Eine große Freude war für ihn jedes Wiedersehen mit dem Musikmeister. Der kam mindestens alle zwei bis drei Monate einmal nach Eschholz, besuchte und inspizierte die Musikstunden, war auch mit einem der dortigen Lehrer befreundet, dessen Gast er nicht selten für einige Tage war. Einmal leitete er persönlich die letzten Proben zur Aufführung einer Vesper von Monteverdi. Vor allem aber behielt er die Begabteren unter den Musikschülern im Auge, und Knecht gehörte zu denen, die er seiner väterlichen Freundschaft würdigte. Je und je saß er mit ihm eine Stunde in einer der Übungskammern am Klavier und nahm Werke seiner Lieblingsmusiker mit ihm durch oder ein Musterbeispiel aus den alten Kompositionslehren. »Mit dem Musikmeister einen Kanon zu bauen oder ihn einen schlechtgebauten ad absurdum führen zu hören, hatte oft eine Feierlichkeit oder auch eine Munterkeit wie nichts andres, manchmal konnte man kaum die Tränen zurückhalten, und manchmal kam man nicht aus dem Lachen heraus. Aus einer privaten Musikstunde bei ihm kam man wie aus einem Bad und einer Massage.«
Als Knechts Eschholzer Schülerzeit sich ihrem Ende näherte – er sollte zusammen mit etwa einem Dutzend andrer Schüler seiner Stufe in eine Schule der nächsten Stufe aufgenommen werden – hielt diesen Kandidaten einst der Rektor die übliche Rede, in welcher er den Promovierten nochmals den Sinn und die Gesetze der kastalischen Schulen vor Augen stellte und ihnen gewissermaßen im Namen des Ordens den Weg vorzeichnete, an dessen Ende sie das Recht haben würden, selbst in den Orden einzutreten. Diese solenne Rede gehört zum Programm eines Festtages, den die Schule ihren Promovierten gibt und an welchem diese von Lehrern und Mitschülern wie Gäste behandelt werden. Stets finden an diesen Tagen sorgfältig vorbereitete Aufführungen statt – diesmal war es eine große Kantate aus dem siebzehnten Jahrhundert – und der Musikmeister war selber gekommen, sie anzuhören. Nach des Rektors Rede, auf dem Wege zum geschmückten Speisesaal, näherte sich Knecht dem Meister mit einer Frage: »Der Rektor,« sagte er, »hat uns davon erzählt, wie es außerhalb von Kastalien, in den gewöhnlichen Schulen und Hochschulen, zugeht. Er hat gesagt, daß die dortigen Schüler sich auf ihren Universitäten den »freien« Berufen zuwenden. Es sind das, wenn ich ihn richtig verstanden habe, zum größern Teil Berufe, welche wir hier in Kastalien gar nicht kennen. Wie soll ich das nun verstehen? Warum nennt man jene Berufe »frei'? Und warum sollen gerade wir Kastalier von ihnen ausgeschlossen sein?«
Der Magister Musicae zog den Jüngling beiseite und blieb unter einem der Mammutbäume stehen. Ein beinahe listiges Lächeln zog die Haut um seine Augen in Fältchen, als er ihm Antwort gab: »Du trägst den Namen Knecht, mein Lieber, vielleicht hat darum das Wort »frei« so viel Zauber für dich. Nimm es aber nicht zu ernst in diesem Fall! Wenn die Nichtkastalier von freien Berufen sprechen, so wird das Wort vielleicht sehr ernsthaft und sogar pathetisch klingen. Von uns aber wird es ironisch gemeint. Eine Freiheit jener Berufe zwar besteht insofern, als der Lernende sich den Beruf selbst erwählt. Das gibt einen Anschein von Freiheit, obwohl in den meisten Fällen die Wahl weniger vom Schüler als von dessen Familie getroffen wird und mancher Vater sich lieber die Zunge abbisse, als seinem Sohn diese freie Wahl wirklich überließe. Aber vielleicht ist das Verleumdung; schalten wir diesen Einwand aus! Die Freiheit also sei da, aber sie beschränkt sich auf den einen, einzigen Akt der Berufswahl. Nachher ist es mit der Freiheit zu Ende. Schon bei den Studien an der Hochschule ist der Arzt, der Jurist, der Techniker in einen sehr starren Lehrgang gezwängt, der mit einer Reihe von Prüfungen endet. Hat er sie bestanden, dann bekommt er sein Patent und kann nun, wieder in scheinbarer Freiheit, seinem Beruf nachgehen. Er wird damit aber ein Sklave niedriger Mächte, er hängt vom Erfolg, vom Geld, von seinem Ehrgeiz, seiner Ruhmsucht, vom Gefallen ab, das die Menschen an ihm finden oder nicht finden. Er muß sich Wahlen unterziehen, er muß Geld verdienen, er nimmt teil am rücksichtslosen Wettkampf der Kasten, der Familien, der Parteien, der Zeitungen. Dafür hat er die Freiheit, erfolgreich und wohlhabend zu werden und von den Erfolglosen gehaßt zu werden oder umgekehrt. Mit dem Eliteschüler und spätem Mitglied des Ordens steht es in jeder Hinsicht umgekehrt. Er »wählt« sich keinen Beruf. Er glaubt nicht, seine Talente besser beurteilen zu können als die Lehrer. Er läßt sich innerhalb der Hierarchie immer an den Ort stellen und zu der Funktion bestimmen, welche die Oberen für ihn wählen – sofern nämlich die Sache nicht etwa umgekehrt läuft und die Eigenschaften, Gaben und Fehler des Schülers es sind, welche die Lehrer zwingen, ihn hierhin oder dorthin zu stellen. Inmitten dieser scheinbaren Unfreiheit nun genießt jeder Electus nach seinen ersten Kursen die denkbar größte Freiheit. Während der Mann der »freien« Berufe sich zur Ausbildung in seinem Fach einem engen und starren Lehrgang mit starren Prüfungen unterziehen muß, geht beim Electus, sobald er selbständig zu studieren beginnt, die Freiheit so weit, daß es viele gibt, welche ihr Leben lang nach eigener Wahl die entlegensten und oft fast närrischen Studien betreiben, und niemand stört sie darin, solange nur nicht ihre Sitten entarten. Der zum Lehrer Geeignete wird als Lehrer verwendet, der zum Erzieher Geeignete als Erzieher, der zum Übersetzer Geeignete als Übersetzer, jeder findet wie von selbst den Ort, an welchem er dienen und im Dienen frei sein kann. Und nun ist er außerdem für sein ganzes Leben jener »Freiheit« des Berufes entzogen, die so furchtbare Sklaverei bedeutet. Er weiß nichts vom Streben nach Geld, nach Ruhm, nach Rang, er kennt keine Parteien, keinen Zwiespalt zwischen Person und Amt, zwischen Privat und öffentlich, keine Abhängigkeit vom Erfolg. Du siehst wohl, mein Sohn: wenn man von freien Berufen spricht, so ist das »frei« ziemlich spaßhaft gemeint.«
Der Abschied von Eschholz bedeutete in Knechts Leben einen deutlichen Einschnitt. Hatte er bisher in einer glücklichen Kindheit, in einer willigen und beinahe problemlosen Einordnung und Harmonie gelebt, so begann jetzt eine Periode des Kampfes, der Entwicklungen und der Problematik. Er war etwa siebzehn Jahre alt, als ihm seine baldige Versetzung in eine höhere Schulstufe angekündigt wurde, ihm und einer Reihe von Kommilitonen, und jetzt gab es auf eine kurze Weile keine wichtigere und mehr diskutierte Frage für die Ausgewählten als die nach dem Ort, an den jeder von ihnen verpflanzt werden würde. Er wurde einem jeden der Tradition gemäß erst in den letzten Tagen vor der Abreise mitgeteilt, und in der Frist zwischen Entlassungsfest und Abreise waren Ferien. In diese Ferien nun fiel für Knecht ein schönes und bedeutendes Ereignis: der Musikmeister lud ihn ein, ihn auf einer Fußreise zu besuchen und einige Tage sein Gast zu sein. Das war eine große und seltene Ehre. Mit einem ebenfalls promovierten Kameraden – denn Knecht gehörte noch zu Eschholz, und den Schülern dieser Stufe war Alleinreisen nicht erlaubt – wanderte er eines frühen Morgens dem Wald und den Bergen entgegen, und als die beiden nach drei Stunden des Steigens im Waldschatten auf eine freie Kuppe gelangten, sahen sie unter sich schon klein und leicht überblickbar ihr Eschholz liegen, weithin kenntlich an der dunklen Masse der fünf Riesenbäume, am rasendurchzogenen Rechteck mit den spiegelnden Weihern, mit dem hohen Schulhaus, der Ökonomie, dem Dörfchen, dem berühmten Eschengehölz. Die beiden Jünglinge standen und blickten hinab; mancher von uns hat diesen lieblichen Blick in Erinnerung, er war damals nicht sehr vom heutigen verschieden, denn die Gebäude sind nach dem großen Brande beinahe unverändert wieder errichtet worden, und von den hohen Bäumen haben drei den Brand überlebt. Da sahen sie ihre Schule liegen, ihre Heimat seit Jahren, von der sie nun bald Abschied nehmen sollten, und beide fühlten sich von dem Anblick im Herzen ergriffen.
»Ich glaube, ich habe noch nie richtig gesehen, wie schön es ist,« sagte Josefs Begleiter. »Ach ja, es mag davon kommen, daß ich es zum erstenmal als etwas sehe, was ich verlassen und wovon ich Abschied nehmen muß.«
»Das ist es,« sagte Knecht, »du hast recht, es geht auch mir so. Aber wenn wir auch von hier fortgehen werden, eigentlich und richtig verlassen wir Eschholz ja doch nicht. Richtig verlassen haben es nur jene, die für immer fortgegangen sind, jener Otto zum Beispiel, der so wunderbare lateinische Juxverse machen konnte, oder unser Charlemagne, der so lang unter Wasser hat schwimmen können, und die anderen. Die haben wirklich Abschied genommen und sich losgelöst. Ich habe lange nicht mehr an sie gedacht, jetzt fallen sie mir wieder ein. Lache mich nur aus, aber diese Abgefallenen haben trotz allem für mich etwas Imponierendes, so wie der abtrünnige Engel Luzifer etwas Großes hat. Sie haben vielleicht das Falsche getan, vielmehr, sie haben ganz ohne Zweifel das Falsche getan, aber immerhin: sie haben etwas getan, sie haben etwas vollzogen, sie haben einen Sprung gewagt, es gehörte Mut dazu. Wir andern, wir haben Fleiß und Geduld gehabt, und Vernunft, aber getan haben wir nichts, gesprungen sind wir nicht!«
»Ich weiß nicht,« meinte der andre, »manche von ihnen haben weder etwas getan noch gewagt, sondern sie haben einfach gebummelt, bis man sie fortgeschickt hat. Aber vielleicht verstehe ich dich nicht ganz. Was meinst du denn mit dem Springen?«
»Damit meine ich das Loslassenkönnen, das Ernstmachen, nun eben – das Springen! Ich wünsche mir nicht, in meine frühere Heimat und in mein früheres Leben zurückzuspringen, sie zieht mich nicht, ich habe sie beinah vergessen. Aber ich wünsche mir: einmal, wenn die Stunde kommt und es notwendig sein wird, mich auch losmachen und springen zu können, bloß nicht zurück ins Geringere, sondern vorwärts und ins Höhere.«
»Nun, dem gehen wir ja entgegen. Eschholz war eine Stufe, die nächste wird höher sein, und schließlich erwartet uns der Orden.«
»Ja, aber das meinte ich nicht. Wir wollen weiterziehen, amice, das Wandern ist so schön, es wird mich wieder froh machen. Wir sind ja ganz trübsinnig geworden.«
In dieser Stimmung und diesen Worten, die jener Kamerad uns überliefert hat, meldet sich die stürmische Epoche von Knechts Jugendzeit schon an.
Zwei Tage waren die Wanderer unterwegs, bis sie am damaligen Wohnort des Musikmeisters anlangten, dem hochgelegenen Monteport, wo der Meister im ehemaligen Kloster gerade einen Kurs für Dirigenten abhielt. Der Kamerad wurde im Gästehaus untergebracht, während Knecht eine kleine Zelle in der Wohnung des Magisters bekam. Er hatte dort kaum seinen Rucksack ausgepackt und sich gewaschen, da kam schon sein Wirt herein. Der ehrwürdige Mann gab dem Jüngling die Hand, setzte sich mit einem kleinen Seufzer auf einen Stuhl nieder, schloß für ein paar Augenblicke die Augen, wie er es tat, wenn er sehr müde war, dann sagte er freundlich aufblickend: