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»Ein >E< hдtte es sein mьssen«, hatte Michel gesagt. »Ein >E< wie Eva. Warum ist es kein >E<?«

Eng umschlungen hatten sie auf einer Parkbank ge­sessen.

»Schreibst du mir, Eva?«

»Ja, Michel.«

Gekьsst hatten sie sich, ganz traurig hatten sie sich gekьsst.

»Eva, wirst du meine Freundin bleiben?«

Eva hatte die Trauer gemerkt, diesen kleinen, ste­chenden Schmerz, dieses kleine Loch in ihrem Herzen, das >Michel< heiЯen wьrde.

»Du wirst andere Mдdchen kennen lernen«, hatte sie gesagt. »Viele Mдdchen wirst du kennen lernen in Hamburg.«

»Du hast so schцne Haare«, hatte Michel gesagt und sein Gesicht in ihren Haaren vergraben. Sein Atem war warm gewesen.

Eva betrat das Bahnhofsrestaurant, setzte sich an ei­nen Tisch, von dem aus sie das Gleis fьnfundzwanzig

beobachten konnte. Ein Glas Cola hat 80 Kalorien. Sie bestellte ein Selterswasser. Michel rьlpste immer ganz laut, wenn er Ьberkinger trank.

Wann er wiederkommen wьrde? Das wusste er nicht. Er wusste auch nicht, wann er seine erste Fahrt antreten wьrde. »Das macht alles der Onkel.«

»Warten Sie auch auf jemanden?«, fragte eine alte Frau, die sich zu Eva an den Tisch setzte. Eva zцgerte, schьttelte dann den Kopf. »Nein, nicht eigentlich«, sagte sie.

Die Frau hielt ihre Handtasche auf dem SchoЯ. »Man kann nicht vorsichtig genug sein«, sagte sie, als sie Evas Blick bemerkte. »Man liest das immer wieder in der Zeitung.«

Die Bedienung kam. »Ein Kдnnchen Kaffee Hag und ein Stьck Kдsesahne«, bestellte die Frau und fuhr, zu Eva gewandt, fort: »Ich warte nдmlich auf meine Tochter. Sie kommt fьr ein paar Tage zu mir, bevor sie in Urlaub fдhrt.«

Eva nickte. Was sollte sie sonst auch tun? Sie дrgerte sich. Sie wдre lieber allein gewesen.

Immer noch achtunddreiЯig Minuten. Der Zug stand schon da.

»Ich lebe nдmlich allein hier«, sagte die alte Frau. Ihre Stimme klang so klдglich, dass Eva sie erstaunt ansah.

»Seit mein Mann tot ist.« Sie wischte sich mit der Serviette ьber die Augen.

Eva tat ihr Дrger von vorhin Leid.

»So ist das«, sagte die Frau und rьhrte mit dem Lцf­felchen im Kaffee. »Wenn man alt wird, ist man al­lein.«

»Wo wohnt Ihre Tochter denn?«, fragte Eva und winkte der Bedienung.

»In Frankfurt«, sagte die Frau.

»Das ist natьrlich ganz schцn weit weg.« Eva suchte ein Zweimarkstьck zum Bezahlen. »Auf Wiedersehn. Hoffentlich kommt Ihre Tochter bald.«

Sie kaufte sich eine Sьddeutsche Zeitung und suchte einen Platz, von dem aus sie den Bahnsteig beobachten konnte, ohne selbst gesehen zu werden.

Dreizehn Uhr fьnfundfьnfzig. Sie kamen. Eva trat noch einen Schritt zurьck hinter den Zeitungsstand und hielt die Zeitung halb vor das Gesicht.

Michel trug eine dunkle Hose und ein weiЯes Hemd. Er schleppte einen groЯen, brдunlichen Pappkoffer. Der Vater trug noch eine Reisetasche. Eva betrachtete alle neugierig. Der Vater war nicht groЯ, mager und dunkel, mit einem groЯen Schnauzbart und mittellan­gen Haaren. Er sieht nett aus, dachte Eva. Ein bisschen angeberisch mit dem Anzug und der roten Fliege, aber nett.

Die Mutter trug ein Kind auf dem Arm, ein blondes, vielleicht zwei Jahre alt. Zwei andere Kinder, zwei Bu­ben, rannten aufgeregt auf dem Bahnsteig hin und her. Ilona, schwer, langsam, in demselben Kleid, das sie auf

dem Fest getragen hatte, nahm der Mutter das kleine Kind ab.

Michel sah ganz anders aus, so mitten in seiner Fa­milie. Jьnger sah er aus, kindlicher.

Der Vater hob den Koffer und die Reisetasche in den Zug. Die Mutter umarmte Michel. Sie war groЯ und krдftig, dick konnte man sagen, und Michel ver­schwand fast in ihren Armen. Das kleine Kind fing an zu weinen und die Mutter nahm es wieder. Ilona strich ihrem Bruder mit der Hand ьber das Gesicht. Wieder war Eva erstaunt ьber die Innigkeit in den Bewegun­gen dieses Mдdchens. Ein Gefьhl von Eifersucht stieg in ihr hoch. Wie kommt die dazu, ihn so zu berьhren?, dachte sie. Nur ich sollte das dьrfen.

Aber gleichzeitig wusste sie, dass sie das nicht konnte. Nicht bei Michel.

Eva hatte die Zeitung schon lange sinken lassen. Mi­chel schaute nicht herьber. Er umarmte Ilona und streichelte ihren Kopf. Seine Mutter, das kleine Kind auf dem Arm, wischte sich mit der anderen Hand ьber die Augen. Michel war ganz eingeschlossen in Berьh­rungen, Blicken und Worten.

Eine richtige Familie, dachte Eva. Sie gehen sehr lieb miteinander um. Bei uns wьrde zum Beispiel nie so viel gekьsst.

Wann hatte sie eigentlich Berthold das letzte Mal ge­kьsst? Sie konnte sich nicht daran erinnern. Sie wusste noch nicht einmal, ob Berthold das mцgen wьrde.

Die beiden Buben kamen zurьck von der anderen Seite des Bahnsteigs. Sie hatten einen Gepдckwagen er­wischt. Einer schob, der andere saЯ darauf. Sie lachten und winkten und drдngten sich zwischen den Leuten hindurch. Einer sah ein bisschen aus wie Michel, ein ausgelassenes, frohes Gesicht.

Der Bahnsteig war voll geworden. Ьberall standen Leute herum, die sich verabschiedeten. Vierzehn Uhr zehn war es inzwischen. Noch sechs Minuten. Ach Michel. Eva war traurig. Ich hдtte dich lieben kцnnen, wenn ...! Wenn was ?

Sie drehte sich um und ging. Ein bisschen steif wa­ren ihre Beine und ihre Augen brannten, aber sie drehte sich nicht mehr um. Michel wьrde ihr schrei­ben, sicher, und sie wьrde ihm antworten. Es war noch nicht vorbei. Noch nicht.

Am Bahnhofsplatz war ein Cafe. Eva ging hinein, setzte sich an einen freien Tisch und bestellte eine Tasse Kaffee und ein Stьck Kuchen. Kдsesahne.

18

Was fьr ein Tag! So viele Tage gab es in Evas Leben, die langsam vergingen, trдge, zдh, mit Minuten, die sich mьhsam-mьde aneinander reihten, bis endlich wieder eine Stunde um war, so viele Tage, an denen nichts passierte, an denen die Welt stillzustehen schien oder besser: in einer klebrigen, durchsichtigen Masse zu ersticken drohte, Tage, an denen Eva sich langsam bewegte, nicht merkte, dass sie sich bewegte, Tage, an denen nichts, ьberhaupt nichts passierte auЯer dem ьb­lichen Trott, kein Glanzlicht, kein heller Tupfer auf dem grauen Einerlei, kein Blick, kein Lдcheln, keine flьchtigen Worte und keine Berьhrung.

Und dann kam ein Tag wie dieser.

Es war noch nicht einmal so, dass das Wetter beson­ders schцn gewesen wдre. Eigentlich war es eher trist, wolkenverhangen, aber als Eva morgens aus ihrem Fenster schaute, hinein in diesen grauen Morgen, spьrte sie schon das Kribbeln auf der Haut, die Som­mermorgenkьhle, frische, kalte Luft, und sie atmete tief durch.

Der Hдuserblock gegenьber, der, in dem die Grabers wohnten, die Grabers mit der >guten Tochter<, ver­schwand fast im Grau des Himmels. Himmel und

Haus hatten die gleiche Farbe, die Konsistenz war na­tьrlich anders, aber Eva musste zweimal hinschauen, um das zu sehen. Es war ein seltsames Grau, ein wei­ches, wattiges, einhьllendes.

Eva stand lange am Fenster und schaute hinaus.

Dann, beim Frьhstьck, zog der Vater sein Porte­monnaie und hielt Eva einen Hunderter hin. »Hier«, sagte er. »Kauf dir was Schцnes, das ist zusдtzlich zum Taschengeld, weil es doch dieses Jahr nichts wird mit dem Urlaub.«

Berthold schaute von seinem Teller hoch.

»Du kriegst auch etwas«, sagte der Vater, »morgen, wenn du zu Tante Irmgard fдhrst.«

Berthold nickte und bestrich sein Brot mit Kalbsle­berwurst.

»Natьrlich bekommst du keine hundert Mark. Du bist ja erst zehn. Bei Eva ist das schon etwas anderes.«

»Ja«, sagte Berthold.

Eva nahm den Hunderter und legte ihn unter ihren Teller. »Danke, Papa.«

»Was kaufst du dir?«, fragte die Mutter.

»Ich weiЯ noch nicht«, antwortete Eva. »Ich gehe heute in die Stadt. Vielleicht sehe ich was, das ich will.«

Sie rдumte ihr Zimmer auf, ordnete ihre Platten, als ihre Mutter hereinkam. »Post fьr dich, Eva.« Sie hielt ihr eine Postkarte hin und blieb neugierig stehen.

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