Knecht nickte. »Der Amokläufer bedankt und freut sich. Ich habe keine Anklage vorzutragen. Was ich sagen möchte – wenn es nur nicht so schwer, so unglaublich schwer in Worte zu bringen wäre –, hat für mich den Sinn einer Rechtfertigung, für Euch mag es den einer Beichte haben.«
Er lehnte sich im Sessel zurück und blickte nach oben, wo an der Wölbung der Decke noch blasse Reste ehemaliger Bemalung gelsterten, aus Hirslands Klosterzeiten her, traumhaft dünne Schemen von Linien und Farbtönen, von Blumen und Ornamenten.
»Der Gedanke, daß man ein Magisteramt auch satt haben und niederlegen könne, kam mir zum ersten Male schon wenige Monate nach meiner Ernennung zum Glasperlenspielmeister. Da saß ich eines Tages und las in einem Büchlein meines einst berühmten Vorfahren Ludwig Wassermaler, worin er, das Amtsjahr von Monat zu Monat durchlaufend, seinen Nachfolgern Hinweise und Ratschläge gibt. Ich las da seine Mahnung, beizelten an das öffentliche Glasperlenspiel des kommenden Jahres zu denken und, falls man sich dazu unlustig fühle und es einem an Einfällen mangle, sich durch Konzentration dazu zu stimmen. Als ich, in meinem kräftigen Gefühl als jüngster Magister, diese Mahnung las, lächelte ich zwar ein wenig jugendklug über die Sorgen des alten Mannes, der sie niedergeschrieben hatte, es klang mir aber doch auch etwas von Ernst und Gefahr, etwas Bedrohendes und Beklemmendes daraus nach. Das Nachdenken darüber führte mich zu dem Entschluß: sollte jemals der Tag kommen, an dem der Gedanke an das nächste Festspiel mir statt Freude Sorge und statt Stolz Angst einflößen würde, so würde ich, statt mir mühsam ein neues Festspiel abzuquälen, meinen Rücktritt nehmen und der Behörde die Insignien zurückgeben. Dies war das erste Mal, daß solch ein Gedanke mich beschäftigte, und allerdings glaubte ich damals, als ich eben die großen Strapazen des Einarbeitens in mein Amt überstanden und die Segel voll Wind hatte, zuinnerst nicht so recht an die Möglichkeit, daß auch ich einmal ein alter Mann und der Arbeit und des Lebens müde sein, daß ich einmal verdrossen und verlegen vor der Aufgabe stehen könnte, Ideen für neue Glasperlenspiele aus dem Ärmel zu schütteln. Immerhin, der Entschluß kam damals in mir zustande. Ihr habet mich ja zu jener Zeit recht gut gekannt, Ehrwürdiger, besser vielleicht, als ich mich selber kannte. Ihr wäret mein Berater und Beichtvater in der schweren ersten Amtszeit gewesen und hattet Waldzell erst vor kurzem wieder verlassen.«
Alexander blickte ihn prüfend an. »Ich habe kaum je einen schöneren Auftrag gehabt,« sagte er, »und war damals mit Euch und mit mir selber zufrieden, wie man es selten ist. Wenn es richtig ist, daß man alles Angenehme im Leben bezahlen muß, nun, so muß ich jetzt für mein damaliges Hochgefühl büßen. Ich war damals richtig stolz auf Euch. Das kann ich heute nicht sein. Wenn der Orden durch Euch eine Enttäuschung und Kastalien eine Erschütterung erlebt, so weiß ich mich dafür mitverantwortlich. Vielleicht hätte ich damals, als ich Euer Begleiter und Ratgeber war, einige Wochen länger in Eurer Spielersiedlung bleiben oder Euch noch etwas härter anfassen, noch genauer kontrollieren sollen.«
Knecht erwiderte seinen Blick heiter. »Ihr solltet Euch solche Skrupel nicht machen, Domine, ich müßte Euch sonst an manche Ermahnungen erinnern, die Ihr mir damals geben mußtet, wenn ich als jüngster Magister mein Amt mit seinen Verpflichtungen und Verantwortungen allzu schwer nahm. Ihr sagtet mir, eben fällt es mir wieder ein, in einer solchen Stunde einmal: wenn ich, der Magister Ludi, ein Bösewicht oder Unfähiger wäre, und wenn ich alles täte, was ein Magister nicht tun darf, ja wenn ich es absichtlich darauf anlegte, in meiner hohen Stellung möglichst viel Schaden anzurichten, so würde dies alles unser liebes Kastalien nicht mehr stören und tiefer anrühren können als ein Steinchen, das man in einen See wirft. Ein paar Wellchen und Kreise, und es ist vorüber. So fest, so sicher sei unsre kastalische Ordnung, so unantastbar ihr Geist. Erinnert Ihr Euch? Nein, an meinen Versuchen, ein möglichst schlechter Kastalier zu sein und den Orden möglichst zu schädigen, seid Ihr gewiß unschuldig. Und Ihr wisset ja auch, daß es mir gar nicht gelingen wird und kann, Euren Frieden ernstlich zu stören. Aber ich will weitererzählen. – Daß ich schon im Beginn meines Magistrats jenen Entschluß fassen konnte und daß ich diesen Entschluß nicht vergaß, sondern jetzt daran bin, ihn zu verwirklichen, das hängt mit einer Art von seelischem Erlebnis zusammen, das mir von Zeit zu Zeit begegnet und das ich Erwachen nenne. Aber davon wisset Ihr schon, ich habe Euch damals einmal davon gesprochen, als Ihr mein Mentor und Guru wäret, und zwar klagte ich Euch damals, daß seit dem Antritt des Amtes jenes Erlebnis mich gemieden habe und mir immer mehr in die Ferne entschwinde.«
»Ich erinnere mich,« bestätigte der Vorstand, »ich war damals etwas betroffen über Eure Fähigkeit zu dieser Art von Erlebnis, sie ist bei uns sonst wenig zu finden, und draußen in der Welt tritt sie in so sehr verschiedenen Formen auf: etwa beim Genie, namentlich bei Staatsmännern und Heerführern, dann aber auch bei schwachen, halb pathologischen, im ganzen eher unterbegabten Menschen wie Hellsehern, Telepathen, Medien. Mit diesen beiden Menschenarten, den Kriegshelden wie den Hellsehern und Rutengängern, schienet Ihr mir so gar nichts zu tun zu haben. Vielmehr schienet Ihr mir damals und bis gestern ein guter Ordensmann zu sein: besonnen, klar, gehorsam. Das Heimgesuchtwerden und Beherrschtwerden von geheimnisvollen Stimmen, göttlichen oder dämonischen oder auch Stimmen des eigenen Innern, schien mir ganz und gar nicht zu Euch zu passen. Darum deutete ich mir die Zustände von »Erwachen,« wie Ihr sie mir beschriebet, einfach als ein gelegentliches Bewußtwerden des persönlichen Wachstums. Daraus ergab sich auch als natürlich, daß diese seelischen Erlebnisse damals längere Zeit ausblieben: Ihr wäret ja eben erst in ein Amt getreten und hattet eine Aufgabe übernommen, die Euch noch wie ein zu weiter Mantel umhing, in die Ihr erst hineinwachsen mußtet. Aber saget: habet Ihr jemals geglaubt, diese Erweckungen seien so etwas wie Offenbarungen höherer Mächte, Mitteilungen oder Anrufe aus Bezirken einer objektiven, ewigen oder göttlichen Wahrheit?«
»Damit,« sagte Knecht, »sind wir bei meiner augenblicklichen Aufgabe und Schwierigkeit, nämlich in Worten auszudrücken, was sich doch den Worten stets entzieht; rational machen, was offenbar außer-rational ist. Nein, an Manifestationen eines Gottes oder Dämons oder einer absoluten Wahrheit habe ich bei jenen Erweckungen nie gedacht. Was diesen Erlebnissen ihre Wucht und Überzeugungskraft gibt, ist nicht ihr Gehalt an Wahrheit, ihre hohe Herkunft, ihre Göttlichkeit oder dergleichen, sondern ihre Wirklichkeit. Sie sind ungeheuer wirklich, so wie etwa ein heftiger körperlicher Schmerz oder ein überraschendes Naturereignis, Sturm oder Erdbeben, uns ganz anders mit Wirklichkeit, Gegenwärtigkeit, Unentrinnbarkeit geladen zu sein scheint als die gewöhnlichen Zeiten und Zustände. Der Windstoß, der einem ausbrechenden Gewitter vorangeht, der uns eilig nach Hause treibt und uns noch die Haustür aus der Hand zu reißen versucht – oder ein starkes Zahnweh, das alle Spannungen, Leiden und Konflikte der Welt in unsern Kiefer zu konzentrieren scheint –, das sind Dinge, an deren Realität oder Bedeutung wir meinetwegen später einmal zu rütteln anfangen mögen, falls wir zu solchen Spaßen neigen, aber in der Stunde des Erlebens dulden sie keinerlei Zweifel und sind bis zum Bersten voll Realität. Eine ähnliche Art von gesteigerter Wirklichkeit nun hat mein, »Erwachen« für mich, daher hat es ja seinen Namen; es ist mir in solchen Stunden wirklich, als habe ich lange Zeit im Schlaf oder Halbschlaf gelegen, jetzt aber sei ich wach und hell und empfänglich wie sonst niemals. Die Augenblicke großer Schmerzen oder Erschütterungen, auch in der Weltgeschichte, haben ihre überzeugende Notwendigkeit, sie entflammen ein Gefühl von beklemmender Aktualität und Spannung. Es mag sodann, als Folge der Erschütterung, das Schöne und Lichte geschehen oder das Tolle und Finstere; in jedem Falle wird das, was geschieht, den Anschein der Größe, der Notwendigkeit und Wichtigkeit tragen und sich von dem, was alle Tage geschieht, unterscheiden und abheben.
Aber lasset mich versuchen,« fuhr er nach einer Atempause fort, »diese Sache noch von einer andern Seite her anzufassen. Könnet Ihr Euch an die Legende vom heiligen Christophorus erinnern? Ja? Also dieser Christophorus war ein Mann von großer Kraft und Tapferkeit, er wollte aber nicht Herr werden und regieren, sondern dienen, das Dienen war seine Stärke und Kunst, darauf verstand er sich. Doch war es ihm nicht einerlei, wem er diene. Es mußte der größte, der mächtigste Herr sein. Und wenn er von einem Herrn hörte, der noch mächtiger war als sein bisheriger, so bot er diesem seine Dienste an. Dieser große Diener hat mir immer gefallen, und ein wenig muß ich ihm ähnlich sein. Wenigstens habe ich in der einzigen Zeit meines Lebens, in der ich über mich selbst zu verfügen hatte, in den Studentenjahren, lange gesucht und geschwankt, welchem Herrn ich dienen solle. Ich habe gegen das Glasperlenspiel, das ich doch längst als die kostbarste und eigenste Frucht unsrer Provinz erkannt hatte, jahrelang mich gewehrt und mißtrauisch verhalten. Ich hatte den Köder gekostet und wußte, daß es Reizvolleres und Differenzierteres auf Erden nicht gab, als sich dem Spiel zu ergeben, hatte auch schon ziemlich früh gemerkt, daß dies entzückende Spiel nicht naive Feierabendspieler verlange, sondern den, der es sich einmal ein Stück weit zu eigen gemacht hatte, ganz und gar verlangte und in seinen Dienst zog. Und mich nun mit allen meinen Kräften und Interessen für immer diesem Zauber zu verschreiben, dagegen wehrte sich in mir ein Instinkt, ein naives Gefühl für das Einfache, für das Ganze und Gesunde, das mich vor dem Geist des Waldzeller Vicus Lusorum warnte als vor einem Spezialisten- und Virtuosengeist, einem hochkultivierten, äußerst reich durchgearbeiteten Geist zwar, der aber doch vom Ganzen des Lebens und Menschentums abgetrennt war und sich in eine hochmütige Einsamkeit verstiegen hatte. Jahre habe ich gezweifelt und geprüft, bis der Entschluß reif war und ich mich trotz allem für das Spiel entschied. Ich tat es, weil eben jener Drang in mir war, das Höchste an Erfüllung zu suchen und nur dem größten Herrn zu dienen.«
»Ich verstehe,« sagte Meister Alexander. »Aber wie ich es auch betrachte und wie Ihr es auch darstellen möget, ich stoße stets auf denselben Grund für alle Eure Eigenartigkeiten. Ihr habet ein Zuviel an Gefühl für Eure eigene Person, oder an Abhängigkeit von ihr, was keineswegs dasselbe ist, wie eine große Persönlichkeit sein. Einer kann ein Stern erster Ordnung sein an Begabung, Willenskraft, Ausdauer, aber so gut zentriert, daß er in dem System, dem er angehört, ohne jede Reibung und Energievergeudung mitschwingt. Ein andrer hat dieselben hohen Gaben, noch schönere vielleicht, aber die Achse geht nicht genau durchs Zentrum, und er verschwendet die Hälfte seiner Kraft in exzentrischen Bewegungen, die ihn selber schwächen und seine Umwelt stören. Zu dieser Art müsset Ihr gehören. Nur muß ich freilich gestehen, Ihr habet das vortrefflich zu verbergen verstanden. Desto heftiger scheint das Übel jetzt sich zu entladen. Ihr erzählet mir vom heiligen Christophorus, und ich muß sagen: wenn diese Gestalt auch etwas Großartiges und Rührendes hat, ein Vorbild für einen Diener unserer Hierarchie ist sie nicht. Wer dienen will, soll dem Herrn dienen, dem er geschworen hat, auf Gedeih und Verderb, und nicht mit dem heimlichen Vorbehalt, den Herrn zu wechseln, sobald er einen prächtigeren findet. Der Diener macht sich damit zum Richter seiner Herren, und genau dasselbe tut ja Ihr auch. Ihr wollet nur immer dem höchsten Herrn dienen und seid so treuherzig, über den Rang der Herren, zwischen denen Ihr wählet, selber zu entscheiden.«