»Das war,« lachte Knecht, »immerhin ein Umweg, um dir selber deine Abneigung gegen den armen Petrus zu entdecken. Aber wie steht es nun? Bin auch ich ein Mystiker und Schwärmer? Treibe auch ich verbotenen Personen- und Heiligenkult? Oder gestehst du mir zu, was du dem Studenten nicht zugestandest, nämlich, daß wir etwas gesehen und erlebt haben, nicht Träume und Phantasien, sondern etwas Reales und Gegenständliches?«
»Natürlich gestehe ich es Euch zu,« sagte Carlo langsam und überlegend, »niemand wird an Eurem Erlebnis und an der Schönheit oder Heiterkeit des Alt-Magisters zweifeln, der einem so unglaublich zulächeln kann. Die Frage ist nur: wohin tun wir das Phänomen, wie benennen wir es, wie erklären wir es? Es klingt schulmeisterlich, aber wir Kastalier sind nun einmal Schulmeister, und wenn ich Euer und unser Erlebnis einzuordnen und zu benennen wünsche, so wünsche ich das nicht, weil ich seine Wirklichkeit und Schönheit durch Abstraktion und Verallgemeinerung auflösen, sondern weil ich sie möglichst bestimmt und deutlich aufzeichnen und festhalten möchte. Wenn ich auf einer Reise irgendwo einen Bauern oder ein Kind eine Melodie summen höre, die ich nicht kannte, so ist mir das ebenfalls ein Erlebnis, und wenn ich dann diese Melodie sofort und so genau wie möglich in Noten aufzuschreiben versuche, so ist das kein Abtun und Weglegen, sondern eine Ehrung und Verewigung meines Erlebnisses.«
Knecht nickte ihm freundschaftlich zu. »Carlo,« sagte er, »es ist ein Jammer, daß wir uns so selten mehr sehen können. Nicht alle Jugendfreunde bewähren sich bei jedem Wiedersehen. Ich bin mit meiner Erzählung vom alten Magister zu dir gekommen, weil du hier am Ort der einzige bist, an dessen Mitwissen und Teilnahme mir gelegen ist. Ich muß es nun dir überlassen, was du mit meiner Erzählung anfangen und wie du den verklärten Zustand unsres Meisters benennen willst. Ich würde mich freuen, wenn du ihn einmal aufsuchen und eine kleine Weile in seiner Aura weilen wolltest. Sein Zustand von Gnade, Vollendung, Altersweisheit, Seligkeit, oder wie immer wir ihn nennen wollen, mag dem religiösen Leben angehören; wenn wir Kastalier auch keine Konfession und keine Kirche haben, so ist Frömmigkeit uns doch nichts Unbekanntes; gerade unser Alt-Musikmeister ist stets ein durch und durch frommer Mensch gewesen. Und da es Berichte von Begnadeten, Vollendeten, Strahlenden, Verklärten in vielen Religionen gibt, warum sollte nicht auch unsre kastalische Frömmigkeit einmal zu dieser Blüte kommen? – Es ist spät geworden, ich sollte schlafen gehen, morgen muß ich in aller Frühe reisen. Ich hoffe bald wiederzukommen. Laß mich dir nur noch ganz kurz meine Geschichte zu Ende erzählen! Also nachdem er zu mir gesagt hatte: »Du ermüdest dich,« gelang es mir endlich, von meinen Bemühungen um die Einleitung eines Gespräches abzustehen und nicht nur still zu sein, sondern auch meinen Willen von dem falschen Ziel abzurufen, diesen Schweiger mit Hilfe von Wort und Unterredung erforschen und von ihm profitieren zu wollen. Und vom Augenblick an, in dem ich verzichtete und alles dem andern überließ, ging es wie von selbst. Du magst nachher meine Ausdrücke beliebig durch andre ersetzen, jetzt aber höre mich an, auch wenn ich ungenau scheine oder Kategorien verwechsle. Ich war etwa eine Stunde oder anderthalbe bei dem Alten, und ich kann dir nicht mitteilen, was zwischen ihm und mir vorgegangen oder ausgetauscht worden ist, Worte sind dabei nicht gesprochen worden. Ich fühlte nur, nachdem mein Widerstand gebrochen war, daß er mich in seinen Frieden und seine Helligkeit mit aufnahm, es umschloß ihn und mich Heiterkeit und wunderbare Ruhe. Ohne daß ich mit Willen und Wissen meditiert hätte, glich es einigermaßen einer besonders geglückten und beglückenden Meditation, deren Thema das Leben des Alt-Magisters gewesen wäre. Ich sah ihn oder fühlte ihn und den Gang seines Werdens von damals an, wo er mir, einem Knaben, zum erstenmal begegnete, bis zur jetzigen Stunde. Es war ein Leben der Hingabe und Arbeit, aber frei von Zwang, frei von Ehrgeiz und voll von Musik. Und es entwickelte sich so, als habe er, indem er Musiker und Musikmeister wurde, die Musik als einen der Wege zum höchsten Ziel des Menschen, zur Innern Freiheit, zur Reinheit, zur Vollkommenheit erwählt, und als habe er seitdem nichts anderes getan, als sich von der Musik immer mehr durchdringen, verwandeln, läutern zu lassen, von den gewandten, klugen Cembalistenhänden und dem reichen riesigen Musikergedächtnis bis in alle Teile und Organe des Leibes und der Seele, bis in die Pulse und Atemzüge, bis in den Schlaf und Traum, und sei jetzt nur noch ein Symbol, vielmehr eine Erscheinungsform, eine Personifikation der Musik. Wenigstens habe ich das, was von ihm ausstrahlte oder was zwischen ihm und mir wie rhythmisches Atmen hin und her wogte, durchaus als Musik empfunden, als eine völlig unmateriell gewordene, esoterische Musik, welche jeden in den Zauberkreis Eintretenden mit aufnimmt wie ein mehrstimmiges Lied eine neu einfallende Stimme. Einem Nichtmusiker wäre die Gnade vielleicht in anderen Bildern wahrnehmbar geworden, ein Astronom hätte vielleicht sich als Mond um einen Planeten kreisen sehen, oder ein Philologe sich in einer allbedeutsamen, magischen Ursprache angeredet gehört. Genug nun, ich verabschiede mich. Es war mir eine Freude, Carlo.«
Wir haben diese Episode etwas ausführlich mitgeteilt, da der Musikmeister in Knechts Leben und Herzen einen so wichtigen Platz einnahm; mit dazu bewogen oder verführt hat uns der Umstand, daß Knechts Unterhaltung mit Ferromonte in des letzteren eigener Niederschrift, in einem Briefe, auf uns gekommen ist. Über die »Verklärung« des Alt-Musikmeisters ist dieser Bericht gewiß der früheste und zuverlässigste, später gab es ja über dies Thema Legenden und Deutungen übergenug.
Das Jahresspiel, als »Chinesenhausspiel« noch heute bekannt und nicht selten zitiert, brachte Knecht und seinem Freunde die Früchte ihrer Arbeit und brachte Kastalien und der Behörde die Bestätigung, daß mit Knechts Berufung in das höchste Amt das Richtige geschehen sei. Wieder einmal erlebte Waldzell, das Spielerdorf und die Elite, die Genugtuung einer glänzenden und hochgestimmten Festzeit, ja das Jahresspiel war seit langem nicht mehr ein solches Ereignis gewesen wie diesmal, wo der jüngste und meistbesprochene Magister sich zum erstenmal vor aller Öffentlichkeit zeigen und bewähren und wo außerdem Waldzell den im vergangenen Jahre erlittenen Verlust und Mißerfolg wettmachen sollte. Diesmal lag niemand krank, und es stand kein eingeschüchterter Stellvertreter ängstlich der großen Zeremonie vor, vom wachsamen Übelwollen und Mißtrauen der Elite eisig umlauert, von nervös gewordenen Beamten treu, aber schwunglos unterstützt. Lautlos, unnahbar, ganz Hohepriester, weiß und golden gekleidete Leitfigur auf dem feierlichen Schachbrett der Symbole, zelebrierte der Magister sein und seines Freundes Werk; Ruhe, Kraft und Würde ausstrahlend, keinem profanen Anruf erreichbar, erschien er im Festsaal inmitten seiner vielen Ministranten, eröffnete Akt um Akt seines Spiels mit den rituellen Gebärden, schrieb zierlich mit leuchtendem Goldgriffel Zeichen um Zeichen auf die kleine Tafel, vor welcher er stand, und alsbald erschienen dieselben Zeichen in der Spiel-Chiffernschrift, hundertmal vergrößert, auf der Riesentafel der hinteren Saalwand, wurden von tausend flüsternden Stimmen nachbuchstabiert, von den Sprechern laut ausgerufen, von den Fernmeldern ins Land und in die Welt hinaus entsendet, und als er am Ende des ersten Aktes die den Akt resümierende Formel auf die Tafel beschwor, mit anmutvoller und eindrücklicher Haltung die Meditationsvorschriften gab, den Griffel niederlegte und sich, niedersitzend, mit beispielhafter Haltung in die Versenkungsstellung begab, da setzten sich nicht nur im Saale, im Spielerdorf und in Kastalien, sondern auch draußen in manchem Lande der Erde die Gläubigen des Glasperlenspiels andächtig zu derselben Meditation nieder und verharrten in ihr bis zum Augenblick, da im Saale der Magister sich wieder erhob. Es war alles, wie es viele Male gewesen war, und war doch alles herzbewegend und neu. Die abstrakte und scheinbar zeitlose Welt des Spieles war elastisch genug, in hundert Nuancen auf Geist, Stimme, Temperament und Handschrift einer Persönlichkeit zu reagieren, die Persönlichkeit groß und kultiviert genug, ihre Einfälle nicht für wichtiger zu halten als die unantastbare Eigengesetzlichkeit des Spieles, die Helfer und Mitspieler, die Elite, gehorchten wie gut gedrillte Soldaten, und doch schien jeder einzelne von ihnen, auch wenn er nur die Verneigungen mit ausführte oder den Vorhang um den meditierenden Meister bedienen half, sein eigenes, aus seiner eigenen Inspiration lebendes Spiel zu begehen. Aus der Menge aber, aus der großen, den Saal und ganz Waldzell überfüllenden Gemeinde, aus den tausend Seelen, welche auf des Meisters Spur den phantastisch-hieratischen Gang durch die unendlichen, vieldimensionalen Vorstellungsräume des Spieles schritten, kam der Feier der Grundakkord und tief bebende Glockenbaß, der für die kindlicheren Glieder der Gemeinde das beste und beinahe einzige Erlebnis beim Feste ist, der aber auch von den durchtriebenen Spielvirtuosen und Kritikern der Elite, von den Ministranten und Beamten bis hinauf zum Leiter und Meister mit ehrfürchtigem Schauer empfunden wird.
Es war eine hohe Feier, auch die Abgesandten von draußen spürten und bekundeten es, und mancher Neuling wurde in diesen Tagen auf immer für das Glasperlenspiel gewonnen. Merkwürdig aber klingen die Worte, in welche Josef Knecht nach Beendigung des zehntägigen Festes seinem Freunde Tegularius gegenüber sein Erlebnis zusammenfaßte. »Wir können zufrieden sein,« sagte er. »Ja, Kastalien und das Glasperlenspiel sind wunderbare Dinge, etwas nahezu Vollkommenes sind sie. Nur sind sie es vielleicht allzu sehr, sind allzu schön; sie sind so schön, daß man sie kaum betrachten kann, ohne für sie zu fürchten. Man denkt nicht gerne daran, daß sie wie alles einmal wieder vergehen sollen. Und doch muß man daran denken.«
Dieses uns überlieferte Wort nötigt den Biographen, sich dem heikelsten und geheimnisvollsten Teil seiner Aufgabe zu nähern, dem er wohl gerne noch sich eine Weile ferngehalten hätte, um erst mit der Ruhe und dem Behagen, welches klare und eindeutige Zustände ihrem Schilderer gönnen, seinen Bericht von Knechts Erfolgen, seiner vorbildlichen Amtsführung und glänzenden Lebenshöhe zu Ende zu führen. Allein es schiene uns verfehlt und unserem Gegenstande nicht angemessen, die Zweiheit oder Polarität in des verehrten Meisters Wesen und Leben nicht auch schon dort zu erkennen und aufzuzeigen, wo sie noch niemandem, Tegularius ausgenommen, sichtbar gewesen ist. Vielmehr wird es unsere Aufgabe sein, von jetzt an diese Spaltung oder besser diese unaufhörlich pulsierende Polarität in Knechts Seele recht als das Eigentliche und Kennzeichnende im Wesen des Verehrten anzunehmen und zu bejahen. Es wäre nämlich einem Autor, der die Lebensbeschreibung eines kastalischen Magisters ganz nur im Sinne eines Heiligenlebens ad maiorem gloriam Castaliae zu schreiben für erlaubt hielte, durchaus nicht schwer gemacht, den Bericht von Josef Knechts Magisterjahren, mit einziger Ausnahme ihrer letzten Augenblicke, ganz als eine glorifizierende Aufzählung von Verdiensten, Pflichterfüllungen und Erfolgen zu gestalten. Leben und Amtsführung jedes beliebigen Glasperlenspielmeisters, auch etwa jenen Magister Ludwig Wassermaler der spielfreudigsten Epoche Waldzells nicht ausgenommen, kann dem Blick des Historikers, der sich nur an die dokumentierten Tatsachen hält, nicht einwandfreier und lobenswerter erscheinen als Leben und Amtsführung des Magisters Knecht. Dennoch hat diese Amtsführung ein ganz ungewöhnliches und Aufsehen erregendes, ja für das Empfinden mancher Beurteiler skandalisierendes Ende genommen, und dieses Ende war nicht etwa ein Zufall oder Unglücksfall, sondern ergab sich völlig folgerichtig, und es gehört mit zu unserer Aufgabe, zu zeigen, daß es mit den glänzenden und rühmenswerten Leistungen und Erfolgen des Ehrwürdigen keineswegs im Widerspruch steht. Knecht ist ein großer und vorbildlicher Verwalter und Repräsentant seines hohen Amtes gewesen, ein Glasperlenspielmeister ohne Tadel. Aber er sah und fühlte den Glanz Kastaliens, dem er diente, als eine gefährdete und schwindende Größe, er lebte in ihm nicht ahnungslos und bedenkenlos mit wie die große Mehrzahl seiner Mitkastalier, sondern wußte um seine Herkunft und seine Geschichte, empfand ihn als ein geschichtliches Wesen, der Zeit unterworfen und von ihrer mitleidlosen Gewalt umspült und erschüttert. Dieses Erwachtsein zum lebendigen Gefühl geschichtlichen Ablaufes und dies Empfinden der eigenen Person und Tätigkeit als einer im Strom des Werdens und Sichwandelns mittreibenden und mittätigen Zelle waren in ihm reif geworden und zum Bewußtsein gelangt durch seine historischen Studien und unter dem Einfluß des großen Paters Jakobus, aber die Anlagen und Keime dazu waren längst vorher dagewesen, und wem wirklich die Persönlichkeit Josef Knechts lebendig geworden, wer wirklich der Eigenart und dem Sinn dieses Lebens auf der Spur ist, wird diese Anlagen und Keime leicht auffinden.