Indessen ist auch der Friede etwas Lebendiges, auch er wie alles Lebende muß wachsen und abnehmen, muß sich anpassen, muß Proben bestehen und Wandlungen durchmachen; so stand es auch um den Frieden des Josephus Famulus, er war labil, er war bald sichtbar, bald nicht, er war bald nah wie eine Kerze, die man in der Hand trägt, bald fern wie ein Stern am Winterhimmel. Und mit der Zeit war es eine besondere, neue Art von Sünde und Versuchung, welche ihm immer häufiger das Leben schwer machte. Es war nicht eine starke, leidenschaftliche Bewegung, Empörung oder Erhebung der Triebe, es schien eher das Gegenteil zu sein. Es war ein Gefühl, das in seinen ersten Stadien ganz leicht zu ertragen, ja kaum wahrzunehmen war, ein Zustand ohne eigentliche Schmerzen und Entbehrungen, ein flauer, lauer, langweiliger Seelenzustand, der sich eigentlich nur negativ bezeichnen ließ, als ein Hinwegschwinden, Abnehmen und schließliches Fehlen der Freude. So wie es Tage gibt, an welchen weder die Sonne strahlt noch der Regen strömt, sondern der Himmel still in sich selber versinkt und sich einspinnt, grau, doch nicht schwarz, schwül, doch nicht bis zur Gewitterspannung, so wurden allmählich die Tage des alternden Josef; es waren die Morgen von den Abenden, die Festtage von den gewöhnlichen, die Stunden des Aufschwungs von denen des Darniederliegens immer weniger zu unterscheiden, es lief alles trag in einer lahmen Müdigkeit und Unlust dahin. Es sei das Alter, dachte er traurig. Traurig war er, weil er vom Altwerden und vom allmählichen Erlöschen der Triebe und Leidenschaften sich eine Aufhellung und Erleichterung seines Lebens, einen Schritt weiter zur ersehnten Harmonie und reifen Seelenruhe versprochen hatte, und weil nun das Alter ihn zu enttäuschen und betrügen schien, indem es nichts brachte als diese müde, graue, freudlose öde, dies Gefühl unheilbarer Übersättigung. Übersättigt fühlte er sich von allem: vom bloßen Dasein, vom Atmen, vom Schlaf der Nacht, vom Leben in seiner Grotte am Rande der kleinen Oase, vom ewigen Abendwerden und Morgenwerden, vom Vorbeiziehen der Reisenden und Pilger, der Kamelreiter und Eselreiter und am meisten von jenen Leuten, deren Kommen und Besuch ihm selber galt, von jenen törichten, angstvollen und zugleich so kindisch gläubigen Menschen, deren Bedürfnis es war, ihm ihr Leben, ihre Sünden und Ängste, ihre Anfechtungen und Selbstanklagen zu erzählen. Es schien ihm zuweilen: wie in der Oase die kleine Wasserquelle sich im Steinbecken sammelte, durch Gras floß und einen kleinen Bach bildete, dann in die öde des Sandes hinausfloß und dort nach kurzem Lauf versiegte und erstarb, ebenso kämen alle diese Beichten, dieseSündenregister, diese Lebensläufe, diese Gewissensplagen, große wie kleine, ernste wie eitle, ebenso kämen sie in sein Ohr geflossen, Dutzende, Hunderte, immerdar neue. Aber das Ohr war nicht tot wie der Wüstensand, das Ohr war lebendig und vermochte nicht ewig zu trinken und zu schlucken und einzusaugen, es fühlte sich ermüdet, mißbraucht, überfüllt, es sehnte sich danach, daß das Fließen und Geplätscher der Worte, der Geständnisse, der Sorgen, der Anklagen, der Selbstbezichtigungen einmal aufhöre, daß einmal Ruhe, Tod und Stille an die Stelle dieses endlosen Fließens trete. Ja, er wünschte ein Ende, er war müde, er hatte genug und übergenug, schal und wertlos war sein Leben geworden, und es kam so weit mit ihm, daß er zuweilen sich versucht fühlte, seinem Dasein ein Ende zu machen, sich zu bestrafen und auszulöschen, so wie es Judas der Verräter getan hatte, als er sich erhängte. Wie ihm in früheren Stadien seines Büßerlebens der Teufel die Wünsche, Vorstellungen und Träume der Sinnen- und Weltlust in die Seele geschmuggelt hatte, so suchte er ihn jetzt heim mit Vorstellungen der Selbstvernichtung, so daß er jeden Ast eines Baumes daraufhin prüfen mußte, ob er geeignet sei, sich an ihm aufzuhängen, jeden steilen Felsen der Gegend, ob er steil und hoch genug sei, um sich von ihm zu Tode zu stürzen. Er widerstand der Versuchung, er kämpfte, er gab nicht nach, aber er lebte Tag und Nacht in einem Brand von Selbsthaß und Todesgier, das Leben war unerträglich und hassenswert geworden.
Dahin also war es mit Josef gekommen. Als er eines Tages wieder auf einer jener Felsenhöhen stand, sah er in der Ferne zwischen Erde und Himmel zwei, drei winzige Gestalten erscheinen, Reisende offenbar, Pilger vielleicht, vielleicht Leute, welche ihn aufsuchen wollten, um bei ihm zu beichten – und plötzlich ergriff ihn ein unwiderstehliches Verlangen, alsbald und schleunigst davonzugehen, fort von diesem Ort, weg von diesem Leben. Das Verlangen packte ihn so übermächtig und triebhaft, daß es alle Gedanken, Einwände und Bedenken überannte und hinwegfegte, denn natürlich fehlte es an solchen nicht; wie hätte ein frommer Büßer ohne Zuckungen des Gewissens einem Triebe zu folgen vermocht? Schon lief er, schon war er zu seiner Grotte zurückgekehrt, zur Wohnstätte so vieler durchkämpfter Jahre, zum Gefäß so vieler Erhebungen und Niederlagen. In besinnungsloser Eile rüstete er ein paar Hände voll Datteln und eine Kürbisflasche mit Wasser, verstaute sie in seinem alten Reisebeutel, hängte ihn über die Schulter, griff zum Stab und verließ den grünen Frieden seiner kleinen Heimat, ein Flüchtling und Ruheloser, flüchtig vor Gott und den Menschen, und flüchtig am meisten vor dem, was er einst für sein Bestes, für sein Amt und seine Mission gehalten hatte. Er ging anfangs wie gehetzt, so, als wären wirklich jene fern aufgetauchten Figuren, die er vom Felsen aus gesichtet hatte, Verfolger und Feinde. Aber im Lauf der ersten Wanderstunde verließ ihn die ängstliche Eile, die Bewegung ermüdete ihn wohltätig, und während der ersten Rast, zu welcher er sich jedoch keinen Imbiß gönnte – es war ihm heilige Gewohnheit geworden, vor Sonnenuntergang keine Speise zu sich zu nehmen –, begann schon seine Vernunft, im einsamen Denken geübt, sich wieder zu ermuntern und sein triebmäßiges Handeln begutachtend abzutasten. Und sie mißbilligte dies Handeln, so wenig vernünftig es scheinen mochte, nicht, sondern sah ihm eher mit Wohlwollen zu, denn zum erstenmal seit geraumer Zeit fand sie sein Tun harmlos und unschuldig. Es war eine Flucht, die er angetreten hatte, eine plötzliche und unüberlegte Flucht zwar, aber keine schmähliche. Er hatte einen Posten verlassen, dem er nicht mehr gewachsen war, er hatte durch sein Weglaufen sich selber und dem, der ihm zusehen mochte, sein Versagen eingestanden, er hatte einen täglich wiederholten, nutzlosen Kampf aufgegeben und sich als den Geschlagenen und Unterlegenen bekannt. Dies war, so fand seine Vernunft, nicht großartig, nicht heroisch und heiligmäßig, aber es war aufrichtig und schien unumgänglich gewesen zu sein; er wunderte sich jetzt darüber, daß er diese Flucht erst so spät angetreten, daß er es so lange, so sehr lange ausgehalten hatte. Den Kampf und Trotz, in dem er sich so lange auf dem verlorenen Posten gehalten hatte, empfand er jetzt als einen Irrtum, vielmehr als einen Kampf und Krampf seiner Selbstsucht, seines alten Adam, und meinte jetzt zu verstehen, warum dieser Trotz zu so üblen, ja teuflischen Folgen geführt hatte, zu solcher Zerrissenheit und Gemütserschlaffung, ja zu dämonischem Besessensein vom Wunsche nach Tod und Selbstvernichtung. Wohl sollte ein Christ dem Tode nicht Feind sein, wohl sollte ein Büßer und Heiliger sein Leben durchaus als ein Opfer betrachten; aber der Gedanke an freiwillige Tötung war ganz und gar ein teuflischer und konnte nur in einer Seele entstehen, deren Meister und Hüter nicht mehr Gottes Engel, sondern die bösen Dämonen waren. Eine Weile saß er ganz verloren und betreten und endlich tief zerknirscht und erschüttert, indem ihm aus dem Abstand, den ihm die wenigen Meilen der Wanderung gaben, sein jüngst vergangenes Leben sichtbar wurde und ins Bewußtsein trat, das verzweifelte und gehetzte Leben eines alternden Mannes, der sein Ziel verfehlt hat und beständig von der gräßlichen Versuchung gepeinigt war, sich am Ast eines Baumes zu erhängen wie der Verräter des Heilands. Wenn es ihm vor dem freiwilligen Tode so sehr graute, so spukte in diesem Grauen freilich auch noch ein Rest von vorzeitlichem, vorchristlichem, altheidnischem Wissen, Wissen um den uralten Brauch des Menschenopfers, zu dem der König, der Heilige, der Auserwählte des Stammes ausersehen war, und das er nicht selten mit eigener Hand zu vollziehen gehalten war. Nicht nur daß dieser verpönte Brauch aus heidnischen Vorzeiten herüberklang, machte ihn so grauenerregend, sondern noch mehr der Gedanke, daß am Ende der vom Erlöser am Kreuz erlittene Tod auch nichts anderes war als ein freiwillig vollzogenes Menschenopfer. Und in der Tat: wenn er sich recht besann, so war eine Ahnung dieses Bewußtseins schon in jenen Regungen der Begierde nach Selbstmord vorhanden gewesen, ein trotzig-böser, wilder Drang, sich selber zu opfern und damit eigentlich auf unerlaubte Weise den Erlöser nachzuahmen – oder auf unerlaubte Weise anzudeuten, daß Jenem sein Erlösungswerk nicht so ganz gelungen sei. Er erschrak tief bei diesem Gedanken, fühlte aber auch, daß er jener Gefahr nun entronnen sei.
Lange betrachtete er diesen Büßer Josef, zu dem er geworden war und welcher jetzt, statt dem Judas oder auch dem Gekreuzigten nachzufolgen, die Flucht ergriffen und sich damit von neuem in Gottes Hand gegeben hatte. Scham und Bekümmerung wuchsen in ihm an, je deutlicher er die Hölle erkannte, der er entlaufen war, und am Ende drängte das Elend sich wie ein würgender Bissen in seiner Kehle, wuchs zu unerträglichem Drang und fand plötzlich Abschluß und Erlösung in einem Ausbruch von Tränen, der ihm wunderbar wohltat. O wie lange hatte er nicht mehr weinen können! Die Tränen flössen, die Augen vermochten nichts mehr zu sehen, aber das tödliche Würgen war gelöst, und als er zu sich kam und den Salzgeschmack auf seinen Lippen fühlte und wahrnahm, daß er weine, war ihm einen Augenblick, als sei er wieder ein Kind geworden und wisse nichts von Argem. Er lächelte, er schämte sich ein wenig seines Weinens, stand endlich auf und setzte seine Wanderung fort. Er fühlte sich unsicher, wußte nicht, wohin seine Flucht führen und was mit ihm werden solle, wie ein Kind kam er sich vor, aber es war kein Kampf und Wollen mehr in ihm, er fühlte sich leichter und wie geführt, wie von einer fernen guten Stimme gerufen und gelockt, als wäre seine Reise nicht eine Flucht, sondern eine Heimkehr. Er wurde müde, und die Vernunft auch, sie schwieg oder ruhte sich aus oder kam sich entbehrlich vor.
An der Tränkestelle, wo Josef übernachtete, rasteten einige Kamele; da der kleinen Reisegesellschaft auch zwei Frauen angehörten, begnügte er sich mit einer Grußgebärde und vermied ein Gespräch. Dafür konnte er, nachdem er beim Dunkelwerden einige Datteln verzehrt, gebetet und sich niedergelegt hatte, die leise Unterhaltung zwischen zwei Männern, einem alten und einem jüngeren, mit anhören, denn sie lagen in seiner nächsten Nähe. Es war nur ein Stückchen ihres Zwiegesprächs, das er hören konnte, der Rest wurde nur noch geflüstert. Aber auch dies kleine Bruchstück nahm seine Aufmerksamkeit und Teilnahme in Anspruch und gab ihm für die halbe Nacht zu denken.