Der Leser dieser biographischen Skizze wartet vielleicht auf Bericht über eine andere Seite von Knechts Klostererlebnis, über die religiöse. Wir wagen darüber nur behutsame Andeutungen. Daß Knecht in Mariafels eine innigere Begegnung mit der Religion, einem täglich praktizierten Christentum, gehabt habe, ist nicht nur wahrscheinlich, es geht auch aus mancher seiner späteren Äußerungen und Haltungen sogar deutlich hervor; doch müssen wir die Frage, ob und wieweit er dort etwa zum Christen geworden sei, unbeantwortet lassen, diese Bezirke sind unsrer Forschung nicht zugänglich. Er hatte über den in Kastalien gepflegten Respekt vor den Religionen hinaus eine gewisse Art der Ehrfurcht in sich, die wir wohl fromm nennen dürfen, und er war über die christliche Lehre und ihre klassischen Formen schon in den Schulen, und speziell beim Studium der kirchlichen Musik, recht gut unterrichtet worden, vor allem waren ihm das Sakrament der Messe und der Ritus des Hochamtes gut bekannt. Bei den Benediktinern hatte er nun, nicht ohne Erstaunen und Ehrfurcht, eine ihm bisher theoretisch und historisch bekannte Religion als eine noch lebende kennengelernt, er nahm an vielen Gottesdiensten teil, und seit er sich mit einigen der Schriften von Pater Jakobus vertraut gemacht und dessen Gespräche auf sich hatte wirken lassen, war ihm vollends das Phänomen dieses Christentums sichtbar geworden, das in den Jahrhunderten so viele Male unmodern und überholt, antiquiert und erstarrt geworden war und sich doch immer wieder auf seine Quellen besonnen und an ihnen erneuert hatte, das Moderne und Siegreiche von gestern wieder hinter sich zurücklassend. Er wehrte sich auch nicht ernstlich gegen den ihm in jenen Unterhaltungen je und je nahegelegten Gedanken, daß möglicherweise auch die kastalische Kultur nur eine verweltlichte und vergängliche Neben- und Spätform der christlich-abendländischen Kultur sei und von ihr einst wieder würde aufgesogen und zurückgenommen werden. Mochte dem so sein, sagte er einst dem Pater, so war doch ihm nun einmal sein Platz und sein Dienst innerhalb der kastalischen, nicht etwa der benediktinischen Ordnung angewiesen, hier hatte er mitzuarbeiten und sich zu bewähren, unbekümmert darum, ob die Ordnung, deren Glied er sei, Anspruch auf ewige oder auch nur lange Dauer habe; eine Konversion hätte er nur als eine nicht ganz würdige Form von Flucht betrachten können. So hatte auch jener verehrte Johann Albrecht Bengel zu seiner Zeit einer kleinen und vergänglichen Kirche gedient, ohne dabei etwas vom Dienst am Ewigen zu versäumen. Frömmigkeit, das heißt gläubiger Dienst und Treue bis zur Hingabe des Lebens, sei in jedem Bekenntnis und auf jeder Stufe möglich, und für die Aufrichtigkeit und den Wert jeder persönlichen Frömmigkeit sei dieser Dienst und diese Treue die einzige gültige Probe.
Als Knechts Aufenthalt bei den Patres etwa zwei Jahre gedauert hatte, erschien im Kloster einst ein Gast, der mit großer Sorgfalt von ihm entfernt gehalten wurde, sogar eine flüchtige Vorstellung wurde vermieden. Dadurch neugierig geworden, beobachtete er den Fremden, der übrigens nur einige Tage blieb, und kam auf allerlei Vermutungen. Das geistliche Kleid, das der Fremde trug, glaubte er als Verkleidung zu erkennen. Mit dem Abt und namentlich mit Pater Jakobus hatte der Unbekannte lange Sitzungen bei geschlossenen Türen, häufig empfing er Eilbotschaften und sandte solche weg. Knecht, der ja von den politischen Beziehungen und Traditionen des Klosters wenigstens gerüchtweise wußte, vermutete, der Gast sei ein hoher Staatsmann in geheimer Mission, oder ein inkognito reisender Fürst; und indem er seinen Beobachtungen nachsann, erinnerte er sich aus den vergangenen Monaten noch des einen und andern Gastes, der ihm jetzt im Nachhinein ebenfalls geheimnis- oder bedeutungsvoll erscheinen wollte. Dabei fiel ihm der Vorstand der »Polizei« ein, der freundliche Herr Dubois, und dessen Bitte, je und je ein Auge gerade auf solche Vorgänge im Kloster zu haben, und wenn er auch zu solchen Berichten noch immer keinerlei Lust noch Beruf spürte, schlug ihm doch das Gewissen darüber, daß er dem wohlwollenden Manne seit langem nicht geschrieben und ihn vermutlich recht eigentlich enttäuscht habe. Er schrieb ihm einen langen Brief, suchte sein Schweigen zu erklären und erzählte, um dem Brief doch einige Substanz zu geben, ein wenig von seinem Verkehr mit Pater Jakobus. Er ahnte nicht, wie sorgfältig und von wem alles sein Brief würde gelesen werden.
Knechts erster Aufenthalt im Kloster dauerte zwei Jahre; um die Zeit, von der hier die Rede ist, stand er im siebenunddreißigsten Lebensjahr. Am Ende dieses Gastaufenthaltes im Stift Mariafels, etwa zwei Monate nach dem Datum seines langen Briefes an den Vorstand Dubois, wurde er eines Morgens in das Sprechzimmer des Abtes gerufen. Er dachte, der leutselige Herr werde sich ein wenig über Chinesisches zu unterhalten Lust haben, und machte ungesäumt seine Aufwartung. Gervasius kam ihm mit einem Brief in der Hand entgegen. »Man beehrt mich mit einem Auftrag an Sie, Hochgeschätzter,« rief er in seiner behäbig gönnerhaften Art vergnügt und verfiel auch alsbald in den ironischen Neckton, wie er sich als Ausdruck des noch nicht ganz geklärten Freundschaftsverhältnisses zwischen dem geistlichen und dem kastalischen Orden herausgebildet hatte und der eigentlich eine Schöpfung des Paters Jakobus war. »Übrigens alle Achtung vor Ihrem Magister Ludi! Der kann Briefe schreiben! Mir hat er lateinisch geschrieben, der Herr, Gott weiß warum; bei euch Kastaliern weiß man ja, wenn ihr irgend etwas tut, niemals, ob ihr damit eine Höflichkeit oder eine Verspottung, eine Ehrung oder eine Belehrung beabsichtigt. Also mir hat dieser ehrwürdige Dominus lateinisch geschrieben, und zwar ein Latein, wie es zur Zeit in unsrem ganzen Orden niemand zustande brächte, höchstens den Pater Jakobus ausgenommen. Es ist ein Latein wie aus der unmittelbaren Schule Ciceros und doch mit einem wohlerwogenen kleinen Schuß Kirchenlatein parfümiert, von dem man natürlich auch wieder nicht weiß, ob er naiv als ein Köder für uns Pfaffen, oder ironisch gemeint, oder einfach nur aus einem unbezähmbaren Trieb zum Spielen, Stilisieren und Dekorieren entstanden ist. Also der Verehrungswürdige schreibt mir: man halte es dortseits für wünschenswert, Sie einmal wieder zu sehen und zu umarmen, auch festzustellen, inwieweit etwa der lange Aufenthalt unter uns Halbbarbaren moralisch und stilistisch korrumpierend auf Sie gewirkt habe. Kurz, sofern ich das umfangreiche literarische Kunstwerk richtig verstanden und gedeutet habe, wird Ihnen ein Urlaub bewilligt, und ich werde ersucht, meinen Gast für eine nicht befristete Weile nach Waldzell heimzusenden, nicht für immer jedoch, sondern es liege Ihre baldige Wiederkehr, sofern sie uns angenehm scheine, durchaus in der Absicht der dortigen Behörde. Nun, entschuldigen Sie, ich vermochte längst nicht alle Finessen des Schreibens würdig zu interpretieren, Magister Thomas hat das wohl auch gar nicht von mir erwartet. Das Briefchen hier soll ich Ihnen übergeben, und nun gehen Sie, und überlegen Sie sich, ob und wann Sie reisen wollen. Wir werden Sie vermissen, mein Lieber, und werden, falls Sie gar zu lange ausbleiben sollten, nicht verfehlen, Sie wieder bei Ihrer Behörde zu reklamieren.«
In dem Briefe, den er Knecht übergeben hatte, wurde diesem von der Behörde kurz mitgeteilt, es sei ihm zur Erholung sowohl wie zur Aussprache mit den Oberen ein Urlaub gewährt, und man erwarte ihn nächstens in Waldzell. Auf die Vollendung des laufenden Spielkurses für Anfänger möge er, falls nicht der Abt es ausdrücklich wünsche, keine Rücksicht nehmen. Der Alt-Musikmeister lasse ihn grüßen. Beim Lesen dieser Zeile stutzte Josef und wurde nachdenklich: wie kam der Verfasser des Briefes, der Magister Ludi, dazu, mit diesem Gruß beauftragt zu werden, der ohnehin in das amtliche Schreiben nicht recht passen wollte? Es mußte eine Konferenz der Gesamtbehörde, unter Beiziehung auch der Alt-Meister, stattgefunden haben. Nun, ihn gingen die Sitzungen und Entschlüsse der Erziehungsbehörde nichts an; aber wunderlich berührte ihn dieser Gruß, merkwürdig kollegial klang er ihm. Einerlei, welcher Frage jene Konferenz mochte gegolten haben, der Gruß bewies, daß die Obersten bei diesem Anlaß auch von Josef Knecht gesprochen hatten. Stand ihm Neues bevor? Sollte er abberufen werden? Und würde das eine Beförderung oder ein Rückschritt sein? Aber der Brief sprach nur von Urlaub. Ja, auf diesen Urlaub freute er sich aufrichtig, am liebsten wäre er schon morgen gereist. Aber mindestens mußte er sich doch von seinen Schülern verabschieden und ihnen Weisungen zurücklassen. Anton würde sehr betrübt sein über seine Abreise. Und einigen von den Patres war er auch einen persönlichen Abschiedsbesuch schuldig. Nun dachte er an Jakobus, und beinahe zu seiner Verwunderung spürte er einen zarten Schmerz im Innern, eine Bewegung, die ihm sagte, daß er mit seinem Herzen mehr an diesem Mariafels hange, als er gewußt hatte. Es fehlte ihm hier vieles, woran er gewöhnt und was ihm teuer war, und im Laufe der zwei Jahre war Kastalien in seiner Vorstellung durch die Entfernung und Entbehrung noch immer schöner geworden; in diesem Augenblick aber erkannte er deutlich: was er an Pater Jakobus besaß, war unersetzlich und würde ihm in Kastalien fehlen. Damit wurde ihm auch klarer als bisher bewußt, was er hier erlebt und gelernt habe, und es überkam ihn eine Freude und Zuversicht im Gedanken an die Reise nach Waldzell, das Wiedersehen, das Glasperlenspiel, die Ferien, und die Freude wäre geringer gewesen ohne die Gewißheit der Rückkehr.
In plötzlichem Entschluß suchte er den Pater auf, erzählte ihm von seiner Abberufung in einen Urlaub, und wie es ihn selbst überrascht habe, hinter seiner Freude auf die Heimkehr und das Wiedersehen auch schon wieder eine Freude auf die Rückkehr vorzufinden, und da diese Freude vor allem ihm, dem verehrten Pater, gelte, habe er sich ein Herz gefaßt und wage es, ihm eine große Bitte vorzutragen, er möge ihn nämlich nach seiner Wiederkehr ein wenig in die Schule nehmen, wenn auch nur für eine Stunde oder zwei in der Woche. Jakobus lachte abwehrend und formulierte wieder einmal die schönsten spöttischen Komplimente auf die unübertrefflich vielseitige kastalische Bildung, vor welcher ein simpler Klosterbruder wie er nur in stummer Bewunderung verharren und vor Erstaunen den Kopf schütteln könne; aber Josef hatte schon gemerkt, daß die Abwehr nicht ernst gemeint sei, und als er die Hand zum Abschied gab, sagte der Pater ihm freundlich, daß er sich seiner Bitte wegen keine Sorge machen möge, er werde gern das ihm irgend mögliche tun, und nahm den herzlichsten Abschied von ihm.
Freudig zog er nun heimwärts in die Ferien, im Herzen dessen gewiß, daß seine Klosterzeit nicht nutzlos gewesen sei. Bei der Abreise kam er sich wie ein Knabe vor, um freilich bald zu merken, daß er kein Knabe und auch kein Jüngling mehr sei; er merkte es an einem Gefühl von Beschämung und innerem Widerstand, das sich in ihm einstellte, sobald er mit irgendeiner Gebärde, einem Ruf, einer kleinen Kinderei auf die Stimmung von Losgebundenheit und ferienhaftem Schulknabenglück antworten wollte. Nein, was einst selbstverständlich und erlösend gewesen wäre, ein Jubelschrei zu den Vögeln im Baum hinauf, ein laut angestimmtes Marschlied, ein schwebend rhythmisches Dahintanzen – es ging nicht mehr, es wäre steif und gespielt herausgekommen, es wäre dumm und kindisch gewesen. Er spürte, daß er ein Mann sei, jung im Gefühl und jung an Kraft, aber in der Hingabe an den Augenblick und die Stimmung nicht mehr geübt, nicht mehr frei, wach gehalten, angebunden und verpflichtet – wodurch? Durch ein Amt? Durch die Aufgabe, bei den Klosterleuten sein Land und seinen Orden zu vertreten? Nein, es war der Orden selbst, es war die Hierarchie, in die er sich bei dieser plötzlichen Selbstbetrachtung unbegreiflich hineingewachsen und eingebaut fand, es war die Verantwortung, das Umfangensein vom Allgemeinen und Höheren, das manchen Jungen alt und manchen Alten jung konnte erscheinen lassen, das einen festhielt, das einen stützte und zugleich der Freiheit beraubte wie der Pfahl, an den ein junger Baum gebunden wird, das einem die Unschuld nahm, während es doch gerade eine immer klarere Reinheit von einem forderte.