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»Ach, wenn man doch wissend werden könnte!« rief Knecht. »Wenn es doch eine Lehre gäbe, etwas, woran man glauben kann! Alles widerspricht einander, alles läuft aneinander vorbei, nirgends ist Gewißheit. Alles läßt sich so deuten und läßt sich auch wieder umgekehrt deuten. Man kann die ganze Weltgeschichte als Entwicklung und Fortschritt auslegen, und kann ebensowohl nichts als Verfall und Unsinn in ihr sehen. Gibt es denn keine Wahrheit? Gibt es keine echte und gültige Lehre?«

Der Meister hatte ihn noch nie so heftig reden hören. Er ging eine Strecke weiter, dann sagte er: »Es gibt die Wahrheit, mein Lieber! Aber die »Lehre,« die du begehrst, die absolute, vollkommen und allein weise machende, die gibt es nicht. Du sollst dich auch gar nicht nach einer vollkommenen Lehre sehnen, Freund, sondern nach Vervollkommung deiner selbst. Die Gottheit ist in dir, nicht in den Begriffen und Büchern. Die Wahrheit wird gelebt, nicht doziert. Mache dich auf Kämpfe gefaßt, Josef Knecht, ich sehe wohl, sie haben schon begonnen.«

In diesen Tagen sah Josef den geliebten Magister zum erstenmal in seinem Alltag und seiner Arbeit und bewunderte ihn sehr, obwohl er nur einen kleinen Teil seiner täglichen Leistung sehen konnte. Am meisten aber gewann ihn der Meister dadurch, daß er sich seiner so annahm, daß er ihn zu sich eingeladen hatte, daß inmitten seiner Arbeit der überbürdete und oft so müde aussehende Mann noch Stunden für ihn aussparte, und nicht nur die Stunden! Wenn ihm diese Einführung in die Meditation so tiefen und nachhaltigen Eindruck machte, so tat sie es, wie er später beurteilen lernte, nicht durch eine besonders feine oder eigenartige Technik, sondern nur durch die Person, durch das Beispiel des Meisters. Seine späteren Lehrer, bei welchen er im folgenden Jahr in der Meditation unterrichtet wurde, gaben mehr Anweisungen, genauere Lehren, kontrollierten schärfer, stellten mehr Fragen, wußten mehr zu korrigieren. Der Musikmeister, seiner Macht über diesen Jüngling sicher, sprach und lehrte beinahe gar nichts, er gab eigentlich nur die Themen an und ging mit seinem Beispiel voran. Knecht beobachtete, wie sein Meister oft so alt und mitgenommen aussah, wie er dann, mit halbgeschlossenen Augen, in sich versank, danach wieder so still, so kräftig, heiter und freundlich zu blicken vermochte – nichts hätte ihn inniger vom Weg zu den Quellen, vom Weg aus der Unruhe in die Ruhe überzeugen können. Was der Meister etwa darüber in Worten zu sagen hatte, davon erfuhr Knecht beiläufig dieses und jenes auf einem kurzen Spaziergang oder bei einer Mahlzeit.

Wir wissen, daß Knecht vom Magister damals auch einige erste Andeutungen und Wegleitungen für das Glasperlenspiel empfing, doch sind keine Worte überliefert. Eindruck machte es ihm, daß sein Wirt sich manche Mühe um Josefs Begleiter gab, damit er nicht zu sehr die Empfindung habe, nur Anhängsel zu sein. An alles schien dieser Mann zu denken.

Der kurze Aufenthalt in Monteport, die drei Meditationsstunden, das Zuschauen beim Dirigentenkurs, die paar Gespräche mit dem Meister bedeuteten viel für Knecht; mit Sicherheit hatte jener den wirksamsten Zeitpunkt für sein kurzes Eingreifen gewählt. Seine Einladung hatte hauptsächlich den Zweck gehabt, dem Jüngling die Meditation ans Herz zu legen, aber nicht weniger wichtig war diese Einladung an sich selbst, als Auszeichnung, als Zeichen dafür, daß man auf ihn achte und etwas von ihm erwarte: es war der zweite Grad der Berufung. Man hatte ihm Einblick in die innern Bezirke gegönnt; wenn einer der zwölf Meister einen Schüler dieser Stufe so nahe zu sich heranrief, so bedeutete das nicht nur ein persönliches Wohlwollen. Was ein Meister tat, war immer mehr als persönlich.

Beim Abschied bekamen beide Schüler kleine Geschenke, Josef ein Heft mit zwei Bachschen Choralvorspielen, der Kamerad eine zierliche Taschenausgabe des Horaz. Zu Knecht sagte der Meister, als er ihn entließ: »Du wirst in einigen Tagen erfahren, welcher Schule du zugeteilt bist. Ich werde dorthin weniger häufig kommen als nach Eschholz, aber wir werden uns auch dort wohl wiedersehen, wenn ich gesund bleibe. Wenn du Lust dazu hast, kannst du mir einmal im Jahr einen Brief schreiben, besonders über den Verlauf deiner musikalischen Studien. Kritik an deinen Lehrern soll dir nicht verboten sein, doch lege ich auf sie weniger Wert. Es wartet vieles auf dich, ich hoffe, daß du dich bewährst. Unser Kastalien soll nicht bloß eine Auslese sein, es soll vor allem eine Hierarchie sein, ein Bau, in dem jeder Stein seinen Sinn nur vom Ganzen bekommt. Aus diesem Ganzen heraus führt kein Weg, und wer höher steigt und größere Aufgaben bekommt, wird nicht freier, er wird nur immer verantwortlicher. Auf Wiedersehen, junger Freund, es war mir eine Freude, dich hier zu haben.«

Die beiden wanderten zurück, beide waren unterwegs heiterer und gesprächiger als auf dem Herwege, die paar Tage mit anderer Luft und anderen Bildern, die Berührung mit einem anderen Lebenskreise hatten sie aufgelockert, von Eschholz und von der dortigen Abschiedsstimmung freier gemacht und doppelt begierig auf den Wechsel und die Zukunft. Bei mancher Rast im Walde oder über einer der steilen Schluchten der Gegend von Monteport holten sie ihre hölzernen Flöten aus der Tasche und spielten zweistimmig ein paar Lieder. Und als sie jene Höhe über Eschholz mit der Aussicht auf Anstalt und Bäume wieder erreicht hatten, da schien ihnen beiden ihr Gespräch, das sie geführt, schon weit in der Vergangenheit zu liegen, die Dinge hatten alle einen neuen Aspekt gewonnen; sie sagten kein Wort, sie schämten sich ein wenig der Gefühle und Worte von damals, die so rasch überholt und inhaltlos geworden waren.

In Eschholz erfuhren sie schon am nächsten Tage ihre Bestimmung. Knecht war für Waldzell bestimmt.

Waldzell

»Waldzell aber bringt das kunstreiche Völkchen der Glasperlenspieler hervor,« heißt der alte Spruch über diese berühmte Schule. Unter den kastalischen Schulen der zweiten und dritten Stufe war es die am meisten musische, das heißt wenn an andren Schulen ganz ausgesprochen eine bestimmte Wissenschaft dominierte, wie etwa in Keuperheim die Altphilologie, in Porta die aristotelische und scholastische Denklehre, in Planvaste die Mathematik, so wurde umgekehrt in Waldzell traditionell eine Tendenz zur Universalität und zur Verschwisterung zwischen Wissenschaft und Künsten gepflegt, und oberstes Sinnbild dieser Tendenzen war das Glasperlenspiel. Dieses wurde zwar auch hier, wie in allen Schulen, keineswegs offiziell und als obligatorisches Fach gelehrt; dafür aber galten ihm die privaten Studien der Waldzeller Schüler fast ausschließlich, und dann war das Städtchen Waldzell ja auch der Sitz des offiziellen Glasperlenspiels und seiner Einrichtungen: hier war die berühmte Spielhalle für die feierlichen Spiele, hier das riesige Spielarchiv mit seinen Beamten und Bibliotheken, hier der Sitz des Ludi Magister. Und wenn auch diese Anstalten völlig für sich bestanden und die Schule ihnen in keiner Weise angegliedert war, so herrschte hier eben doch der Geist dieser Anstalten und hing etwas von der Weihe der großen öffentlichen Spiele in der Luft des Ortes. Das Städtchen selbst war sehr stolz darauf, nicht nur eine Schule, sondern auch das Spiel zu beherbergen; bei der Bevölkerung hießen die Schüler »Studenten,« die Studierenden und Gäste der Spielschule aber »Luser,« verdorben aus Lusores. Übrigens war die Waldzeller Schule die kleinste von allen kastalischen Schulen, die Schülerzahl war kaum jemals höher als etwa sechzig, und gewiß gab ihr auch dieser Umstand etwas Besonderes und Aristokratisches, ließ sie als etwas Ausgezeichnetes, als eine engste Elite innerhalb der Elite erscheinen; es waren denn auch aus dieser ehrwürdigen Schule in den letzten Jahrzehnten viele Magister und sämtliche Glasperlenspielmeister hervorgegangen. Allerdings war dieser glänzende Ruf von Waldzell keineswegs unumstritten: da und dort war man auch der Meinung, die Waldzeller seien eingebildete Schöngeister und verwöhnte Prinzen, und außer zum Glasperlenspiel zu nichts zu brauchen; zuzeiten waren an mehreren andern Schulen über die Waldzeller recht böse und bittere Worte in Mode, aber eben die Schärfe dieser Witze und Kritiken zeigt ja an, daß Gründe zu Eifersucht und Neid vorhanden waren. Alles in allem bedeutete die Versetzung nach Waldzell eine gewisse Auszeichnung; auch Josef Knecht wußte das, und obwohl er nicht ehrgeizig im vulgären Sinn war, nahm er die Auszeichnung doch mit einem freudigen Stolz entgegen.

Mit mehreren Kameraden zusammen kam er in Waldzell als Fußwanderer an; voll hoher Erwartung und Bereitschaft schritt er durch das Südtor und war sofort gewonnen und bezaubert von dem uralten braunen Städtchen und dem gewaltig ausgedehnten einstigen Zisterzienserkloster, welches die Schule beherbergte. Noch ehe er neu eingekleidet war, sofort nach dem Empfangsimbiß in der Pförtnerhalle der Schule, machte er sich allein auf den Weg, um seine neue Heimat zu entdecken, fand den Fußpfad, der auf den Resten der einstigen Stadtmauer über dem Flusse hinführt, blieb auf der gewölbten Brücke stehen und horchte auf das Rauschen des Mühlwehrs, ging am Friedhof vorbei die Lindenallee hinab, sah und erkannte hinter den hohen Hecken den Vicus Lusorum, die kleine Extrastadt der Glasperlenspieler: Festhalle, Archiv, Lehrsäle, Gäste- und Lehrerhäuser. Aus einem dieser Häuser sah er einen Mann kommen, in der Tracht der Glasperlenspieler, und dachte bei sich, daß dies nun einer der sagenhaften Lusores sei, möglicherweise der Magister Ludi selbst. Mächtig spürte er den Zauber dieser Atmosphäre, alles schien hier alt, ehrwürdig, geheiligt, von Tradition beladen, man war hier dem Zentrum um ein Stück näher als in Eschholz. Und aus dem Bezirk des Glasperlenspiels zurückkehrend, spürte er nun auch noch andere Zauber, minder ehrwürdige vielleicht, doch nicht minder erregende. Es war die kleine Stadt, das Stückchen profaner Welt mit Wandel und Handel, mit Hunden und Kindern, mit Gerüchen nach Kaufläden und Handwerken, mit bärtigen Bürgern und dicken Frauen hinter den Ladentüren, spielenden und johlenden Kindern, spöttisch blickenden Mädchen. Vieles erinnerte ihn an ferne Vorwelten, an Berolfingen, er hatte geglaubt, das alles ganz vergessen zu haben. Nun gaben tiefe Schichten seiner Seele Antwort auf dies alles, auf die Bilder, auf die Laute, die Gerüche. Eine weniger stille, aber buntere und reichere Welt schien hier auf ihn zu warten, als die von Eschholz gewesen war.

Die Schule freilich war vorerst die genaue Fortsetzung der vorigen, wenn auch einige neue Fächer hinzukamen. Wirklich neu war hier nichts als die Meditationsübungen, und auch von diesen hatte ihm ja der Musikmeister schon einen Vorgeschmack gegeben. Er ging auf das Meditieren willig ein, ohne vorerst mehr als ein angenehm entspannendes Spiel darin zu sehen. Erst etwas später – wir werden dessen gedenken – sollte er seinen eigentlichen und hohen Wert erlebend erkennen. Schulvorstand von Waldzell war ein origineller und etwas gefürchteter Mann, Otto Zbinden, damals schon gegen sechzig Jahre alt; von seiner schönen und leidenschaftlichen Handschrift sind manche der Eintragungen über den Schüler Josef Knecht, die wir eingesehen haben. Doch waren es weniger die Lehrer als die Mitschüler, welche zunächst des Jünglings Neugierde erweckten. Er hat namentlich mit zweien von ihnen einen lebhaften und mannigfach bezeugten Verkehr und Austausch gehabt. Der eine, dem er sich schon gleich in den ersten Monaten anschloß, Carlo Ferromonte (er brachte es später, als Stellvertreter des Musikmeisters, zum zweithöchsten Rang in der Behörde), war mit Knecht gleichaltrig; wir verdanken ihm unter andrem eine Stilgeschichte der Lautenmusik im sechzehnten Jahrhundert. In der Schule nannte man ihn den »Reisesser« und schätzte ihn als angenehmen Spielkameraden; seine Freundschaft mit Josef begann mit Gesprächen über Musik und führte zu mehrjährigen gemeinsamen Studien und Übungen, über welche wir zum Teil durch Knechts seltene, aber inhaltsreiche Briefe an den Musikmeister unterrichtet sind. Knecht nennt Ferromonte im ersten dieser Briefe einen »Spezialisten und Kenner in der Musik der reichen Ornamentik, der Verzierungen, Triller etc.,« er spielte Couperin, Purcell und andre Meister der Zeit um 1700 mit ihm. In einem dieser Briefe spricht Knecht eingehend über diese Übungen und diese Musik, »wo in manchen Stücken fast über jeder Note eine Verzierung steht.« »Wenn man so ein paar Stunden lang,« fährt er fort, »nichts als Doppelschläge, Pralltriller und Mordente geschlagen hat, so sind die Finger wie mit Elektrizität geladen.«

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