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Aber in der zweiten oder dritten Schulstunde kam es dennoch; es wurde an die Tür gepocht, es kam der Schuldiener herein, grüßte den Lehrer und meldete, der Schüler Josef Knecht habe in einer Viertelstunde beim Musiklehrer zu erscheinen und möge darauf achten, sich anständig zu kämmen und die Hände und Fingernägel zu reinigen. Knecht wurde blaß vor Schreck, taumelnd verließ er die Schule, lief ins Internat hinüber, legte seine Bücher ab, wusch und kämmte sich, nahm zitternd seinen Violinkasten und sein Übungsheft und schritt, mit Würgen in der Kehle, zu den Musikstuben im Anbau. Ein aufgeregter Mitschüler empfing ihn auf der Treppe, deutete auf ein Übungszimmer und meldete; »Hier sollst du warten, bis man dich ruft.«

Es dauerte nicht lange und war ihm doch eine Ewigkeit, bis er vom Warten erlöst wurde. Es rief ihn niemand, aber es trat ein Mann herein, ein ganz alter Mann, wie es ihm anfangs schien, ein nicht sehr großer, weißhaariger Mann mit einem schönen lichten Gesicht und mit durchdringend blickenden hellblauen Augen, deren Blick man hätte fürchten können, aber er war nicht nur durchdringend, sondern auch heiter, er war von einer nicht lachenden oder lächelnden, sondern stillglänzenden, ruhigen Heiterkeit. Er gab dem Knaben die Hand und nickte ihm zu, setzte sich bedächtig auf den Hocker vor dem alten Übungsklavier und sagte: »Du bist Josef Knecht? Dein Lehrer scheint mit dir zufrieden zu sein, ich glaube, er hat dich gern. Komm, wir wollen ein wenig miteinander musizieren.« Knecht hatte seine Geige schon vorher ausgepackt, der alte Mann schlug das A an, und der Knabe stimmte, dann sah er den Musikmeister fragend und ängstlich an.

»Was möchtest du gern spielen?« fragte der Meister. Der Schüler brachte keine Antwort heraus, er war von Ehrfurcht für den Alten bis zum Überfließen angefüllt, noch nie hatte er einen solchen Menschen gesehen. Zögernd griff er nach seinem Notenheft und hielt es dem Manne hin.

»Nein,« sagte der Meister, »ich möchte, daß du auswendig spielst und kein Übungsstück, sondern irgend etwas Einfaches, was du auswendig kannst, vielleicht ein Lied, das du gern hast.«

Knecht war verwirrt und von diesem Gesicht und diesen Augen bezaubert, er brachte keine Antwort heraus, er schämte sich seiner Verwirrung sehr, aber sagen konnte er nichts. Der Meister drängte nicht. Er schlug mit einem Finger die ersten Töne einer Melodie an, sah den Knaben fragend an, der nickte und spielte die Melodie sofort und freudig mit, es war eins von den alten Liedern, die in der Schule oft gesungen wurden.

»Noch einmal!« sagte der Meister. Knecht wiederholte die Melodie, und der Alte spielte jetzt eine zweite Stimme dazu. Zweistimmig klang nun das alte Lied durch die kleine Übungsstube.

»Noch einmal!«

Knecht spielte, und der Meister spielte die zweite und eine dritte Stimme dazu. Dreistimmig klang das schöne alte Lied durch die Stube.

»Noch einmal!« Und der Meister spielte drei Stimmen hinzu.

»Ein schönes Lied!« sagte der Meister leise. »Spiele es jetzt einmal in der Altlage!«

Knecht gehorchte und spielte, der Meister hatte ihm den ersten Ton angegeben und spielte nun die drei andern Stimmen dazu. Und immer wieder sagte der Alte; »Noch einmal!,« es klang jedesmal fröhlicher. Knecht spielte die Melodie im Tenor, immer von zwei bis drei Gegenstimmen begleitet. Viele Male spielten sie das Lied, es war keine Verständigung mehr nötig, und mit jeder Wiederholung wurde das Lied ganz von selbst reicher an Verzierungen und Rankenspiel. Der kahle kleine Raum mit dem frohen vormittäglichen Licht klang festlich von den Tönen wider.

Nach einer Weile hörte der Alte auf. »Ist es nun genug?« fragte er. Knecht schüttelte den Kopf und begann von neuem, heiter fiel der andre mit seinen drei Stimmen ein, und die vier Stimmen zogen ihre dünnen, klaren Linien, sprachen miteinander, stützten sich aufeinander, überschnitten sich und umspielten einander in heitern Bogen und Figuren, und der Knabe und der Alte dachten an nichts andres mehr, gaben sich den schönen verschwisterten Linien hin und den Figuren, die sie in ihren Begegnungen bildeten, in ihrem Netz gefangen musizierten sie, wiegten sich leise mit und gehorchten einem unsichtbaren Kapellmeister. Bis der Meister, als wieder die Melodie zu Ende war, den Kopf zurückwandte und fragte: »Hat es dir gefallen, Josef?«

Dankbar und leuchtend blickte Knecht ihn an. Er strahlte, aber er brachte kein Wort heraus.

»Weißt du etwa schon,« fragte der Meister jetzt, »was eine Fuge ist?«

Knecht machte ein zweifelndes Gesicht. Er hatte schon Fugen gehört, aber im Unterricht war das noch nicht vorgekommen.

»Gut,« sagte der Meister, »dann will ich es dir zeigen. Am schnellsten kapierst du es, wenn wir selber eine Fuge machen. Also: zu einer Fuge gehört vor allem ein Thema, und das Thema suchen wir nicht lang, das nehmen wir aus unserem Lied.«

Er spielte eine kleine Tonfolge, ein Stückchen aus der Liedmelodie, es klang wunderlich, so herausgeschnitten, ohne Kopf und Schwanz. Er spielte das Thema nochmals, und schon ging es weiter, schon kam der erste Einsatz, der zweite verwandelte den Quintschritt in einen Quartschritt, der dritte Einsatz wiederholte den ersten eine Oktave höher, ebenso der vierte den zweiten, mit einer Klausel in der Tonart der Dominante schloß die Exposition. Die zweite Durchführung modulierte freier nach andern Tonarten hinüber, die dritte, mit einer Neigung zur Subdominante, endete mit einer Klausel auf dem Grundton. Der Knabe blickte auf die klugen weißen Finger des Spielenden, sah in seinem zusammengenommenen Gesicht den Gang der Entwicklung leise gespiegelt, während die Augen unter halbgeschlossenen Lidern ruhten. Des Knaben Herz wallte von Verehrung, von Liebe für den Meister, und sein Ohr vernahm die Fuge, ihm schien, er höre heute zum erstenmal Musik, er ahnte hinter dem vor ihm entstehenden Tonwerk den Geist, die beglückende Harmonie von Gesetz und Freiheit, von Dienen und Herrschen, er ergab und gelobte sich diesem Geist und diesem Meister, er sah sich und sein Leben und sah die ganze Welt in diesen Minuten vom Geist der Musik geleitet, geordnet und gedeutet, und als das Spiel sein Ende gefunden hatte, sah er den Verehrten, den Zauberer und König, noch eine kleine Weile leicht vorgeneigt über den Tasten, mit halbgeschlossenen Lidern, das Gesicht von innen her leise leuchtend, und wußte nicht, sollte er jubeln über die Seligkeit dieser Augenblicke oder weinen, daß sie vorüber waren. Da stand der alte Mann langsam vom Klavierstühlchen auf, sah ihn mit den heitern blauen Augen durchdringend und zugleich unsäglich freundlich an und sagte: »Nirgends können zwei Menschen leichter Freunde werden als beim Musizieren. Das ist eine schöne Sache. Hoffentlich werden wir Freunde bleiben, du und ich. Vielleicht wirst du auch Fugen machen lernen, Josef.« Damit gab er ihm die Hand und ging, und in der Tür wendete er sich noch einmal um und grüßte zum Abschied mit einem Blick und einem höflichen kleinen Neigen des Kopfes.

Knecht hat viele Jahre später seinem Schüler erzählt: als er aus dem Hause trat, fand er die Stadt und die Welt viel mehr verwandelt und verzaubert, als wenn Fahnen und Kränze, Bänder und Feuerwerke sie geschmückt hätten. Er hatte den Vorgang der Berufung erlebt, den man recht wohl ein Sakrament nennen darf: das Sichtbarwerden und einladende Sichöffnen der idealen Welt, welche bis dahin dem jungen Gemüt nur teils vom Hörensagen, teils aus glühenden Träumen bekannt gewesen war. Diese Welt existierte nicht nur irgendwo in der Ferne, in der Vergangenheit oder Zukunft, nein, sie war da und war aktiv, sie strahlte aus, sie schickte Sendboten, Apostel, Gesandte aus, Männer wie diesen alten Magister, der übrigens, wie es Josef scheinen wollte, eigentlich doch gar nicht so sehr alt war. Und aus dieser Welt, durch einen dieser ehrwürdigen Sendboten, war auch an ihn, den kleinen Lateinschüler, Mahnung und Ruf ergangen! Diese Bedeutung hatte das Erlebnis für ihn, und es dauerte Wochen, bis er wirklich wußte und überzeugt war, daß dem magischen Vorgang jener geweihten Stunde auch ein exakter Vorgang in der realen Welt entsprach, daß die Berufung nicht bloß eine Beglückung und Mahnung in seiner eigenen Seele und seinem Gewissen, sondern auch eine Gabe und Mahnung der irdischen Mächte an ihn war. Denn auf die Dauer konnte es nicht verborgen bleiben, daß der Besuch des Musikmeisters weder ein Zufall noch eine wirkliche Schulinspektion gewesen war. Sondern Knechts Name hatte schon seit längerer Zeit, auf Grund von Berichten seiner Lehrer, auf den Listen der Schüler gestanden, welche einer Erziehung in den Eliteschulen würdig schienen oder doch der obersten Behörde hiezu empfohlen waren. Da dieser Knabe Knecht nicht nur als Lateiner und als angenehmer Charakter gelobt, sondern auch noch speziell von seinem Musiklehrer empfohlen und gerühmt wurde, hatte es der Musikmeister auf sich genommen, bei Gelegenheit einer Amtsreise sich ein paar Stunden Zeit für Berolfingen zu nehmen und sich diesen Schüler anzusehen. Dabei war es ihm nicht so sehr auf das Latein und nicht so sehr auf die Fingerfertigkeit angekommen (hierin verließ er sich auf die Zeugnisse der Lehrer, deren Studium er immerhin eine Stunde gönnte) als darauf, ob dieser Knabe in seinem ganzen Wesen das Zeug zum Musikanten im höhern Sinn habe, zur Begeisterung, zum Sicheinordnen, zur Ehrfurcht, zum Dienst am Kultus. Im allgemeinen waren aus guten Gründen die Lehrer an den öffentlichen höhern Schulen nichts weniger als freigebig mit Empfehlungen von Schülern für die »Elite,« immerhin kamen etwa einmal Begünstigungen aus mehr oder weniger unlautern Absichten vor, und nicht selten empfahl auch ein Lehrer aus Mangel an Blick hartnäckig irgendeinen Lieblingsschüler, der außer Fleiß, Ehrgeiz und klugem Verhalten gegen die Lehrer wenig Vorzüge hatte. Gerade diese Art war dem Musikmeister besonders zuwider, er hatte den Blick dafür, ob ein Prüfling sich dessen bewußt war, daß es jetzt um seine Zukunft und Laufbahn gehe, und wehe dem Schüler, der ihm allzu geschickt, allzu bewußt und klug begegnete oder gar ihm zu schmeicheln versuchte, er war in manchen Fällen schon verworfen, noch ehe eine Prüfung begonnen hatte.

Der Schüler Knecht nun hatte dem alten Musikmeister gefallen, sehr gut hatte er ihm gefallen, noch auf der Weiterreise dachte er vergnügt an ihn zurück; er hatte sich keinerlei Notizen und Zeugnisse über ihn ins Heft geschrieben, sondern nahm die Erinnerung an den frischen, bescheidenen Knaben mit sich und schrieb nach der Rückkehr mit eigener Hand seinen Namen in die Liste der Schüler, welche von einem Mitglied der obersten Behörde selbst geprüft und der Aufnahme würdig befunden waren.

Von dieser Liste – sie hieß unter den Lateinschülern »das goldene Buch,« es gab gelegentlich für sie aber auch die respektlose Bezeichnung »Streberkatalog« – hatte Josef in der Schule gelegentlich reden hören, und in ganz verschiedenen Tonarten. Wenn ein Lehrer diese Liste erwähnte, und sei es nur, um einem Schüler vorzuhalten, daß ein Bursche wie er natürlich niemals daran denken könne, es so weit zu bringen, dann war etwas von Feierlichkeit, von Respekt und auch von Wichtigtuerei in seinem Ton. Sprachen aber die Schüler einmal vom Streberkatalog, dann taten sie es meistens auf schnoddrige Art und mit etwas übertriebener Gleichgültigkeit. Einmal hatte Josef einen Schüler sagen hören: »Ach was, ich spucke euch auf diesen blöden Streberkatalog! Wer ein Kerl ist, der kommt nicht dort hinein, darauf kann man sich verlassen. Dorthin schicken die Lehrer bloß die allerdicksten Schanzer und Kriecher.«

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