Die zwei Kameraden aus meiner Schulzeit, die mir zuerst über den Weg liefen, waren harmlos, sie klopften mir erfreut auf die Schulter und stellten Kinderfragen nach meinem sagenhaften Weltleben. Die paar andern aber waren nicht so harmlos, sie gehörten zum Spielerdorf und zur jüngeren Elite, und sie stellten keine naiven Fragen, sondern grüßten mich, wenn man sich in einem der Räume deines Heiligtums begegnete und man mir nicht ausweichen konnte, mit einer spitzen, etwas überanstrengten Höflichkeit, vielmehr Leutseligkeit, und konnten ihr Beschäftigtsein mit Wichtigem und mir Unzugänglichem, ihren Mangel an Zeit, an Neugierde, an Teilnahme, an Willen zur Erneuerung der alten Bekanntschaft gar nicht genug betonen. Nun, ich habe mich ihnen nicht aufgedrängt, ich ließ sie in Ruhe, in ihrer olympischen, heiteren, spöttischen, kastalischen Ruhe. Ich blickte zu ihnen und ihrem geschäftig heiteren Tag hinüber wie ein Gefangener durchs Gitter, oder wie Arme, Hungernde und Unterdrückte zu den Aristokraten und Reichen hinüberblicken, den Heiteren, Hübschen, Gebildeten, Wohlerzogenen, Wohlausgeruhten mit den gepflegten Gesichtern und Händen.
Und nun erschienest du, Josef, und Freude und neue Hoffnung erhoben sich in mir, als ich dich sah. Du gingest über den Hof, ich erkannte dich von hinten am Gang und rief dich gleich mit Namen an. Endlich ein Mensch! dachte ich, endlich ein Freund, vielleicht auch ein Gegner, aber einer, mit dem man reden kann, ein Urkastalier zwar, aber einer, bei dem das Kastalische nicht zu Maske und Panzer erstarrt war, ein Mensch, ein Verstehender! Du mußtest es merken, wie froh ich war und wieviel ich von dir erwartete, und in der Tat bist du mir ja auch mit der größten Artigkeit entgegengekommen. Du kanntest mich noch, ich bedeutete dir noch etwas, es machte dir Freude, mein Gesicht wiederzusehen. Und so blieb es denn auch nicht bei der kurzen frohen Begrüßung auf dem Hof, sondern du hast mich eingeladen und hast mir einen Abend gewidmet, geopfert. Aber, lieber Knecht, was für ein Abend ist das gewesen! Wie haben wir uns darum geplagt, beide, recht aufgeräumt zu erscheinen, recht höflich und beinah kameradschaftlich miteinander zu sein, und wie schwer ist es uns geworden, das lahme Gespräch von einem Thema zum andern zu schleppen! Waren die andern gleichgültig gegen mich gewesen, dies mit dir war schlimmer, diese angestrengte und nutzlose Bemühung um eine einmal gewesene Freundschaft tat viel weher. Jener Abend machte endgültig meinen Illusionen ein Ende, es wurde mir unerbittlich klargemacht, daß ich kein Kamerad und Gleichstrebender, kein Kastalier, kein Mensch von Range sei, sondern ein lästiger, sich anbiedernder Tölpel, ein ungebildeter Ausländer, und daß es in so korrekter und schöner Form geschah und die Enttäuschung und Ungeduld so tadellos maskiert blieb, schien mir eigentlich noch das Schlimmste daran. Hättest du mich gescholten und mir Vorwürfe gemacht, hättest du mich angeklagt: »Was ist aus dir geworden, Freund, wie konntest du so verkommen?,« ich wäre glücklich und das Eis wäre gebrochen gewesen. Aber nichts von alledem. Ich sah, es war nichts mit meiner Zugehörigkeit zu Kastalien, nichts mit meiner Liebe zu euch und meinen Studien im Glasperlenspiel, nichts mit unserer Kameradschaft. Repetent Knecht hatte meinen lästigen Besuch in Waldzell entgegengenommen, er hatte sich einen Abend lang mit mir geplagt und gelangweilt und hatte mich nun in höchst einwandfreier Form wieder hinauskomplimentiert.«
Designori, mit seiner Erregung kämpfend, brach ab und blickte mit gequältem Gesicht zum Magister hinüber. Der saß, ganz aufmerksamer Hörer, hingegeben, aber selbst nicht im mindesten erregt, und sah seinen alten Freund mit einem Lächeln an, das voll freundlicher Teilnahme war. Da der andre nicht weitersprach, ließ Knecht seinen Blick auf ihm ruhen, voll Wohlwollen und mit einem Ausdruck von Befriedigung, ja von Vergnügen, dem der Freund eine Minute oder länger finster standhielt.
»Du lachst?« rief Plinio dann heftig, doch nicht böse. »Du lachst? Du findest alles in Ordnung?«
»Ich muß sagen,« lächelte Knecht, »du hast den Vorgang ausgezeichnet dargestellt, ganz ausgezeichnet, es war genau so, wie du es schilderst, und vielleicht war sogar der Rest von Beleidigtsein und Anklage in deiner Stimme nötig, um es so herauszubringen und mir die Szene so vollkommen wieder gegenwärtig zu machen. Auch hast du, obwohl du leider sichtlich die Sache noch immer etwas mit den Augen von damals ansiehst und etwas an ihr nicht verwunden hast, deine Geschichte objektiv richtig erzählt, die Geschichte von zwei jungen Menschen in einer etwas peinlichen Situation, die sich beide etwas verstellen müssen und von denen einer, nämlich du, den Fehler beging, sein wirkliches und ernstliches Leiden unter der Situation ebenfalls hinter flottem Auftreten zu verbergen, statt das Maskenspiel zu durchbrechen. Es scheint sogar ein wenig so, als rechnest du noch heute die Ergebnislosigkeit jener Begegnung mehr mir als dir zu, obwohl es ja durchaus an dir gewesen wäre, die Situation zu ändern. Hast du das wirklich nicht gesehen? Aber geschildert hast du es sehr gut, das muß ich sagen. Ich habe in der Tat die ganze Bedrücktheit und Verlegenheit jener wunderlichen Abendstunde wieder empfunden, ich habe wieder für Augenblicke um die Haltung kämpfen zu müssen geglaubt und mich für uns beide ein wenig geschämt. Nein, deine Erzählung stimmt genau. Es ist ein Vergnügen, so erzählen zu hören.«
»Nun,« begann Plinio etwas verwundert, und noch klang etwas Kränkung und Mißtrauen in seiner Stimme mit, »es ist ja erfreulich, wenn wenigstens einem von uns meine Erzählung Spaß gemacht hat. Mir, mußt du wissen, war es gar nicht um Spaß zu tun.«
»Aber jetzt,« sagte Knecht, »jetzt siehst du doch, wie heiter wir diese Geschichte, die ja für uns beide nicht eben ruhmvoll ist, betrachten können? Lachen können wir über sie.«
»Lachen? »Warum denn?«
»Weil diese Geschichte von dem Exkastalier Plinio, der sich um das Glasperlenspiel bemüht und um die Anerkennung der einstigen Kameraden, vergangen und gründlich abgetan ist, ebenso wie die von dem höflichen Repetenten Knecht, der trotz aller kastalischen Formen seine Verlegenheit vor dem hereingeschneiten Plinio so wenig zu verbergen wußte, daß sie ihm heut nach so vielen Jahren wie im Spiegel wieder vorgehalten werden konnte. Nochmals, Plinio, du hast ein gutes Gedächtnis, gut hast du erzählt, ich hätte es nicht so gekonnt. Ein Glück für uns, daß die Geschichte so ganz abgetan ist und wir über sie lachen können.«
Designori war verwirrt. Wohl spürte er die gute Laune des Magisters als etwas Angenehmes und Herzliches, von allem Spotte weit entfernt, und spürte auch, daß hinter der Heiterkeit ein großer Ernst liege, doch hatte er beim Erzählen allzu schmerzlich die Bitterkeit jenes Erlebnisses wieder gefühlt, und seine Erzählung hatte zu sehr den Charakter einer Beichte gehabt, als daß er ohne weiteres die Tonart hätte wechseln können.
»Du vergissest vielleicht doch,« sagte er zögernd, wenn auch schon halb umgestimmt, »daß das, was ich erzählte, für mich nicht dasselbe war wie für dich. Für dich war es eine Unannehmlichkeit, höchstens, für mich eine Niederlage und ein Zusammenbruch, und übrigens auch der Beginn wichtiger Änderungen in meinem Leben. Als ich damals, kaum war der Kurs zu Ende, Waldzell verließ, beschloß ich, nie hierher wiederzukehren, und war nahe daran, Kastalien und euch alle zu hassen. Ich hatte meine Illusionen verloren und eingesehen, daß ich nicht mehr zu euch gehöre, vielleicht auch früher schon nicht so ganz zu euch gehört hatte, wie ich mir einbildete, und es fehlte gar nicht viel, so wäre ich zu einem Renegaten und zu eurem ausgesprochenen Feind geworden.«
Heiter und zugleich durchdringend blickte der Freund ihn an.
»Gewiß,« sagte er, »und dies alles wirst du mir ja, so hoffe ich, nächstens auch noch erzählen. Aber für heute ist unsre Lage, so scheint mir, doch diese: wir waren in früher Jugend Freunde, wurden getrennt und gingen sehr verschiedene Wege; dann trafen wir uns wieder, das war damals bei deinem unglücklichen Ferienkurs, du warst ein halber oder ganzer Weltmensch geworden, ich ein etwas dünkelhafter und auf kastalische Formen bedachter Waldzeller, und dieses enttäuschenden und beschämenden Wiedersehens haben wir heute uns erinnert. Wir sahen uns selber und unsere damalige Verlegenheit wieder, und wir konnten den Anblick ertragen und können dazu lachen, denn es ist ja heute alles völlig anders. Ich will auch nicht verhehlen, daß der Eindruck, den du mir damals machtest, mich in der Tat in große Verlegenheit brachte, es war ein durchaus unangenehmer, negativer Eindruck, ich wußte nichts mit dir anzufangen, du erschienest mir auf eine unerwartete, bestürzende und aufreizende Weise unfertig, grob, weltlich. Ich war ein junger Kastalier, der die Welt nicht kannte und eigentlich auch nicht kennen wollte, und du, nun du warst ein junger Fremdling, von dem ich nicht recht begriff, wozu er uns aufsuchte und warum er einen Spielkurs mitmachte, denn du schienest vom Eliteschüler kaum mehr etwas an dir zu haben. Du reiztest damals meine Nerven wie ich die deinen. Ich mußte dir natürlich als hochmütiger Waldzeller ohne Verdienste erscheinen, der zwischen sich und einem Nichtkastalier und Spieldilettanten die Distanz sorgfältig zu wahren suchte. Und du wärest für mich eine Art Barbar oder Halbgebildeter, der lästige und unbegründete, sentimentale Ansprüche an mein Interesse und meine Freundschaft zu machen schien. Wir wehrten uns gegeneinander, wir waren nahe daran, einander zu hassen. Wir konnten nichts tun als auseinandergehen, weil keiner dem andern etwas zu geben hatte und keiner dem andern gerecht zu werden imstande war.
Heute aber, Plinio, durften wir die schamhaft begrabene Erinnerung daran wieder erneuern und dürfen über jene Szene und uns beide lachen, denn heut sind wir als andre und mit ganz andern Absichten und Möglichkeiten zueinander gekommen, ohne Rührseligkeiten, ohne unterdrückte Eifersuchts- und Haßgefühle, ohne Selbstdünkel, wir sind ja beide längst Männer geworden.«
Designori lächelte befreit. Doch fragte er noch: »Sind wir aber dessen auch sicher? Guten Willen haben wir ja schließlich auch damals gehabt.«
»Das will ich meinen,« lachte Knecht. »Und haben uns mit unsrem guten Willen bis zum Unerträglichen gequält und überanstrengt. Wir haben einander damals nicht leiden können, instinktiv, jedem von uns war der andre unvertraut, störend, fremd und widerlich, und nur die Einbildung einer Verpflichtung, einer Zusammengehörigkeit hat uns gezwungen, einen Abend lang diese mühsame Komödie zu spielen. Das wurde mir damals schon bald nach deinem Besuche klar. Die gewesene Freundschaft sowohl wie die gewesene Gegnerschaft war von uns beiden noch nicht recht überwunden. Statt sie sterben zu lassen, glaubten wir sie ausgraben und irgendwie fortsetzen zu müssen. Wir fühlten uns ihr verschuldet und wußten nicht, womit die Schuld zu bezahlen sei. Ist es nicht so?«