alten Kohler einen recht seltsamen'Auftrag bekommen, und jetzt dieses blödsinnige Gerede, er sei unschuldig und der Luftikus Benno sei der Mörder. Nur weil er ein Meisterschütze gewesen ist, wobei sich hierzulande ein jeder einbildet, er sei einer. Aber weshalb muß sich der Blödian auch verstecken«, sagte der Kommandant und beschäftigte sich mit seiner Mousse au chocolat.»Gefällt mir nicht. Der Auftrag Kohlers, das Gerücht, er sei unschuldig, und das Verschwinden Bennos hängen zusammen.»

«Spät ist in eine Falle gegangen«, sagte Mock und begann mit einem Kohlestift aufs Tischtuch zu zeichnen. Eine Ratte, schon eingeklemmt in der Falle, doch immer noch am Speck nagend.

Im Zeltweg saß Lienhard in meinem Büro.

«Wie sind Sie reingekommen?«fragte ich ungehalten.

«Unwichtig«, gab Lienhard zur Antwort und wies auf den Schreibtisch:»Die Berichte.»

«Halten Sie Kohler auch für unschuldig?«fragte ich argwöhnisch.

«Nein.»

«Mock meint, ich sei in die Falle gegangen«, sagte ich düster.

«Kommt auf Sie an«, antwortete Lienhard.

Hundertfünfzig Seiten, eng beschrieben, Telegrammstil. Hatte ich eine hypothetische Abhandlung erwartet, vage Kombination, stand ich Tatsachen gegenüber. Anstelle eines Unbekannten wurde ein Name genannt. Die Berichte selber waren verschieden zu würdigen, im ganzen mit Vorsicht aufzunehmen. Die Befragung der Zeugen durch Schönbächler: Zeugen widersprechen sich, aber das Ausmaß dieser Widersprüche war erstaunlich. Beispiele: Eine Serviertochter behauptete, Kohler habe ausgerufen» Sauchaib«, während der Prokurist eines Damenwäschegeschäfts, der damals am Nebentisch saß (»noch einen Saucespritzer habe ich abgekriegt«), aussagte, die Worte Kohlers hätten» Guten Tag, alter Freund «gelautet. Ein dritter Zeuge wollte gesehen haben, wie der Kantonsrat dem Professor noch die Hand schüttelte. Einer sagte aus, Kohler sei, nachdem er Winter niedergeschossen habe, mit Lienhard zusammengestoßen. Dazu ein Fragezeichen und eine Anmerkung Lienhards:»War nicht dort. «Weitere gegensätzliche Aussagen über fünfzig Seiten. Nun gibt es keinen objektiven Zeugen. Jeder Zeuge neigt dazu, dem Erlebten unbewußt Erfundenes beizumischen. Ein Vorfall, dessen Zeuge er ist, spielt sich außerhalb und im Zeugen ab. Dieser nimmt den Vorfall auf seine Weise wahr, prägt den Vorfall in sein Gedächtnis, und das Gedächtnis prägt ihn um: Jedes Gedächtnis gibt einen anderen Vorfall wieder. Auch häuften sich die Unstimmigkeiten, weil Schönbächler im Gegensatz zur Polizei alle Zeugen ausgefragt hatte. Je mehr Zeugen, desto widersprüchlicher die Aussagen, über fünfzig Seiten füllten die entgegengesetzten Behauptungen. Endlich der Zeitunterschied: Der Vorfall hatte sich nun vor eindreiviertel Jahren zugetragen. Die Phantasie hatte Zeit, das Gedächtnis umzuformen, dazu kam Wunschdenken, Wichtigtuerei usw., weitere fünfzig Seiten hätten mit den Aussagen jener gefüllt werden können, die sich einbildeten, beim Mord dabeigewesen zu sein, aber nicht dabeigewesen waren. Doch hatte Schönbächler sorgfältig recherchiert. Der Bericht Feuchtings: seine Methode die simpelste. Er fragte direkt und konnte sich das leisten, weil er immer direkt fragte. Es fiel nicht einmal mehr auf, wenn er sich erkundigte. Er erkundigte sich über alles, auch über Dinge, die sinnlos waren oder sinnlos zu sein schienen. Am Schluß setzten sich seine Steinchen zusammen, mühsam genug, durch unzählige Martinis gekittet, und gaben ein Mosaik frei, das bedenklicherweise die Aussagen verschiedener Zeugen bestätigte, die im Bericht Schönbächlers vorkamen, hatten doch einige behauptet, Dr. Benno sei auch im >Du Théâtre< gewesen, andere, er habe sich vor Kohler dem Professor genähert, wieder andere, er habe am gleichen Tisch gesessen, einer sogar meinte, er habe das Lokal unmittelbar nach dem Kantonsrat verlassen, und eine Bardame sagte aus, Benno sei kurz nach der Ermordung Winters in die Bar gestürzt gekommen, habe getanzt vor Freude, Gläser zerschlagen und geschrien» Der Zeck ist tot, der Zeck ist tot«, jeden angerempelt und erklärt, jetzt werde er sie heiraten. Man habe das auf die Steiermann bezogen, ihm Glück gewünscht und sich von ihm einladen lassen. Das alles hatte sich in der >Himmelfahrtsbar< abgespielt, wie eine Räuberhöhle in der Nähe des Münsters ihrer scharfen Schnäpse wegen genannt wurde, in der in letzter Zeit Benno viel gesehen wurde. Diese» letzte Zeit «währte bei Benno schon mehr als zwei Jahre. Aus gutem Hause, nach guter Erziehung, nach erfolgreichen Studien, nach sportlicher Karriere, nach glänzenden gesellschaftlichen Erfolgen, nach der Verlobung mit der Steiermann, mit der reichsten Partie der Stadt, verkam Benno plötzlich, veränderte sich, wurde gemieden. Allgemein wurde angenommen, die Steiermann habe ihre Verlobung rückgängig gemacht. Viele Auslandsreisen, Gerüchte, daß er spiele. Er konnte vorerst seine Kontakte zu den guten, einträglichen Häusern noch mühsam aufrechterhalten, wurde dann kaum mehr eingeladen, endlich boykottiert. Noch lebte er auf großem Fuß, später verkaufte er, was er vom einstigen Glanz hatte retten können: Stiche, Möbel, einige Harasse alten Bordeaux. Verschiedene Gegenstände, die er verkauft hatte, gehörten ihm nicht, so Schmuckstücke, zwei Prozesse waren hängig. (Eine genaue Darstellung der Schulden des Olympia-Heinz übergehe ich, sie waren katastrophal, geradezu abenteuerlich, über zwanzig Millionen.) Merkwürdigerweise trafen Feuchtings Recherchen über Benno in vielem auch für den ermordeten Winter zu (außer den Schulden): Auslandsreisen zu PEN-Club-Kongressen, die gar nicht stattgefunden hatten, über die er aber wochenlang berichtete, Gerüchte über Spielcasinobesuche. Auch Winter trieb sich samt seinen ewigen Goethe-Zitaten in der >Himmelfahrtsbar< herum, hatte er den literarischen Stammtisch im zweiten Stock des >Du Théâtre< verlassen. Dort saß er bei den Verlegern, Redakteuren, Theaterkritikern und den literaturhagiographischen Koryphäen unserer Stadt, um sich mit ihnen die Herrschaft über unsere Kultur nicht entgleiten zu lassen. Der erlauchte Kreis duldete ihn zwar, aber belächelte ihn, nannte ihn, entschwand er zu den Niederdorf-Bajaderen,»Mahadöh«. Es sei unzweifelhaft, zog Lienhard die Schlußfolgerung, daß, klammere man Kohler als Mörder aus, nur Benno als möglicher Täter in Frage komme. Er habe Daphne für Monika Steiermann gehalten. Dann sei zwischen ihm und Winter etwas vorgefallen. Daß Daphne mit Benno gebrochen habe, sei die Folge dieses Vorfalls gewesen, auch der Ruin Bennos. Als Verlobter einer Steiermann hätte er jeden Kredit gehabt, ohne die Steiermann keinen. Ich wurde mißtrauisch. Lienhards Version fügte sich nicht in die Fakten ein. Daphne hatte mit Benno erst Schluß gemacht, nachdem sie von ihm verprügelt worden war, und Monika Steiermann gab Benno erst auf, als Daphne mit ihr Schluß gemacht hatte. Winter und Lüdewitz hatten gewußt, daß Daphne nicht Monika Steiermann war, aber sie waren nicht die einzigen. Daß jemand die Identität des andern annimmt und sich selber ins Nichts auflöst, ist keine einfache Angelegenheit, dazu waren noch andere Mitwisser nötig. Auch von der Behörde mußten es einige gewußt haben. Und dann hatte es Kohler gewußt. Die Steiermann hatte es mir selber erzählt. Vielleicht hatten es viele gewußt. Die Falle, in die ich nach Mock geraten war, konnte nur darin bestehen, daß ich, ob ich wollte oder nicht, den Glauben an Kohlers Unschuld schürte, auch wenn ich diesen Glauben nicht teilte. Ich machte ihn mit, weil ich Kohlers Auftrag angenommen hatte. Gab ich der Fiktion nach, er sei nicht der Mörder, mußte ich auf einen anderen stoßen, war es nicht Brutus, der Cäsar tötete, war es Cassius; war es nicht Cassius, war es Casca. Vielleicht. Vielleicht waren nicht der Zuchthausdirektor und die Wärter die Urheber des Gerüchts, Kohler sei unschuldig, ich war es selber. Woher wußte der Kommandant von meinem Auftrag? Der Wärter Möser war dabei, als er erteilt wurde, die Knulpes, Hélène, Förder, Kohlers Privatsekretär, sicher verschiedene Anwälte, dann Lienhard, wer von seinen Leuten? Ilse Freude wußte es, hielt sie dicht? Vielleicht war Kohlers Auftrag schon ein Stadtgespräch, zwar war ich überzeugt, er habe seinen Mord aus wissenschaftlicher Neugier begangen, aber durch den Auftrag führten meine Recherchen von Kohler weg, statt auf ihn zu. War das der Sinn seines Auftrags? War ich der Urheber eines undurchsichtigen Manövers, lieferte ich die Berichte über die Recherchen meinem Auftraggeber ab? Aber ich war in einer Zwangslage. Lienhard würde bald die Spesen vorlegen. Ich brauchte Geld, und die einzige Geldquelle war Kohler. Ich mußte weitermachen. Trotz meiner Skrupel. Oder gab es einen Ausweg? Ich kam auf den Einfall, meinen früheren Chef Stüssi-Leupin aufzusuchen und mich mit ihm zu besprechen. Noch zögerte ich. Dann entschloß ich mich, doch nicht zu ihm zu gehen, die Recherchen nicht abzuliefern, geschehe, was wolle. Doch dann zögerte ich nicht mehr. Dr. Benno besuchte mich in der Nacht vom 30. November auf den 1. Dezember 1956, von einem Freitag auf einen Samstag. Gegen Mitternacht. Ich weiß es noch genau. Weil sich in dieser Nacht sein Schicksal entschied und das meine. Ich studierte zum dritten Mal den Bericht, als er die Tür zum Büro aufriß, das einmal ihm gehört hatte und an dessen Schreibtisch ich saß. Er war ein großer, nun massiger Mann, mit langem strähnigem schwarzem Haar, das er zurückgekämmt hatte, so daß es seine Glatze bedeckte. Er hinkte auf meinen Schreibtisch zu. Er wirkte wie einer, der zu schwer für sein Knochengerüst geworden ist. Er stützte sich mit seinen im Gegensatz zum massigen Körper beinah kindlich wirkenden Händen auf die Schreibtischplatte, starrte mich an, halb beschienen von der Schreibtischlampe. Er war nicht mehr nüchtern, verzweifelt und in seiner Hilflosigkeit sympathisch. Ich lehnte mich zurück. Sein schwarzer Anzug glänzte speckig.

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