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«Ich habe eine Kurtisane geheiratet«, schrie er auf, verzweifelt, wie ein tödlich verwundetes Tier, riß sich von seiner Frau los, die ihm angsterfüllt in ihrem wehenden Schleier bis zum Portal nachlief, und rannte aus der Heloisen-Kapelle, wo ihn die Menschenmasse mit Lachen und Johlen empfing, die, als sie den Bräutigam allein erscheinen sah, mit einem Schlag begriffen hatte, was geschehen war. Archilochos zögerte einen Augenblick zwischen den dürftigen Zypressen, erschrocken, da ihm die Unzahl der Zuschauer erst jetzt bewußt wurde. Dann rannte er an der Karosse des Staatspräsidenten und der wartenden Reihe der Rolls-Royce und Buicks vorbei und im Zickzack durch die Emil-Kappeler-Straße, da ihm bald dieser, bald jener in den Weg trat, wie gehetzt, wie ein von Hunden gejagtes Wild.

«Es lebe der Hahnrei der Stadt!»

«Nieder mit ihm!»

«Reißt ihm die Kleider vom Leib!»

Pfiffe gellten an sein Ohr, Schmährufe, Steine wurden nach ihm geworfen, Straßenjungen rannten ihm nach, stellten ihm ein Bein, mehrere Male schlug er hin, bis er sich blutverschmiert im Hausgang einer Mietskaserne unter einer Treppe verstecken konnte, ins Dunkel gekauert, die polternden Schritte der Meute über seinem Haupt, welches er in den Armen vergraben hatte, bis sich die Verfolger mit der Zeit verliefen, da sie ihn nicht mehr zu finden vermochten.

Stundenlang kauerte er nun unter der Treppe, frierend, leise schluchzend, während es im ungeheizten Korridor des Mietshauses immer dunkler und dunkler wurde. Mit allen habe sie geschlafen, mit allen, mit dem Staatspräsidenten, mit Passap und Maître Dutour, mit allen, wimmerte er. Das ganze Riesengewicht seines moralischen Weltgebäudes war zusammengebrochen und hatte ihn zermalmt. Dann raffte er sich auf. Er torkelte durch den fremden Korridor, fiel über ein Fahrrad und betrat die Straße. Es war schon Nacht. Er schlich zum Strom hinunter, durch schlecht erleuchtete, schmutzige Gassen, geriet unter den Brücken in Horden von krächzenden Bettlern, die in Zeitungspapier gewickelt dalagen, ein Hund schnappte nach ihm, schattenhaft im Dunkel, Ratten huschten pfeifend vorbei, und gurgelndes Wasser netzte seine Füße. Irgendwo heulte ein Schiff.

«Schon der dritte diese Woche«, krächzte die Stimme eines Bettlers.»Los, spring rein!»

«Unsinn«, keuchte ein anderer.»Ist viel zu kalt.»

Gelächter.

«Häng dich, häng dich«, bellten die Bettler im Takt:»Das ist am angenehmsten, das ist am angenehmsten.»

Er entfernte sich vom Strom, irrte durch die Altstadt, planlos. Irgendwo klimperte die Heilsarmee, er geriet in die Rue Funèbre, wo Passap wohnte, begann zu rennen, irrte stundenlang durch Quartiere, die er noch nie betreten hatte, durch Villenviertel, durch Arbeitersiedlungen, erfüllt von Radiolärm, an üblen Kneipen vorbei, aus denen die Spottlieder der Fahrcks-Anhänger dröhnten, durch Fabrikbezirke mit gespenstischen Hochöfen, und erreichte gegen Mitternacht seine alte Mansarde. Er machte nicht Licht, er stand gegen die Tür gelehnt, die er hinter sich geschlossen hatte, zitternd, verschmutzt, der Frack von O'Neill-Papperer zerrissen, den Zylinder von Goschenbauer hatte er längst verloren. Die Wasserspülungen rauschten immer noch, und vom Schein der kleinen Fenster an der gegenüberliegenden Fassade, der durch die verstaubten Scheiben fiel, wurden bald der Vorhang (mit dem alten Sonntagsanzug dahinter), bald das Eisenbett, bald der Stuhl und der wacklige Tisch mit der Bibel, bald die Bilder seiner einstigen Weltordnung an der unbestimmten Tapete erhellt. Er öffnete das Fenster, Gestank schlug ihm entgegen und ein verstärktes Brausen. Er riß ein Bild nach dem ändern von der Wand, schmetterte den Präsidenten, den Bischof, den amerikanischen Botschafter, sogar die Bibel in die dunkle Tiefe des schachtähnlichen Hofes. Nur Bruder Bibi mit seinen Kinderchen ließ er hängen. Dann schlich er sich in den Estrich, wo undeutlich in langen Reihen Wäsche hing, knüpfte ein Seil los, ließ die Leintücher irgendeiner Familie achtlos liegen und tappte sich in die Mansarde zurück. Er stellte den Tisch unter die Lampe, kletterte auf ihn, befestigte das Seil am Haken, an dem die Lampe hing. Es hielt. Dann knüpfte er die Schlinge. Das Fenster klappte auf und zu, ein eisiger Luftzug strich über seine Stirne. Schon stand er da, den Kopf in der Schlinge, und schon wollte er sich vom Tische werfen, als sich die Mansardentüre öffnete und Licht gemacht wurde.

Es war Fahrcks, noch im Frack wie bei der Hochzeit, einen pelzgefütterten Mantel übergeworfen, das massige Gesicht unbeweglich, riesenhaft über dem Kreml-Orden, das struppige Haar eine böse Flamme. Zwei Männer begleiteten ihn. Der eine war Petit-Paysans Sekretär, der nun die Türe verriegelte, während der andere, ein hünenhafter Kerl in der Kleidung eines Taxichauffeurs, das Fenster schloß, Kaugummi kauend, und den Stuhl vor die Türe stellte. Archilochos stand auf dem schwankenden Tisch, den Kopf in der Schlinge und von der Lampe gespenstisch beleuchtet. Fahrcks nahm auf dem Stuhl Platz, verschränkte die Arme. Der Sekretär setzte sich auf das Bett. Die drei schwiegen, das Brausen der Wasserspülungen war nun gedämpfter vernehmbar, und der Anarchist betrachtete den Griechen aufmerksam.

«Nun, Herr Archilochos«, begann er endlich,»meinen Besuch sollten Sie eigentlich erwartet haben.»

«Auch Sie haben mit Chloé geschlafen«, zischte Archilochos vom Tisch herunter.

«Natürlich«, antwortete Fahrcks,»das ist schließlich der Beruf der schönen Dame.»

«Gehen Sie!»

Der Revolutionär regte sich nicht.»Von jedem ihrer Liebhaber haben Sie ein Hochzeitspräsent bekommen«, sagte er.»Nun ist es an mir: Luginbühl, übergib ihm mein Geschenk.»

Der Riese in der Chauffeuruniform trat kauend an den Tisch und legte einen runden, eiähnlichen eisernen Gegenstand zwischen Arnolphs Füße.

«Was ist das für ein Ding?»

«Die Gerechtigkeit.»

«Eine Handgranate?»

Fahrcks lachte:»Eben.»

Archilochos nahm den Kopf aus der Schlinge, kletterte vorsichtig vom wackligen Tisch herunter und nahm die Bombe zögernd in die Hände. Sie war kalt und schimmerte im Licht.

«Was soll ich damit?»

Der Alte antwortete nicht sofort. Unbeweglich, lauernd saß er auf dem Stuhl, die mächtigen Hände über die Knie gespreizt.

«Sie wollten sich das Leben nehmen«, sagte er.»Wieso?»

Archilochos schwieg.

«Es gibt zwei Möglichkeiten dieser Welt gegenüber«, sagte Fahrcks langsam und trocken:»Man geht an ihr zu Grunde oder ändert sie.»

«Schweigen Sie«, schrie Archilochos.

«Bitte. Hängen Sie sich eben auf.»

«Reden Sie.»

Fahrcks lachte.»Gib mir eine Zigarette, Schubert«, wandte er sich zu Petit-Paysans Sekretär. Luginbühl gab ihm aus einem klobigen Apparat Feuer, und so saß er da, rauchte gemächlich, große bläuliche Wolken paffend.

«Was soll ich tun?«schrie Archilochos.

«Annehmen, was ich Ihnen biete.»

«Wozu?»

«Die Gesellschaftsordnung muß gestürzt werden, die Sie zu einem Narren machte.»

«Das ist unmöglich.»

«Nichts ist einfacher«, antwortete Fahrcks.»Sie sollen den Staatspräsidenten ermorden. Das weitere besorge ich selber«, und er tippte auf den Kreml-Orden.

Archilochos taumelte.

«Lassen Sie die Bombe nicht fallen«, mahnte ihn der alte Brandstifter,»sie explodiert sonst.»

«Ich soll ein Mörder werden?»

«Nun, was ist dabei? Schubert, zeig ihm den Plan.»

Der Sekretär Petit-Paysans trat zum Tisch und entfaltete ein Papier.

«Sie sind mit Petit-Paysan im Bunde«, rief Archilochos entsetzt.

«Unsinn!«sagte Fahrcks:»Den Sekretär habe ich bestochen. Solche Kerls kriegt man für Kleingeld.»

Dies sei der Plan des Staatspräsidentenpalais, begann der Sekretär zu erläutern, sachlich, mit dem Finger über den Plan fahrend. Hier die Mauer, die das Palais an drei Seiten umgebe. Die Vorderfront werde durch ein vier Meter hohes Eisengitter abgeschlossen. Die Mauer sei zweimeterfünfunddreißig hoch. Links vom Palais das Wirtschaftsministerium, rechts das Palais des Nuntius. Im Winkel, den der Hof des Wirtschaftsministeriums mit der Mauer bilde, stehe eine Leiter.

Ob diese Leiter immer da sei, wollte Archilochos wissen.

«Sie befindet sich in der heutigen Nacht da, das mag Ihnen genügen«, antwortete der Sekretär.»Wir führen Sie mit dem Wagen bis zum Quai. Sie erklettern die Mauer, ziehen die Leiter nach und steigen an ihr hinunter. Jenseits befinden Sie sich im Schatten einer Tanne. Treten Sie hinter den Stamm und warten Sie, bis die Wache vorbeigekommen ist. Dann gehen Sie nach der Hinterfront des Palais. Sie finden eine kleine Türe, zu der einige Stufen führen. Die Türe ist verschlossen, hier haben Sie den Schlüssel.»

«Und dann?»

«Das Schlafzimmer des Präsidenten befindet sich im ersten Stock, den Sie von der kleinen Türe über die Haupttreppe erreichen, und liegt hinten. Werfen Sie die Handgranate auf sein Bett.»

Der Sekretär schwieg.

«Und wenn ich die Bombe geworfen habe?»

«Gehen Sie den gleichen Weg zurück«, sagte der Sekretär.»Die Wache wird durch das Hauptportal ins Palais dringen, und Sie haben Zeit, sich über den Hof des Wirtschaftsministeriums zu entfernen, vor dem Sie unser Wagen erwartet.»

Es war still in der Mansarde und kalt. Sogar das Brausen der Wasserspülungen hatte aufgehört. An der schmutzigen Tapete hing einsam Bruder Bibi mit seinen Kinderchen.

«Nun?«unterbrach Fahrcks das Schweigen.»Was sagen Sie zu diesen Ausführungen?»

«Nein«, schrie Archilochos, bleich, geschüttelt von Entsetzen,»nein!»

Der Alte ließ die Zigarette auf den Boden fallen, der primitiv war (sprießiges Holz mit großen Astlöchern), wo sie weiterqualmte.

«So schreien sie alle zuerst«, sagte er.»Als ob die Welt ohne Mord zu ändern wäre.»

Nebenan, durch Arnolphs Schreien erwacht, polterte ein Dienstmädchen an die Wand der Mansarde. Archilochos sah sich im Geiste, Chloé am Arm, durch die winterliche Stadt gehen. Nebel über dem Strom, mit großen schattenhaften Schiffen und Lichtern. Er sah die Leute grüßen von den Tramwagen herab, aus Autos heraus, junge, schöne, elegante Männer, dann sah er die Hochzeitsgäste, goldübergossen, diamantenübersät, schwarze Fräcke und Abendkleider, rote Orden, weiße Gesichter im goldenen Sonnenlicht, mit den tanzenden Staubpartikeln, und überall ein wohlwollendes Lächeln, das doch so gemein war; er spürte noch einmal den jähen, grausamen Augenblick seines Erkennens, seiner Scham, sah sich aus der Heloisen-Kapelle stürzen, zwischen den Zypressen hervor, sah sich zögern und endlich seinen Zickzacklauf durch die Emil-Kappeier-Straße aufnehmen, mitten durch die brüllende, lachende, jauchzende Menge, er sah die Schatten seiner Verfolger vor sich auf dem Asphalt der Straße ins Riesengroße wachsen, spürte noch einmal sein Hinfallen, sein Aufschlagen auf dem harten Boden, der sich mit Blut rötete, die Steine, die Fäuste, die ihn trafen, wie Hämmer, und sein zitterndes Ducken unter die Treppe des fremden Hausgangs, mit den polternden Schritten über ihm.»Ich will es tun«, sagte er.

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