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«Das war doch Petit-Paysan«, keuchte Archilochos.

«Und?»

«Nummer drei in meiner Weltordnung!»

«Nun?»

«Er grüßte mich!»

«Hoffentlich.»

«Ich bin doch nur ein Unterbuchhalter und arbeite mit fünfzig anderen Unterbuchhaltern in der nebensächlichsten Unterabteilung der Geburtszangenabteilung«, rief Archilochos aus.

«Dann wird er eben ein sozialer Mensch sein«, stellte Chloé fest,»würdig, in deinem sittlichen Weltgebäude den dritten Platz einzunehmen«, über das Erstaunliche dieser Begegnung offenbar noch nicht im Bilde.

Doch die Wunder dieses Sonntags, der mitten im Winter immer strahlender, immer wärmer wurde, mit einem immer blaueren, immer unwirklicheren Himmel, hörten nicht auf: die ganze Riesenstadt schien auf einmal Archilochos zu grüßen, der mit seiner Griechin über die Brücken mit den schmiedeeisernen Geländern und durch die alten Parkanlagen vor den halbzerfallenen Schlössern schritt. Arnolph wurde stolzer, bewußter, sein Gang freier, seine Miene leuchtender. Er war mehr als ein Unterbuchhalter. Er war ein glücklicher Mensch. Elegante junge Männer grüßten ihn, winkten aus Cafes, von Autobussen und Vespas herunter, soignierte Herren mit ergrauten Schläfen, sogar ein belgischer General, mit vielen Orden, vom Nato-Hauptquartier offenbar, der aus einem Jeep stieg. Vor der amerikanischen Botschaft rief ihm der Botschafter Bob Forster-Monroe, begleitet von zwei schottischen Schäferhunden, ein deutliches Hallo zu; während Nummer zwei (Bischof Moser, noch wohlgenährter als auf dem Bilde bei Madame Bieler) ihnen zwischen dem Landesmuseum und dem Krematorium auf dem Weg zum alkoholfreien Restaurant gegenüber dem Weltgesundheitsamt begegnete. Auch Bischof Moser grüßte — das war irgendwie nun schon in der Ordnung —, der Archilochos doch nur von einer Osterpredigt her kannte, bei weitem nicht persönlich, nur als Zuhörer inmitten einer Schar psalmensingender Weiblein, der Bischof, von dessen Leben Archilochos jedoch wohl hundertmal in der Broschüre gelesen hatte, die über diesen vorbildlichen Gegenstand in der Gemeinde verbreitet wurde. Doch schien der Bischof noch verwirrter als das gegrüßte Glied der altneupresbyteranischen Kirche, der er vorstand, denn er verschwand auffallend hastig und überstürzt in einer sinnlosen Nebengasse.

Dann aßen sie zusammen im alkoholfreien Restaurant. Sie saßen an einem Fensterplatz und sahen über den Strom zum Weltgesundheitsamt hinüber mit dem Denkmal eines berühmten Weltgesundheitsämtlers davor, auf dem Möven lagerten, von dem aus sie aufstiegen, um das sie kreisten, und auf dem sie sich wieder lagerten. Beide waren müde vom langen Spazieren und hielten sich die Hände, auch als die Suppe schon vor ihnen stand. Das Restaurant war in der Hauptsache mit Altneupresbyteranern besetzt (nur wenige Altpresbyteraner darunter), mit alten Jungfern meistens und verschrobenen Junggesellen, die der Alkoholbekämpfung zuliebe hieher an den Sonntagen essen kamen, wenn auch der Wirt, ein verstockter Katholik, sich hartnäckig weigerte, Bischof Mosers Bild aufzuhängen; im Gegenteil, neben dem Staatspräsidenten hing der Erzbischof.

Später saßen sie, zwei Griechen unter zwei Griechen, immer enger aneinandergerückt unter einem vermoderten Standbild im alten Stadtpark, das nach den Reiseführern und Stadtplänen Daphnis und Chloé darstellen sollte. Sie sahen zu, wie die Sonne hinter den Bäumen versank, ein roter Kinderballon. Auch hier wurde Archilochos gegrüßt. Sonst nur von Radsportfreunden und Unterbuchhaltern beachtet, schien der unscheinbare Mann (bleich, bebrillt, etwas dicklich) auf einmal die Stadt zu interessieren, Mittelpunkt der Gesellschaft zu sein. Das Märchen nahm seinen Fortgang. Nummer vier zog vorbei (Passap), von einer Schar teils bestürzter, teils begeisterter Kunstkritiker begleitet, hatte der Meister doch seine rechtwinklige Epoche mit den Kreisen und den Hyperbeln eben verlassen und malte von jetzt ab nur noch Winkel von 60° mit Ellipsen und Parabeln, und an Stelle von Rot und Grün Kobaltblau und Ocker. Der Meister der modernen Malerei blieb verwundert stehen, knurrte, musterte Archilochos eingehend, nickte und wandelte davon, weiterdozierend. Dagegen grüßten die ehemaligen Nummern sechs und sieben (jetzt neun und zehn), Maétre Dutour und der Rector magnificus, mit einem Zwinkern, nur ganz unmerklich, waren sie doch an der Seite gewaltiger Gattinnen.

Archilochos erzählte von seinem Leben.»Ich verdiene nicht viel«, sagte er,»die Arbeit ist eintönig, Berichte über die Geburtszangen, und muß exakt ausgeführt werden. Der Chef, ein Vizebuchhalter, ist streng, auch habe ich Bruder Bibi mit seinen Kinderchen zu unterstützen, liebenswerte Menschen, vielleicht etwas wild und natürlich, doch ehrlich. Wir werden sparen und in zwanzig Jahren miteinander Griechenland besuchen. Den Peloponnes, die Inseln. Davon träume ich schon lange, und jetzt, da ich weiß, daß ich mit dir reisen werde, ist der Traum noch schöner.»

Sie freute sich.»Das wird eine schöne Reise werden«, sagte sie.

«Mit einem Dampfer.»

«Mit der >Julia<.»

Er sah sie fragend an.

«Ein Luxusschiff, Missis und Mister Weeman fahren mit ihm.»

«Natürlich«, erinnerte er sich,»das stand auch im >Match<. Doch die >Julia< wird für uns zu teuer sein und in zwanzig Jahren schon verschrottet. Wir fahren mit einem Kohlenschiff. Das kommt billiger.»

Oft denke er an Griechenland, fuhr er darauf fort und schaute dem Nebel zu, der sich anschickte, wiederzukommen und wie leichter, weißer Rauch über den Boden strich. Er sehe dann die alten Tempel deutlich, halbgeborsten, und.die rötlichen Felsen, leuchtend durch die Olivenhaine. Oft komme es ihm vor, als sei er in dieser Stadt im Exil, wie die Juden in Babylon, und der Sinn seines Lebens bestehe darin, einmal zurückzukehren in die alte, längst verlassene Heimat.

Nun lag der Nebel als weiße Riesenwattebüschel lauernd hinter den Bäumen an den Ufern des Stroms, langsam dahinziehende Lastschiffe umarmend, die brünstig aufheulten, stieg dann auf, flammte violett und begann, sobald die rote, große Sonne gesunken war, sich auszubreiten. Archilochos begleitete Chloé zum Boulevard, in welchem das Ehepaar Weeman wohnte, eine reiche, vornehme Gegend, wie er merkte. Sie gingen an Gittern vorbei, an großen Gärten mit alten Bäumen, hinter denen man die Villen kaum ahnte. Pappeln, Ulmen, Buchen, schwarze Tannen ragten in den silbernen Abendhimmel, verschwanden in den dichter werdenden Nebelwolken. Vor einer eisernen Gittertüre mit Putten und Delphinen, seltsamen Blättern und Spiralen, mit zwei riesigen steinernen Sockeln blieb Chloé stehen, von einer roten Lampe über dem Portal beschienen.

«Morgen abend?»

«Chloé!»

«Wirst du klingeln?«fragte sie und wies auf eine altertümliche Vorrichtung.»Um acht?»

Dann küßte sie den Unterbuchhalter, legte beide Arme um seinen Hals, küßte ihn noch einmal, dann ein drittes Mal.

«Wir fahren nach Griechenland«, flüsterte sie,»in unsere alte Heimat. Schon bald. Und mit der >Julia<.»

Sie öffnete die Gittertüre und verschwand unter den Bäumen und im Nebel, noch einmal zurückwinkend, irgend ein Wort zurufend, zärtlich, wie ein geheimnisvoller Vogel, irgendeinem Gebäude zugehend, das unsichtbar im Park vorhanden sein mußte.

Archilochos dagegen marschierte in sein Arbeiterquartier zurück. Er hatte lange zu gehen: er trottete all den Wegen entlang, die er mit Chloé gegangen war. Er überdachte die Phasen dieses Märchensonntags, blieb vor der verlassenen Bank unter Daphnis und Chloé stehen, dann vor dem alkoholfreien Restaurant, das eben die letzten altneupresbyteranischen Jungfern verließen, von denen ihn eine grüßte, auch wohl an der nächsten Straßenecke auf ihn wartete. Dann ging er dem Krematorium, dem Landesmuseum, dem Quai entlang. Der Nebel war dicht, doch nicht schmutzig wie an den Tagen vorher, sondern zärtlich, milchig, ein Wundernebel wie ihm schien, mit langen goldenen Strahlenbündeln, mit feinen nadligen Sternen. Er erreichte das >Ritz<, und als er am pompösen Eingangsportal vorüberging, mit dem zwei Meter langen Portier im grünen Mantel, den roten Hosen und mit dem großen silbernen Stab, verließen eben Gilbert und Elizabeth Weeman das Hotel, die weltberühmten Archäologen, die er durch die Abbildungen in den Zeitungen kannte. Es waren zwei englische Menschen, auch sie mehr ein Mann denn eine Frau, mit dem gleichen Haarschnitt wie er, beide mit goldenen Zwickern versehen, Gilbert mit einem roten Schnurrbart und einer kurzen Pfeife (die einzigen Merkmale eigentlich, die ihn deutlich von seiner Frau unterschieden).

Archilochos faßte Mut.»Madame, Monsieur«, sagte er:»Respekt.»

«Well«, sagte der Forscher und staunte den Unterbuchhalter an, der in seinem zerschlissenen Konfirmandenanzug und mit seinen ausgetretenen Schuhen vor ihm stand, und den Mrs. Elizabeth verwundert durch ihren Zwicker betrachtete;»well«, und dann sagte er noch» yes».

«Ich habe Sie zu Nummer sechs und sieben meiner sittlichen Weltordnung ernannt.»

«Yes.»

«Sie haben eine Griechin aufgenommen«, fuhr Archilochos fort.

«Well«, sagte Mr. Weeman.

«Auch ich bin ein Grieche.»

«Oh«, sagte Mr. Weeman und zog sein Portemonnaie.

Archilochos wehrte ab.»Nein mein Herr, nein meine Dame«, sagte er.»Ich weiß, vertrauenerweckend sehe ich nicht aus, auch vielleicht nicht gerade griechisch, aber mein Auskommen in der Petit-Paysan-Maschinenfabrik wird ausreichen, mit ihr einen bescheidenen Haushalt zu gründen. Ja, sogar an Kinderchen werden wir denken dürfen, wenn auch nur an drei oder vier, besitzt doch die Petit-Paysan-Maschinenfabrik ein sozial fortgeschrittenes Erholungsheim für werdende Mütter ihrer Arbeiter und Angestellten.»

«Well«, sagte Mr. Weeman und steckte das Portemonnaie ein.

«Leben Sie wohl«, sagte Archilochos.»Gott segne Sie, und in der altneupresbyteranischen Kirche will ich für Sie beten.»

Doch vor der Haustüre traf er Bibi mit der hohlen Bruderhand.

«Theophil mauste in der Nationalbank«, sagte der in seinem Rotwelsch.»Die Polente kam dahinter.»

«Nun?»

«Er muß in den Süden, bis sich die Lage beruhigt hat. Habe fünf Lappen nötig. Ich gebe sie auf Weihnachten retour.»

Archilochos gab ihm Geld.

«Was denn Bruder«, reklamierte der enttäuschte Bibi,»nichts als einen Heuer?»

«Mehr ist nicht möglich, Bibi«, entschuldigte sich Archilochos verlegen und zu seinem Erstaunen ein wenig ärgerlich:»Wirklich nicht. Ich habe mit einem Mädchen im alkoholfreien Restaurant gegenüber dem Weltgesundheitsamt gegessen. Das Menü und eine Flasche Traubensaft. Ich will eine Familie gründen.»

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