Wir gehen jetzt schlafen, und morgen früh reisest du. Komm bald wieder, erzähle mir mehr von dir, und auch ich werde dir erzählen, du wirst erfahren, daß es auch in Waldzell und im Leben eines Magisters Fragwürdigkeiten, Enttäuschungen, ja Verzweiflungen und Dämonien gibt. Jetzt aber sollst du in den Schlaf noch ein Ohr voll Musik mitnehmen. Der Blick in den Sternenhimmel und ein Ohr voll Musik vor dem Zubettgehen, das ist besser als alle deine Schlafmittel.« Er setzte sich und spielte behutsam, ganz leise, einen Satz aus jener Sonate von Purcell, einem Lieblingsstück des Paters Jakobus. Wie Tropfen goldenen Lichtes fielen die Töne in die Stille, so leise, daß man dazwischen noch den Gesang des alten laufenden Brunnens im Hofe hören konnte. Sanft und streng, sparsam und süß begegneten und verschränkten sich die Stimmen der holden Musik, tapfer und heiter schritten sie ihren innigen Reigen durch das Nichts der Zeit und Vergänglichkeit, machten den Raum und die Nachtstunde für die kleine Weile ihrer Dauer weit und weltgroß, und als Josef Knecht seinen Gast verabschiedete, hatte dieser ein verändertes und erhelltes Gesicht, und zugleich Tränen in den Augen.
Es war Knecht gelungen, das Eis zu brechen, ein lebendiger und für beide erfrischender Verkehr und Austausch begann zwischen ihm und Designori. Dieser Mann, der seit langen Jahren in resignierender Melancholie gelebt hatte, mußte seinem Freunde recht geben: es war in der Tat die Sehnsucht nach Heilung, nach Helligkeit, nach kastalischer Heiterkeit gewesen, was ihn nach der pädagogischen Provinz zurückgezogen hatte. Er kam nun des öfteren auch ohne Kommission und Amtsgeschäfte, von Tegularius mit eifersüchtigem Mißtrauen beobachtet, und bald wußte Magister Knecht über ihn und sein Leben alles, was er brauchte. Designoris Leben war nicht so außerordentlich und war nicht so kompliziert gewesen, wie Knecht nach dessen ersten Enthüllungen vermutet hatte. Plinio hatte in der Jugend die uns schon bekannte Enttäuschung und Demütigung seines enthusiastischen und tatendurstigen Wesens erlitten, er war zwischen Welt und Kastalien nicht zum Mittler und Versöhner, sondern zum vereinsamten und vergrämten Außenseiter geworden und hatte eine Synthese aus den weltlichen und den kastalischen Bestandteilen seiner Herkunft und seines Charakters nicht zustande gebracht. Und doch war er nicht einfach ein Gescheiterter, sondern hatte im Unterliegen und Verzichten trotz allem ein eigenes Gesicht und ein besonderes Schicksal erworben. Die Erziehung in Kastalien schien sich an ihm durchaus nicht zu bewähren, wenigstens brachte sie ihm vorerst nichts als Konflikte und Enttäuschungen und eine tiefe, seiner Natur schwer erträgliche Vereinzelung und Vereinsamung. Und es schien, als müsse er, nun einmal auf diesen dornenvollen Weg der Vereinzelten und Nichtangepaßten geraten, auch selber noch allerlei tun, um sich abzusondern und seine Schwierigkeiten zu vergrößern. Namentlich brachte er sich schon als Student in unversöhnlichen Gegensatz zu seiner Familie, seinem Vater vor allem. Dieser war, wenn auch in der Politik nicht zu den eigentlichen Führern zählend, doch gleich allen Designoris sein Leben lang eine Stütze der konservativen, regierungstreuen Politik und Partei gewesen, ein Feind aller Neuerungen, ein Gegner aller Ansprüche der Benachteiligten auf Rechte und Anteile, mißtrauisch gegen Menschen ohne Namen und Rang, treu und opferbereit für die alte Ordnung, für alles, was ihm legitim und geheiligt erschien. So war er, ohne doch religiöse Bedürfnisse zu haben, ein Freund der Kirche und sperrte sich, obwohl es ihm an Gerechtigkeitssinn, an Wohlwollen und Bereitwilligkeit zum Wohltun und Helfen durchaus nicht fehlte, hartnäckig und grundsätzlich gegen die Bestrebungen der Landpächter zur Verbesserung ihrer Lage. Er rechtfertigte diese Härte scheinlogisch mit den Programm- und Schlagworten seiner Partei, in Wirklichkeit leitete ihn freilich nicht Überzeugung und Einsicht, sondern blinde Gefolgstreue seinen Standesgenossen und den Traditionen seines Hauses gegenüber, wie denn eine gewisse Ritterlichkeit und Ritterehre und eine betonte Geringschätzung dessen, was sich als modern, fortschrittlich und zeitgemäß gab, für seinen Charakter bezeichnend waren.
Diesen Mann nun enttäuschte, reizte und erbitterte sein Sohn Plinio dadurch, daß er als Student sich einer ausgesprochen oppositionellen und modernistischen Partei näherte und anschloß. Es hatte sich damals ein linker, jugendlicher Flügel einer alten bürgerlich-liberalen Partei gebildet, geführt von Veraguth, einem Publizisten, Abgeordneten und Volksredner von großer, blendender Wirkung, einem temperamentvollen, gelegentlich ein wenig von sich selbst entzückten und gerührten Volksfreund und Freiheitshelden, dessen Werben um die akademische Jugend durch öffentliche Vorträge in den Hochschulstädten nicht erfolglos blieb und ihm unter andern begeisterten Hörern und Anhängern auch den jungen Designori zuführte. Der Jüngling, von der Hochschule enttäuscht und auf der Suche nach einem Halt, einem Ersatz für die ihm wesenlos gewordene Moral Kastaliens, nach irgendeinem neuen Idealismus und Programm, war von den Vorträgen Veraguths hingerissen, bewunderte dessen Pathos und Angriffsmut, seinen Witz, sein anklägerisches Auftreten, seine schöne Erscheinung und Sprache und schloß sich einer Gruppe von Studenten an, die aus Veraguths Zuhörern hervorgegangen war und für dessen Partei und Ziele warb. Als Plinios Vater es erfuhr, reiste er alsbald zu seinem Sohne, donnerte ihn zum ersten Male im Leben im höchsten Zorne an, warf ihm Verschwörertum, Verrat an Vater, Familie und Tradition des Hauses vor, und gab ihm bündig den Befehl, sofort seine Fehler wiedergutzumachen und seine Verbindung mit Veraguth und dessen Partei zu lösen. Dies war nun nicht die richtige Art, Einfluß auf den Jüngling zu nehmen, dem jetzt aus seiner Haltung sogar eine Art von Martyrium zu erwachsen schien. Plinio hielt dem Donner stand und erklärte seinem Vater, er habe nicht darum zehn Jahre die Eliteschulen und einige Jahre die Universität besucht, um auf eigene Einsicht und eigenes Urteil zu verzichten und seine Auffassung von Staat, Wirtschaft und Gerechtigkeit sich von einem Klüngel eigensüchtiger Landbarone vorschreiben zu lassen. Es kam ihm dabei die Schule Veraguths zugute, der nach dem Vorbild großer Tribunen niemals von eigenen oder Standesinteressen wußte und nichts anderes in der Welt erstrebte als die reine, absolute Gerechtigkeit und Menschlichkeit. Der alte Designori brach in ein bitteres Gelächter aus und lud seinen Sohn ein, wenigstens erst sein Studium zu beenden, ehe er sich in Männerdinge einmische und sich einbilde, vom Menschenleben und der Gerechtigkeit mehr zu verstehen als ehrwürdige Generationenreihen edler Geschlechter, deren verkommener Sproß er sei und denen er mit seinem Verrat nun in den Rücken falle. Die beiden zerstritten, erbitterten und beleidigten sich mit jedem Worte mehr, bis der Alte plötzlich, als habe er sein eigenes zornverzerrtes Gesicht im Spiegel erblickt, in kalter Beschämung verstummte und schweigend davonging. Von da an kehrte das alte harmlos vertrauliche Verhältnis zum Vaterhaus für Plinio nie mehr wieder, denn nicht nur blieb er seiner Gruppe und ihrem Neuliberalismus treu, er wurde sogar noch vor dem Abschluß seiner Studien Veraguths unmittelbarer Schüler, Gehilfe und Mitarbeiter und wenige Jahre später sein Schwiegersohn. War nun schon durch die Erziehung in den Eliteschulen oder doch durch die Schwierigkeiten der Rückgewöhnung an Welt und Heimat das Gleichgewicht in Designoris Seele zerstört und sein Leben mit einer zehrenden Problematik durchsetzt worden, so brachten diese neuen Verhältnisse ihn vollends in eine exponierte, schwierige und heikle Lage. Er gewann etwas ohne Zweifel Wertvolles, eine Art von Glauben nämlich, eine politische Überzeugung und Parteizugehörigkeit, die seinem jugendlichen Bedürfnis nach Gerechtigkeit und Fortschrittlichkeit entgegenkam, und in der Person Veraguths einen Lehrer, Führer und ältern Freund, den er vorerst kritiklos bewunderte und liebte, der ihn überdies zu brauchen und zu schätzen schien, er gewann eine Richtung und Zielsetzung, eine Arbeit und Lebensaufgabe. Dies war nicht wenig, aber es mußte teuer bezahlt werden. Hatte sich der junge Mensch mit dem Verlust seiner natürlichen und ererbten Stellung im Vaterhaus und unter seinen Standesgenossen abgefunden, hatte er das Ausgestoßensein aus einer bevorzugten Kaste und deren Gegnerschaft mit einer gewissen fanatischen Märtyrerfreude zu ertragen gewußt, so blieb doch manches, was er nie ganz verwinden konnte, am wenigsten das nagende Gefühl, seiner sehr geliebten Mutter Schmerz zugefügt, sie zwischen dem Vater und sich in eine höchst unbequeme und heikle Lage gebracht und wahrscheinlich dadurch ihr Leben verkürzt zu haben. Sie starb bald nach seiner Verheiratung; nach ihrem Tode wurde Plinio im Haus seines Vaters kaum mehr gesehen und hat dies Haus, einen alten Familiensitz, nach des Vaters Tode verkauft.
Es gibt Naturen, welche es zustande bringen, eine mit Opfern bezahlte Stellung im Leben, ein Amt, eine Ehe, einen Beruf, gerade um dieser Opfer willen so zu lieben und sich zu eigen zu machen, daß sie ihr Glück wird und sie befriedigt. Bei Designori war es anders. Er blieb zwar seiner Partei und deren Führer, seiner politischen Richtung und Tätigkeit, seiner Ehe, seinem Idealismus treu, allein mit der Zeit wurden sie alle ihm doch ebenso problematisch, wie sein ganzes Wesen es nun einmal geworden war. Der politische und weltanschauliche Enthusiasmus der Jugend beruhigte sich, das Kämpfen um des Rechthabens willen war auf die Dauer so wenig beglückend wie das Leiden und Opfern um des Trotzes willen, hinzu kamen Erfahrung und Ernüchterung im beruflichen Leben; schließlich wurde es ihm zweifelhaft, ob wirklich allein der Sinn für Wahrheit und Recht es gewesen sei, der ihn zum Anhänger Veraguths gemacht hatte, ob nicht dessen Redner- und Volkstribunentum, sein Reiz und seine Geschicklichkeit beim öffentlichen Auftreten, ob nicht der sonore Klang seiner Stimme, sein männlich prächtiges Lachen, die Klugheit und Schönheit seiner Tochter daran mindestens zur Hälfte mitgewirkt hätten. Zweifelhaft wurde mehr und mehr, ob der alte Designori mit seiner Standestreue und seiner Härte gegen die Pächter wirklich den unedleren Standpunkt innegehabt habe, zweifelhaft wurde auch, ob es ein Gut und Schlecht, ein Recht und Unrecht überhaupt gebe, ob nicht die Sprache des eigenen Gewissens am Ende der einzige gültige Richter sei, und wenn es so war, dann war er, Plinio, im Unrecht, denn er lebte ja nicht im Glück, in der Ruhe und Bejahung, im Vertrauen und der Sicherheit, sondern im Unsichern, im Zweifel, im schlechten Gewissen. Seine Ehe war zwar nicht im groben Sinne unglücklich und verfehlt, aber doch voll Spannungen, Komplikationen und Widerständen, sie war vielleicht das Beste, was er hatte, aber jene Ruhe, jenes Glück, jene Unschuld, jenes gute Gewissen, die er so sehr entbehrte, gab sie ihm nicht, sie verlangte viel Umsicht und Haltung, kostete viel Anstrengung, und auch der hübsche und schön veranlagte kleine Sohn Tito wurde schon früh ein Anlaß zu Kampf und Diplomatie, zu Werbung und Eifersucht, bis der von beiden Eltern allzusehr Geliebte und Verwöhnte mehr und mehr der Mutter zufiel und ihr Parteigänger wurde. Dies war der letzte und, wie es schien, der am bittersten empfundene Schmerz und Verlust in Designoris Leben. Es hatte ihn nicht gebrochen, er hatte es bewältigt und seine Art von Haltung gefunden und bewahrt, es war eine würdige Haltung, aber eine ernste, schwere, melancholische.