Knecht hätte seine Ernennung, diese letzte und höchste seiner Berufungen, recht wohl auch selbst erraten oder mindestens als möglich, vielleicht als wahrscheinlich erkennen können; doch überraschte, ja erschreckte sie ihn auch diesmal. Er hätte es sich denken können, sagte er sich nachträglich, und lächelte über den eifrigen Tegularius, der die Ernennung zwar auch nicht von Anfang an erwartet, doch immerhin mehrere Tage vor der Entscheidung und Bekanntgebung, errechnet und vorausgesagt hatte. Es sprach in der Tat nichts gegen eine Wahl Josefs in die oberste Behörde, außer etwa seine Jugend; die meisten seiner Kollegen hatten ihr hohes Amt im Alter von mindestens fünfundvierzig bis fünfzig Jahren angetreten, während Josef noch kaum vierzig war. Ein Gesetz jedoch, das eine so frühe Ernennung verboten hätte, existierte nicht.
Als nun Fritz seinen Freund mit dem Ergebnis seiner Beobachtungen und Kombinationen überraschte, Beobachtungen eines gewiegten Elitespielers, der den komplizierten Apparat des kleinen Waldzeller Gemeinwesens bis ins kleinste kannte, hatte Knecht sofort eingesehen, daß jener recht habe, hatte sofort seine Wahl, sein Schicksal begriffen und angenommen, seine erste Reaktion auf die Nachricht aber hatte darin bestanden, daß er der Freund wegwies mit den Worten, er wolle »von diesem Klatsch nichts wissen.« Kaum war nun der andre, betroffen und nahezu beleidigt, weggegangen, so suchte Josef eine Meditationsstätte auf, um sich zu ordnen, und seine Betrachtung ging von einem Erinnerungsbilde aus, das ihn in dieser Stunde mit ungewöhnlicher Stärke überfallen hatte. Er sah in dieser Vision eine kahle Kammer und ein Klavier darin stehen, durchs Fenster schien ein kühl-heiteres Vormittagslicht, und in der Kammertür erschien ein schöner freundlicher Mann, ein ältlicher Mann mit ergrautem Haar und einem lichten Gesicht voll Güte und voll Würde; er selbst aber, Josef, war ein kleiner Lateinschüler, der in der Kammer halb ängstlich, halb beglückt auf den Musikmeister gewartet hatte und ihn jetzt zum ersten Male sah, den Ehrwürdigen, den Meister aus der sagenhaften Provinz der Eliteschulen und der Magister, der gekommen war, um ihm zu zeigen, was Musik sei, der ihn alsdann Schritt für Schritt in seine Provinz, in sein Reich, in die Elite und in den Orden eingeführt und aufgenommen hatte und dessen Kollege und Bruder er nun geworden war, während der Alte seinen Zauberstab, oder sein Szepter, weggelegt und sich in einen freundlich schweigsamen, noch immer gütigen, noch immer ehrwürdigen, noch immer geheimnisvollen Greis verwandelt hatte, dessen Blick und Vorbild über Josefs Leben lag und der ihm immer um ein Menschenalter und einige Lebensstufen und um ein Unmeßbares an Würde und zugleich an Bescheidenheit, an Meisterschaft und an Geheimnis überlegen sein, ihn aber immer, sein Patron und Vorbild, sanft zur Nachfolge zwingen würde, wie ein auf- und untergehendes Gestirn seine Brüder nach sich zieht. Solange sich Knecht absichtslos dem Zustrom der inneren Bilder überließ, wie sie sich, den Träumen wesensverwandt, im Zustand der ersten Entspannung einfinden, waren es vor allem zwei Vorstellungen, die aus dem Geströme traten und länger verweilten, zwei Bilder oder Sinnbilder, zwei Gleichnisse. In dem einen folgte Knecht, ein Knabe, auf mancherlei Gängen dem vorangehenden Meister nach, welcher als Führer vor ihm schritt und mit jedem Male, wo er sich umwandte und sein Gesicht zeigte, älter, stiller und ehrwürdiger wurde, zusehends einem Idealbild zeitloser Weisheit und Würde sich annähernd, während er, Josef Knecht, hingegeben und gehorsam hinter dem Vorbilde her schritt, aber immer derselbe Knabe blieb, worüber er abwechselnd bald Beschämung, bald aber auch eine gewisse Freude, ja beinahe etwas wie trotzige Genugtuung empfand. Und das zweite Bild war dieses: die Szene im Klavierzimmer, das Hereintreten des Alten zu dem Knaben, wiederholte sich immerzu, unendliche Male, der Meister und der Knabe folgten einander, wie am Draht eines Mechanismus gezogen, so daß es bald nicht mehr zu erkennen war, wer komme und wer gehe, wer führe und wer folge, der Alte oder der Junge. Bald schien es der Junge zu sein, welcher dem Alter, der Autorität und Würde Ehre und Gehorsam erwies; bald war es anscheinend der Alte, welchen die ihm leicht voraneilende Figur der Jugend, des Anfangs, der Heiterkeit zur dienenden oder adorierenden Nachfolge verpflichtete. Und während er diesem unsinnig-sinnvollen Traum-Rundlauf zusah, war in seinem eigenen Gefühl der Träumende bald mit dem Alten, bald mit dem Knaben identisch, war bald Verehrer, bald Verehrter, bald Führer, bald Gehorchender, und im Verlaufe dieses schwebenden Wechsels kam ein Augenblick, da war er beide, war zugleich Meister und Schülerlein, ja er stand vielmehr über beiden, war der Veranstalter, Ersinner, Lenker und Zuschauer des Kreislaufs, des ergebnislos in der Runde spielenden Wettlaufes von alt und jung, den er mit wechselnden Empfindungen bald verlangsamte, bald zur höchsten Eile antrieb. Und aus diesem Stadium entwickelte sich eine neue Vorstellung, mehr schon Symbol als Traum, mehr schon Erkenntnis als Bild, nämlich die Vorstellung oder vielmehr Erkenntnis: dieser sinnvoll-sinnlose Rundlauf von Meister und Schüler, dieses Werben der Weisheit um die Jugend, der Jugend um die Weisheit, dieses endlose, beschwingte Spiel war das Symbol Kastaliens, ja war das Spiel des Lebens überhaupt, das in alt und jung, in Tag und Nacht, in Yang und Yin gespalten ohne Ende strömt. Von hier aus dann fand der Meditierende den Weg aus der Bilderwelt in die Ruhe und kehrte nach lange dauernder Versenkung gestärkt und heiter zurück.
Als einige Tage später die Ordensleitung ihn zu sich befahl, ging er getrost und nahm die brüderliche Begrüßung der Obersten durch Handschlag und angedeutete Umarmung gefaßt mit heiterem Ernst entgegen. Es wurde ihm seine Ernennung zum Glasperlenspielmeister mitgeteilt und er zur Investitur und Vereidigung auf den übernächsten Tag in die Festspielhalle befohlen, dieselbe Halle, in welcher vor kurzem noch der Stellvertreter des entschlafenen Meisters jene beklemmende Feier absolviert hatte wie ein goldgeschmücktes Opfertier. Der freigelassene Tag vor der Investitur war einem genauen und von rituellen Meditationen begleiteten Studium der Eidesformel und der »kleinen Magisterordnung« unter Anleitung und Aufsicht zweier Obern bestimmt, diesmal waren es der Ordenskanzler und der Magister Mathematicae, und in der mittäglichen Ruhepause dieses sehr anstrengenden Tages erinnerte Josef sich lebhaft seiner Aufnahme in den Orden und der vorangehenden Einführung durch den Musikmeister. Diesmal freilich führte der Aufnahmeritus ihn nicht, wie jährlich Hunderte, durch ein weites Tor in eine große Gemeinde ein, es ging durchs Nadelöhr in den höchsten und engsten Kreis, den der Meister. Dem Alt-Musikmeister gestand er später, es habe ihm an jenem Tage intensiver Selbstprüfung ein Gedanke Mühe gemacht, ein ganz lächerlicher kleiner Einfall; er habe sich nämlich vor dem Augenblick gefürchtet, wo ihm von einem der Meister bedeutet werden würde, wie ungewöhnlich jung er der höchsten Würde teilhaftig werde. Er habe ernstlich mit dieser Furcht, diesem kindisch eitlen Gedanken zu kämpfen gehabt, und mit der Lust, falls eine Anspielung auf sein Alter fallen sollte, zu erwidern:
»So laßt mich doch ruhig älter werden, ich habe ja nach dieser Erhöhung nie gestrebt.« Die weitere Selbstprüfung aber habe ihm gezeigt, daß ihm unbewußt der Gedanke an seine Ernennung und der Wunsch nach ihr doch nicht so ganz fern könne gelegen haben; er habe sich dies eingestanden, habe die Eitelkeit seines Gedankens erkannt und abgetan, und es sei in der Tat weder an jenem Tage noch jemals später von den Kollegen an sein Alter erinnert worden.
Desto eifriger allerdings wurde die Wahl des neuen Meisters unter denen besprochen und kritisiert, deren Mitstrebender Knecht bis dahin gewesen war. Er hatte keine ausgesprochenen Gegner, wohl aber Konkurrenten und unter ihnen einige, die ihm an Alter voraus waren, und in diesem Kreise war man durchaus nicht gesonnen, die Wahl anders zu billigen als nach einem Kampf und einer Bewährung, zumindest aber nach einer höchst genauen und kritischen Betrachtung. Beinahe in jedem Falle ist der Amtsantritt und die erste Amtszeit eines neuen Magisters ein Gang durchs Fegefeuer.
Die Investitur eines Meisters ist keine öffentliche Feier, außer der obersten Erziehungsbehörde und der Ordensleitung nimmt an ihr nur der ältere Teil der Schülerschaft, die Kandidaten und die Beamtenschaft jener Disziplin teil, welche einen neuen Magister bekommt. Bei der Feier im Festsaal hatte der Glasperlenspielmeister den Amtseid abzulegen, hatte ferner von der Behörde die Insignien seines Amtes, bestehend in einigen Schlüsseln und Siegeln, entgegenzunehmen und sich vom Sprecher der Ordensleitung mit dem Ornat bekleiden zu lassen, dem festlichen Überkleide, das der Magister bei den höchsten Feierlichkeiten, vor allem beim Zelebrieren des Jahresspiels, zu tragen hat. Einem solchen Akte fehlt zwar der Schwall und leichte Rausch öffentlicher Feste, er ist seiner Natur nach zeremoniell und eher nüchtern, dafür verleiht ihm schon allein die vollzählige Anwesenheit der beiden höchsten Behörden eine ungemeine Würde. Die kleine Republik der Glasperlenspieler erhält einen neuen Herrn, der ihr vorzustehen und sie in der Gesamtbehörde zu vertreten hat, das ist ein bedeutendes und seltenes Ereignis; mögen die Schüler und jüngeren Studenten seine Wichtigkeit noch nicht voll erfassen und in der Feier nur eine Zeremonie und Augenlust erleben, alle anderen Teilnehmer sind sich dieser Wichtigkeit bewußt und sind genügend mit ihrer Gemeinschaft verwachsen und ihr wesensähnlich, um den Vorgang wie einen Vorgang im eigenen Leibe und Leben zu empfinden. Dieses Mal war die Festfreude nicht nur vom Tode des vorigen Meisters und der Trauer um ihn beschattet, sondern auch von der bangen Stimmung dieses Jahresspiels und der Tragödie des Stellvertreters Bertram.
Die Einkleidung wurde vom Sprecher der Ordensleitung und dem obersten Spielarchivar vollzogen, gemeinsam hielten sie den Ornat hoch und legten ihn dem neuen Glasperlenspielmeister über die Schultern. Die kurze Festrede sprach der Magister Grammaticae, der Meister der klassischen Philologie in Keuperheim, ein von der Elite gestellter Vertreter Waldzells übergab die Schlüssel und Siegel, und bei der Orgel sah man den greisen Alt-Musikmeister in eigener Person stehen. Er war zur Investitur herbeigereist, um seinen Schützling einkleiden zu sehen und durch seine unvermutete Anwesenheit froh zu überraschen, vielleicht auch ihm den einen oder andern Rat zu geben. Am liebsten hätte der Alte die Festmusik mit eigenen Händen gespielt, doch durfte er sich eine solche Anstrengung nicht mehr zutrauen, er hatte also das Spielen dem Organisten des Spielerdorfes überlassen, stand aber hinter ihm und wendete ihm die Blätter um. Mit andächtigem Lächeln blickte er auf Josef, sah ihn den Ornat und die Schlüssel empfangen und hörte ihn erst die Eidesformel, dann die freie Anrede an seine künftigen Mitarbeiter, Beamten und Schüler sprechen. Nie war ihm dieser Knabe Josef so lieb und erfreulich gewesen wie heute, wo er schon beinahe aufgehört hatte, Josef zu sein, und begann, nur noch der Träger eines Ornats und Amtes, ein Stein in einer Krone, ein Pfeiler im Bau der Hierarchie zu sein. Er konnte aber seinen Knaben Josef nur wenige Augenblicke allein sprechen. Heiter lächelte er ihm zu und beeilte sich, ihm einzuschärfen: »Sieh, daß du die nächsten drei, vier Wochen gut überstehst, es wird viel von dir verlangt werden. Denke immer ans Ganze, und denke immer daran, daß ein Versäumnis im einzelnen jetzt nicht schwer wiegt. Du mußt dich ganz der Elite widmen, alles andre laß gar nicht in deinen Kopf hinein. Man wird dir zwei Leute schicken, die dir einhelfen sollen; der eine davon, der Yogamann Alexander, ist von mir instruiert, höre gut auf ihn, er versteht seine Sache. Was du brauchst, ist ein felsenfestes Vertrauen darauf, daß die Oberen recht daran taten, dich zu den Ihren zu holen; vertraue auf sie, vertraue auf die Leute, die man dir zur Hilfe schickt, vertraue blind auf deine eigene Kraft. Der Elite aber schenke ein fröhliches, immer waches Mißtrauen, sie erwartet nichts andres. Du wirst gewinnen, Josef, ich weiß es.«