Der Lokalmatador blieb alleine zurück. Er stellte den umgestoßenen König wieder aufrecht hin und begann, die Figuren in ein Schächtelchen zu sammeln, erst die geschlagenen, dann die auf dem Brett verbliebenen. Während er das tat, ging er, wie es seine Gewohnheit war, die einzelnen Züge und Stellungen der Partie noch einmal in Gedanken durch. Er hatte nicht einen einzigen Fehler gemacht, natürlich nicht. Und dennoch schien ihm, als habe er so schlecht gespielt wie nie in seinem Leben. Nach Lage der Dinge hätte er seinen Gegner schon in der Eröffnungsphase matt setzen müssen. Wer einen so miserablen Zug wie jenes Damengambit zuwege brachte, wies sich als Ignorant des Schachspiels aus. Solche Anfänger pflegte Jean je nach Laune gnädig oder ungnädig, jedenfalls aber zügig und ohne Selbstzweifel abzufertigen. Diesmal aber hatte ihn offenbar die Witterung für die wahre Schwäche seines Gegners verlassen – oder war er einfach feige gewesen? Hatte er sich nicht getraut, mit dem arroganten Scharlatan, wie er es verdiente, kurzen Prozeß zu machen?
Nein, es war schlimmer. Er hatte sich nicht vorstellen wollen , daß der Gegner so erbärmlich schlecht sei. Und noch schlimmer: Fast bis zum Ende des Kampfes hatte er glauben wollen, daß er dem Unbekannten nicht einmal ebenbürtig sei. Unüberwindlich wollten ihm dessen Selbstsicherheit, Genialität und jugendlicher Nimbus scheinen. Deshalb hatte er so über die Maßen vorsichtig gespielt. Und nicht genug: Wenn Jean ganz ehrlich war, so mußte er sich sogar eingestehen, daß er den Fremden bewundert hatte, nicht anders als die andern, ja daß er sich gewünscht hatte, jener möge siegen und ihm, Jean, auf möglichst eindrucksvolle und geniale Weise die Niederlage, auf die zu warten er seit Jahren müde wurde, endlich beibringen, damit er endlich befreit wäre von der Last, der Größte zu sein und alle schlagen zu müssen, damit das gehässige Volk der Zuschauer, diese neidige Bande, endlich seine Befriedigung hätte, damit Ruhe wäre, endlich…
Aber dann hatte er natürlich doch wieder gewonnen. Und es war ihm dieser Sieg der ekelhafteste seiner Laufbahn, denn er hatte, um ihn zu vermeiden, ein ganzes Schachspiel lang sich selbst verleugnet und erniedrigt und vor dem erbärmlichsten Stümper der Welt die Waffen gestreckt.
Er war kein Mann großer moralischer Erkenntnisse, Jean, der Lokalmatador. Aber soviel war ihm klar, als er mit dem Schachbrett unterm Arm und dem Schächtelchen mit den Figuren in der Hand nach Hause schlurfte: daß er nämlich in Wahrheit heute eine Niederlage erlitten hatte, eine Niederlage, die deshalb so furchtbar und endgültig war, weil es für sie keine Revanche gab und sie durch keinen noch so glänzenden künftigen Sieg wieder würde wettzumachen sein. Und daher beschloß er – der im übrigen auch nie je ein Mann großer Entschlüsse gewesen war, – Schluß zu machen mit dem Schach, ein für allemal.
Künftig würde er Boules spielen wie all die andern Rentner auch, ein harmloses, geselliges Spiel von geringerem moralischem Anspruch.