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Arbeit in der Zentralbibliothek: Warum nicht die Steiermannsche Familiengeschichte erzählen? Eben erreichte mich eine neue Postkarte Kohlers — die letzte kam vor vier Wochen, das Katz-und-Maus-Spiel geht weiter, er will Samoa später besuchen, er fährt von Hawaii nach Japan — mit einem Luxusdampfer, und hier war ich vor der Aufsichtskommission, vor dem Präsidenten Professor Eugen Leuppinger. Der berühmte Strafrechtler, Schmisse im Gesicht, poetisch, totale Glatze, empfing mich in seinem Büro; der Vizepräsident Stoss, sportlich, überhaupt frisch, fromm, fröhlich, frei, war auch zugegen. Die Herren waren menschlich. Der Hinauswurf werde zwar unumgänglich, der Regierungsrat würde sonst darum ersuchen, und da sei es klüger zuvorzukommen, aber man bedauerte, war betrübt, väterlich, begriff sozusagen auf der ganzen Linie, hatte Mitgefühl, machte durchaus keine Vorwürfe, aber dennoch, unter Männern gesprochen, Hand aufs Herz, ich müsse das selber zugeben, gerade für Juristen sei offiziell ein bestimmter Lebenswandel in einem bestimmten Milieu angezeigt, ja man dürfe formulieren, je bedenklicher dieses sei, desto untadliger müsse jener sein, die Welt sei nun einmal ein greuliches Philisternest, besonders unsere liebe Stadt, es sei zum Davonlaufen, und wenn er, Leuppinger, mal hier seine Bude schließen könne, dann auf nach dem Süden, doch nicht das sei das Wesentliche, natürlich seien zwar Prostituierte Menschen, sogar wertvolle Menschen, arme Menschen, denen er persönlich, er gebe es ruhig zu vor mir und vor Kollega Stoss, viel verdanke, Wärme, Mitgefühl, Verständnis, selbstverständlich sei das Gesetz auch für den Strich da, um das ominöse Wort mal zu gebrauchen, aber durchaus nicht im Sinne einer Förderung, ich müsse doch als Jurist selber einsehen, daß gewisse Ratschläge, die ich da der Unter- und Halbwelt gegeben hätte, gerade weil sie gesetzlich nicht anfechtbar seien, eine verheerende Wirkung zeitigten, die Kenntnis der gesetzlichen Handhaben sei in den Händen gewisser Kreise katastrophal, die Polizei sei geradezu verzweifelt, die Aufsichtskommission schreibe zwar nichts vor, übe keinen Gesinnungsterror, sei überhaupt liberal, na ja, ich wüßte schon, Statuten seien nun einmal Statuten, auch ungeschriebene, und dann fragte mich Leuppinger noch, wie Stoss mal raus mußte, ganz alter Bursche und Haudegen, ob ich ihm nicht eine bestimmte Rufnummer vermitteln könnte, um eine bestimmte Person mit einer tollen Figur (Giselle) näher kennenzulernen, und als er dann mal raus mußte, fragte Stoss, ganz ehemaliger Kranzturner, auch. Zwei Wochen später war ich mein Patent los. So sitze ich denn abgebrannt bald im Alkoholfreien, bald in der >Monaco-Bar<, lebe mehr oder weniger von Luckys und Giselles Gnaden und habe Zeit, enorm Zeit, das Schlimmste, was es für mich gibt, und deshalb: Warum nicht die Steiermannsche Familienchronik niederschreiben, darum sitze ich schließlich in der Zentralbibliothek — nur natürlich, man wurde sehr energisch, als ich mit der Flasche Gin anrückte —, warum nicht gründlich sein, peinlich genau, warum nicht den Hintergrund aufdecken, und überhaupt, was sind die Steiermanns ohne Hintergrund ihrer Familiengeschichte und — geschichten. Der Name trügt, der Ur-Steiermann wanderte zwar wie viele Industrielle einmal vom Norden her in unser Land ein, doch schon um das Jahr 1191, als ein süddeutscher Herzog auf den boshaften Einfall kam, unsere heutige Bundeshauptstadt zu gründen. Der Einfall hatte bekanntlich Erfolg, und die Steiermanns sind Urschweizer. Was nun den Gründer des Geschlechts betrifft, Jakobus Steiermann, so zählte er zu den Galgenvögeln aller Art und Stände, die sich im Raubkaff auf dem Felsen über dem grünen Fluß einnisteten (damals vier tüchtige Tagesmärsche von uns entfernt), ein aus dem Elsaß entwichener Krimineller, der auf diese Weise seinen Kopf vor dem Straßburger Henker in Sicherheit bringen konnte und sich in der neuen Vaterstadt zuerst als Landsknecht betätigte, später jedoch den Beruf eines Waffenschmieds ergriff, ein wilder, verrußter Geselle. Mit der blutigen Geschichte dieser Stadt bleiben denn auch die Steiermanns durch Jahrhunderte zäh verbunden, als Waffenschmiede verfertigten sie die einheimischen Hellebarden, mit denen man in Laupen und St. Jakob drosch, und zwar nach dem Standardmodell des Adrian Steiermann (1212–1255). Auch das verbriefte Privileg, für sämtliche süddeutschen Bistümer Richtbeile und Folterwerkzeuge herzustellen, besaß die Familie. Es ging steil aufwärts, die Schmiede in der Kesslergasse kam zu Klang und Namen. Schon der Sohn Adrians, der glatzköpfige Berthold Steiermann der Erste (der Berthold Schwarz der Sage?) machte sich daran, Feuerwaffen herzustellen. Noch berühmter Bertholds Urenkel, Jakobus der Dritte (1470–1517). Er baute so berühmte Geschütze wie die >Vier Evangelien<, den >Großen Psalter< und den >Gelben Urian<. Mit ihm wurde eine Kanonengießertradition weitergeführt, mit der zwar sein Sohn Berthold der Vierte jäh brach, als Wiedertäufer verfertigte er nur noch Pflüge, doch schon sein Sohn Jakobus der Vierte nahm die Kanonengießerei wieder auf, konstruierte die erste Granate, die ihn und die Kanone beim Abfeuern freilich zerfetzte. Das die eigentliche Urgeschichte. Plastisch, relativ ehrbar, auch politisch erfolgreich, ein Schultheiß, zwei Säckelmeister, ein Landvogt. In den späteren Jahrhunderten entwickelte sich aus der Waffenschmiede allmählich ein modernes Industrieunternehmen. Die Familiengeschichte wird verwickelter, die Motive beginnen sich zu verbergen, die Fäden werden unsichtbar gesponnen, zu den nationalen kommen internationale Gesichtspunkte und Verbindungen. Man verlor an Farbe, gewann jedoch an Organisation, besonders als in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ein später Nachkomme des Ur-Steiermanns in den Osten unseres Landes zog. Dieser Heinrich Steiermann (1799–1877) ist denn auch als der Gründer der eigentlichen Maschinen- und Waffenfabrik Trög zu betrachten, die unter seinem ersten Enkel James (1869–1909) und besonders unter seinem zweiten Enkel Gabriel (1871–1949) aufblühte. Nicht mehr als Maschinen- und Waffenfabrik Trög freilich, sondern als Hilfswerkstätte Trög AG, lernte doch 1891 der zweiundzwanzigjährige James Steiermann die damals einundsiebzigjährige englische Krankenpflegerin Florence Nightingale kennen, unter deren Einfluß er die Waffenfabrik in eine >Hilfswerkstätte< für Prothesen umwandelte, nach seinem frühen Tod baute sein Bruder Gabriel weiter aus, stellte jegliche nur denkbare Art von Prothesen her, Hand-, Arm-, Fuß-, Beinprothesen, heute versorgt die Hilfswerkstätte den Weltmarkt auch mit Endoprothesen (künstliche Hüften, Gelenke usw.) und mit extrakorporellen Prothesen (künstliche Nieren, Lungen). Den Weltmarkt: der Ausdruck ist nicht übertrieben. Erzielt durch hartnäckige Leistung, durch Qualität, doch vor allem durch entschlossenes Ausnützen der Lage durch den rücksichtslosen Ankauf aller ausländischen Prothesenhersteller (meist Kleinbetriebe). Diese neue Generation begriff die Möglichkeiten, welche die Neutralität unseres Staates einem Prothesenfabrikanten bietet, als die Freiheit nämlich, gleich alle Parteien zu beliefern, Sieger und Besiegte im Ersten und Zweiten Weltkrieg, Regierungstruppen, Partisanen und Rebellen heute. Ihre Devise:»Steiermann für die Opfer«, wenn sich auch unter Lüdewitz die Produktion der Hilfswerkstätte heute wieder dem ursprünglichen Charakter nähert, der Begriff Prothese ist dehnbar. Der Mensch sucht sich gegen einen Schlag unwillkürlich mit der Hand zu schützen, ein Schild ist damit eine Prothese der Hand, auch ein Stein, den er wirft, eine Prothese der geballten Hand, der Faust; diese Dialektik einmal begriffen, fällt auch die Waffenproduktion, welche die Hilfswerkstätte wiederaufgenommen hat, durchaus unter den Begriff Prothese: Panzer, Maschinenpistolen und Geschütze können als eine Weiterentwicklung der Handprothese gelten. Man sieht, ein erfolgreiches Geschlecht. Stellten die Steiermänner allesamt einfache, rüde, unkomplizierte Gesellen dar, treue Ehemänner, die schwer schufteten, öfters zu Geiz neigten, mit einer manchmal erfrischenden, souveränen Verachtung des Geistes, die es im Bildersammeln nur bis zu einer schwächeren Fassung der Toteninsel brachten und im Sport ausschließlich den Fußball förderten (auch dies mäßig, was den schwierigen Stand des FC Trög in der ersten Liga beweist), so waren die Frauen von einem anderen Kaliber. Entweder große Huren oder große Betschwestern, doch nie beides miteinander, wobei die Huren stets häßlich waren, starke Jochbögen, lange Nasen und breite zusammengekniffene Münder aufwiesen, die Betschwestern dagegen exquisite Schönheiten darstellten. Was nun Monika Steiermann betrifft, die in der Affäre des Dr.h.c. Isaak Kohler unvermutet eine Haupt-, ja eine Doppelrolle spielen sollte, so zählte sie dem Aussehen nach zu den Betschwestern, nach ihrem Lebenswandel beurteilt zu den großen Huren: Nach dem Tod ihrer Eltern (Gabriel Steiermann heiratete 1920 Stefanie Lüdewitz), die auf dem Fluge nach London abstürzten (genauer: verlorengingen, denn weder Eltern noch Privatflugzeug wurden je wiedergefunden), und nach dem tragischen Ende ihres Bruders Fritz, der an der Côte d'Azur unter- und nicht mehr auftauchte, erbte sie, 1930 geboren, das stattlichste Vermögen unseres Landes, während der Prothesenkonzern von ihrem Onkel mütterlicherseits geleitet wurde. Monikas Lebenswandel freilich war weitaus schwieriger zu leiten. Die wildesten und oft lächerlichsten Gerüchte gingen über dieses Mädchen um, verdichteten sich zu Beinahe-Gewißheiten, lösten sich wieder auf, wurden dementiert — stets von Onkel Lüdewitz — und gerade deshalb aufs neue geglaubt, bis ein neuer, noch großartigerer Skandal alles Vorhergewesene übertraf, worauf das Spiel von neuem begann. Man blickte auf die sittenlose Erbin von Abermillionen zwar mißbilligend, doch mit geheimem Stolz, neidisch — die kann sich alles leisten —, doch dankbar, man kam schließlich auf seine Kosten. Die Steiermann wurde die offizielle» Femme fatale mit Weltniveau «einer Stadt, deren Ruf auf der einen Seite durch krampfhafte Bemühungen von Behörde, Kirche und gemeinnützigen Vereinen verzweifelt hochgehalten wurde, auf der anderen Seite durch ihre Strichjungen wieder in Frage gestellt wurde: Durch diese und durch ihre Banken, nicht durch ihre Dirnen, wurde unsere Stadt ein internationaler Begriff. Man atmete beinahe auf. Der Doppelruf, zugleich prüde und schwul zu sein, wurde durch die Steiermann etwas gegen das alltägliche Laster hin korrigiert. Das Mädchen wurde immer populärer, besonders seit unser Stadtpräsident sie in seine berüchtigten Stegreifreden und Hexameter einzuflechten begann, die er des öfteren anläßlich offizieller Feiern zu vorgerückter Stunde zum besten gibt, sei es etwa bei der Verleihung eines Literaturpreises oder beim Jubiläum irgendeiner Privatbank. Daß ich jedoch fürchtete, Monika Steiermann zum zweiten Mal zu begegnen, hatte einen bestimmten Grund. Ich hatte sie bei Mock kennengelernt. Noch zu meiner Stüssi-Leupin-Zeit. Sein Atelier in der Nähe des Schaffhauserplatzes war im Winter überheizt, der Eisenofen glutrot, die Luft vom Pfeifen-, Zigarren- und Zigarettenrauch reines Giftgas, dazu alles unvorstellbar schmutzig, um ewig unvollendete Torsen ewig nasse Tücher, dazwischen haufenweise Bücher, Zeitungen, ungeöffnete Briefe, Wein, Whisky, Skizzen, Fotos, Bündnerfleisch. Ich war gekommen, um die Statue zu sehen, die Mock von der Steiermann gemacht hatte, neugierig, weil er mir erzählt hatte, er würde die Statue bemalen. Die Plastik stand mitten in der gewaltigen Unordnung des Ateliers, erschreckend naturalistisch, aber wahrhaftig und lebensgroß. In Gips, fleischfarben angemalt, wie Mock erklärte. Splitternackt und in eindeutig zweideutiger Pose. Ich betrachtete die Statue lange, verwundert — daß Mock das auch konnte. Er war sonst ein Meister im Andeuten: Mit wenigen Schlägen hieb er aus seinen oft zentnerschweren Steinen heraus, was er wollte, arbeitete er im Freien. Ein Auge entstand, ein Mund, eine Brust vielleicht, eine Vagina, den Rest brauchte er nicht zu behauen, aus Andeutungen schuf die Phantasie des Betrachters bald den Kopf eines Zyklopen, bald ein Getier, bald ein Weib. Auch wenn er modellierte, begnügte er sich mit dem Notwendigsten. Man muß modellieren, wie man skizziert, pflegte er zu sagen. Um so staunenswerter, wie er jetzt vorgegangen war. Der Gips schien zu atmen, vor allem weil er meisterhaft bemalt war. Ich trat zurück und dann wieder nahe heran, für die Haupt- und Schamhaare mußte er Menschenhaar genommen haben, um die Täuschung vollkommener zu machen: die Statue wirkte jedoch nicht puppenhaft. Sie strahlte eine bewundernswerte Plastik aus. Plötzlich bewegte sie sich. Sie stieg vom Sockel, würdigte mich keines Blickes, ging in den Hintergrund des Ateliers, suchte, fand eine halbvolle Flasche Whisky und trank. Sie war nicht aus Gips. Mock hatte gelogen. Es war die echte Monika Steiermann.

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